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Veröffentlicht am 29.07.2025

Treffsicher, klug und herrlich schräg

Kummer aller Art
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„Kummer aller Art“ ist keine zusammenhängende Erzählung, sondern eine Kolumnensammlung – und zwar alle literarischen Texte, die Mariana Leky für das Magazin Psychologie Heute geschrieben hat. Und es ist ...

„Kummer aller Art“ ist keine zusammenhängende Erzählung, sondern eine Kolumnensammlung – und zwar alle literarischen Texte, die Mariana Leky für das Magazin Psychologie Heute geschrieben hat. Und es ist fast ärgerlich, dass ich diese Sammlung erst jetzt entdeckt habe. Vielleicht aber auch genau richtig, denn als mir die Lust am Lesen langsam abhandenzukommen drohte, hat dieses Buch die Leseflaute direkt im Ansatz erstickt.

Was Mariana Leky hier schreibt, ist weder überhöht noch verkünstelt – es geht um echte Alltagsbeobachtungen, um Ängste, Entscheidungen, Eigenarten und das, was man im Leben gerne verdrängt oder einfach hinnimmt. Ob es um den Ärger in der Warteschleife geht, die Verlassenheit eines abmontierten Briefkastens oder den absurden Trost, den ein guter Nachbar bieten kann – Leky verpackt all das mit einer feinen Ironie, ohne jemals ins Lächerliche abzurutschen. Man ertappt sich regelmäßig beim Schmunzeln oder Nicken – nicht, weil die Texte „witzig“ im klassischen Sinn wären, sondern weil sie einen Nerv treffen.

Es geht nicht um große Dramen, sondern um das menschliche Dazwischen: Zwischenmenschliches, verpasste Chancen, gut gemeinte Worte, merkwürdige Gedanken, Liebeskummer, Zweifel, Unsicherheiten. Und das alles in kurzen, pointierten Texten, die sich hervorragend zwischendurch lesen lassen, ohne banal zu sein. Im Gegenteil – die Texte bleiben hängen.

Wer also denkt, hier ein bisschen psychologische Hausmannskost oder Lebenshilfe zu bekommen, wird überrascht. „Kummer aller Art“ ist literarisch präzise, klug und bringt vieles auf den Punkt, was schwer greifbar scheint.

Für mich war es die perfekte Lektüre zur richtigen Zeit. Und falls Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“ ähnlich geschrieben ist, dann steht der schon ganz oben auf meiner Leseliste.

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Veröffentlicht am 20.07.2025

Wenn Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind

Dunkle Momente
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Dunkle Momente ist kein Buch für Menschen, die Literatur nach Coverdesign oder Farbschnitt aussuchen. Wer dagegen auf Inhalt, Substanz und moralische Grauzonen achtet, wird hier auf ganzer Linie fündig. ...

Dunkle Momente ist kein Buch für Menschen, die Literatur nach Coverdesign oder Farbschnitt aussuchen. Wer dagegen auf Inhalt, Substanz und moralische Grauzonen achtet, wird hier auf ganzer Linie fündig. Elisa Hoven liefert mit ihrer erfundenen Strafverteidigerin Eva Herbergen kein klassisches Genrewerk ab – weder Krimi noch Thriller, schon gar nicht True Crime. Stattdessen legt sie ein literarisches Konstrukt vor, das die Komplexität unseres Rechtssystems aufzeigt – und dessen Abgründe.

Eva Herbergen verteidigt Menschen – keine Rollenbilder. Täter, Opfer, Unschuldige, Manipulierende – oft verschwimmt alles ineinander. Jeder Fall zwingt sie, Recht und Moral gegeneinander abzuwägen, und mit jedem Fall geraten ihre Überzeugungen weiter ins Wanken. Besonders eindrucksvoll wird das im siebten Fall, in dem eine Studentin sich selbst zur Richterin macht. Verständnis und Beklommenheit liegen hier nahe beieinander.

Andere Figuren nutzen das System gezielt für eigene Zwecke – mit überzeugendem Schauspiel und dem Ziel, ihre eigentlichen Motive zu verschleiern. In solchen Momenten wird deutlich, warum Eva darüber nachdenkt, ihre Anwaltsrobe endgültig abzulegen. Nicht nur aus Altersgründen – sondern weil die dauerhafte Konfrontation mit Schuld, Manipulation und Selbstbetrug ihren Preis fordert.

Dieses Spannungsfeld kennt man nicht nur aus der Fiktion. Meine Mom, die über 20 Jahre in Anwaltskanzleien tätig war, sagte einmal: „In Kanzleien liegt oft eine negative Energie. Anwälte verbringen ihr ganzes Berufsleben damit, sich im Namen anderer zu streiten.“ Genau das spiegelt sich auch in diesem Buch: der ständige Drahtseilakt zwischen Wahrheitssuche und taktischem Kalkül – und die Frage, wie lange man das aushalten kann, ohne selbst daran zu zerbrechen.

Dunkle Momente ist kein Wohlfühlbuch, kein Genreroman, kein schnell konsumierbarer Gerichtssaal-Thriller. Es ist ein vielschichtiger Blick auf die Abgründe des Rechtssystems, auf Schuld, Wahrheit und die Grenzen moralischer Urteile. Elisa Hoven zeigt mit ihren Fällen, wie brüchig die Trennlinien zwischen Täter und Opfer sein können – und wie hoch der Preis ist, den jemand zahlt, der versucht, auf der Seite der Wahrheit zu bleiben. Wer bereit ist, sich auf diese Grauzonen einzulassen, bekommt ein klug konstruiertes, forderndes Buch, das lange nachwirkt.

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Veröffentlicht am 13.07.2025

Die Vergangenheit hört nicht auf zu sprechen

Frag nicht nach Agnes
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Der Zweite Weltkrieg hat in zahllosen Familien tiefe Spuren hinterlassen – Traumata, über die nie gesprochen wurde, die aber weitergegeben wurden, von Generation zu Generation. In Valerie Jakobs Frag nicht ...

Der Zweite Weltkrieg hat in zahllosen Familien tiefe Spuren hinterlassen – Traumata, über die nie gesprochen wurde, die aber weitergegeben wurden, von Generation zu Generation. In Valerie Jakobs Frag nicht nach Agnes begegnen wir einer dieser Familien – und einer jungen Frau, die nicht länger schweigen will: Lilo.

Als Lilo einen Brief ihrer Mutter abschicken soll – adressiert an einen gewissen Frank Steiner – beginnt sie, unbequeme Fragen zu stellen. Ihre Mutter blockt sofort ab, bricht einen Streit vom Zaun und schreit: „Deine Großmutter hat mein Leben zerstört.“ Kein Name, keine Geschichte, nichts. Lilo ist fassungslos – und beginnt zu graben.

Parallel dazu erzählt das Buch Agnes’ Geschichte. Agnes, die im Bombenhagel ihre Mutter und Geschwister verliert, wird der Familie Steiner in einem kleinen Ort bei Baden-Baden zugewiesen. Dort verliebt sie sich in Walter, heiratet ihn während eines Fronturlaubs – und erkennt viele Jahre später, dass dieser Mann entweder nie der war, den sie geheiratet hat, oder sich nach der Kriegsgefangenschaft radikal verändert hat. Agnes flüchtet sich in ihre Arbeit bei der französischen Besatzungsverwaltung, findet dort Anerkennung und ein Gefühl von Freiheit – bis sie nach der Geburt ihrer Tochter wieder an den Herd zurückgedrängt wird. Die Frage ist: Bricht sie aus oder ergibt sie sich dem, was man damals „Schicksal“ nannte?

Frag nicht nach Agnes greift neben familiären Traumata auch gesellschaftliche und historische Aspekte auf: die Rolle der Frau im Nachkriegsdeutschland, das Schweigen über Gewalt und Schuld, sowie die „zweiten Karrieren“ ehemaliger Nationalsozialisten, die nach dem Krieg teils nahtlos neue Funktionen in Verwaltung, Politik oder Justiz übernahmen – in West wie Ost.

Besonders eindrucksvoll ist die Einbindung der Massaker von Tulle und Oradour-sur-Glane – Verbrechen der Waffen-SS in Frankreich, über die in Deutschland bis heute viel zu wenig bekannt ist. Valerie Jakob verknüpft diese historischen Ereignisse mit persönlichen Schicksalen und macht so greifbar, wie eng Geschichte und Gegenwart miteinander verwoben sind – auch innerhalb von Familien.

Fazit: Frag nicht nach Agnes ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit Schuld, Verdrängung, der Rolle der Frau und den langfristigen Folgen des Schweigens. Ein Buch, das zeigt, wie tief Geschichte ins Private reicht – und wie wichtig es ist, nachzufragen, bevor es zu spät ist.

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Veröffentlicht am 01.07.2025

Leben wir - oder funktionieren wir nur?

25 letzte Sommer
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Was wäre, wenn uns jemand sagt, dass wir noch 25 Sommer haben – nicht mehr, nicht weniger? Würde das etwas an unserem Leben ändern? Und wenn ja: was genau?

In 25 letzte Sommer treffen zwei Männer am Küchentisch ...

Was wäre, wenn uns jemand sagt, dass wir noch 25 Sommer haben – nicht mehr, nicht weniger? Würde das etwas an unserem Leben ändern? Und wenn ja: was genau?

In 25 letzte Sommer treffen zwei Männer am Küchentisch eines alten Bauernhauses aufeinander. Der eine hetzt durch ein Leben voller To-do-Listen, Termine und Dauerverfügbarkeit, der andere – Karl – sortiert Kartoffeln. Jeden Tag. Langsam. Und denkt nach. Zwei Welten prallen aufeinander – und daraus entsteht ein Gespräch über das, worüber wir alle früher oder später nachdenken: über das Leben. Und was wir eigentlich daraus machen.

Stephan Schäfer stellt in dieser kurzen, aber eindringlichen Novelle genau die Fragen, die wir uns sonst lieber nicht stellen, weil sie unbequem sind: Leben wir wirklich das Leben, das wir wollten? Oder haben wir uns in etwas verrannt, das sich irgendwann einfach so ergeben hat? Arbeiten wir nur, funktionieren wir nur – oder sind wir wirklich da? Und was passiert, wenn die Zeit plötzlich begrenzt ist – klarer, greifbarer, endlich?

Mich hat dieses Buch sehr berührt. Nicht, weil es traurig oder sentimental wäre – sondern weil es brutal ehrlich ist. Es zwingt einen, sich selbst zu hinterfragen, ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln. Es geht um verpasste Chancen, um Orientierung, um das, was im Lärm des Alltags verloren geht. Es ist keine „ruhige“ Geschichte – ganz im Gegenteil: Ihre Aussage ist laut, direkt und trifft genau dahin, wo es wehtut – aber auch dahin, wo Veränderung beginnt.

Fazit: 25 letzte Sommer ist kein Roman, den man einfach so wegliest und dann zur Tagesordnung übergeht. Es ist ein Buch, das hängen bleibt. Weil es nicht weniger ist als eine Einladung, das eigene Leben neu zu denken. Und vielleicht – endlich – wirklich zu leben.

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Veröffentlicht am 29.06.2025

Im Reich des Waldwächters

Wo die Nacht verweilt
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Tief im Wald ist nichts, wie es scheint – dieser Satz bringt die Atmosphäre des Romans auf den Punkt. In A. B. Poraneks Wo die Nacht verweilt begleiten wir Liska, die ihre magischen Kräfte jahrelang zu ...

Tief im Wald ist nichts, wie es scheint – dieser Satz bringt die Atmosphäre des Romans auf den Punkt. In A. B. Poraneks Wo die Nacht verweilt begleiten wir Liska, die ihre magischen Kräfte jahrelang zu verbergen versucht hat. Als das nicht länger möglich ist, begibt sie sich auf die Suche nach der sagenumwobenen Farnblüte – tief hinein in den Geisterwald, in das Reich des Leszy, des Wächterdämons des Waldes. Dort trifft sie eine Entscheidung, die ihr Leben für immer verändern wird.

Mich persönlich hat das Buch aus einem ganz bestimmten Grund angesprochen: Meine Faszination für alte, vorchristliche Glaubensformen – speziell der slawischen Kulturen – begleitet mich schon lange. Und im Gegensatz zum omnipräsenten Hype um den nordischen Kram à la Vikings, bietet der slawische Urglauben (Rodnoverie) noch viele unerzählte Geschichten, mystische Gestalten und spannende Grauzonen. Dass meine eigenen Wurzeln in Ost- und Südosteuropa liegen, macht die Sache natürlich noch greifbarer.

Der Leszy, der Herr des Waldes, ist mein persönlicher Favorit unter den slawischen Entitäten – und genau deshalb hat mich dieses Buch so angesprochen. Die Darstellung des Geisterwaldes, die Dynamik zwischen Liska und dem Leszy und das ganze Setting rund um Kupala, die Sommersonnenwende, haben bei mir genau den richtigen Nerv getroffen. Ich habe bewusst gewartet, das Buch zur richtigen Zeit zu lesen – und es war genau die richtige Entscheidung.

Die Geschichte ist fesselnd, emotional, atmosphärisch dicht und voller Wendungen – ohne in die übertriebene Romantasy-Schiene abzudriften. Ja, es gibt romantische Elemente, aber sie überladen die Handlung nicht. Es gibt keine übersexualisierten Szenen, kein Fremdschämen – nur gut geschriebene Figuren, stimmige Mythologie und eine glaubwürdige Entwicklung. Genau so soll es sein.

Einziger Kritikpunkt meinerseits: Der slawische Gott Weles (oder Veles) kommt nicht gut weg – was wohl dem immer wieder durchschimmernden christlichen Einfluss geschuldet ist. Schade, aber leider nicht untypisch. Auch eine Wendung gegen Ende hat mir emotional kurz den Boden unter den Füßen weggezogen – doch im Nachgang betrachtet passt es in den Zyklus von Natur, Leben und Tod.

Fazit: Wer genug hat von nordischen Überhypes, Muskel-Wikingern und Fantasy-Billigsex, sollte hier zugreifen. Wo die Nacht verweilt ist ein wunderschön erzählter Roman mit Tiefe, slawischem Setting und einer Geschichte, die berührt. Absolute Leseempfehlung – nicht nur zur Sommersonnenwende.

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