Wenn Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind
Dunkle Momente ist kein Buch für Menschen, die Literatur nach Coverdesign oder Farbschnitt aussuchen. Wer dagegen auf Inhalt, Substanz und moralische Grauzonen achtet, wird hier auf ganzer Linie fündig. ...
Dunkle Momente ist kein Buch für Menschen, die Literatur nach Coverdesign oder Farbschnitt aussuchen. Wer dagegen auf Inhalt, Substanz und moralische Grauzonen achtet, wird hier auf ganzer Linie fündig. Elisa Hoven liefert mit ihrer erfundenen Strafverteidigerin Eva Herbergen kein klassisches Genrewerk ab – weder Krimi noch Thriller, schon gar nicht True Crime. Stattdessen legt sie ein literarisches Konstrukt vor, das die Komplexität unseres Rechtssystems aufzeigt – und dessen Abgründe.
Eva Herbergen verteidigt Menschen – keine Rollenbilder. Täter, Opfer, Unschuldige, Manipulierende – oft verschwimmt alles ineinander. Jeder Fall zwingt sie, Recht und Moral gegeneinander abzuwägen, und mit jedem Fall geraten ihre Überzeugungen weiter ins Wanken. Besonders eindrucksvoll wird das im siebten Fall, in dem eine Studentin sich selbst zur Richterin macht. Verständnis und Beklommenheit liegen hier nahe beieinander.
Andere Figuren nutzen das System gezielt für eigene Zwecke – mit überzeugendem Schauspiel und dem Ziel, ihre eigentlichen Motive zu verschleiern. In solchen Momenten wird deutlich, warum Eva darüber nachdenkt, ihre Anwaltsrobe endgültig abzulegen. Nicht nur aus Altersgründen – sondern weil die dauerhafte Konfrontation mit Schuld, Manipulation und Selbstbetrug ihren Preis fordert.
Dieses Spannungsfeld kennt man nicht nur aus der Fiktion. Meine Mom, die über 20 Jahre in Anwaltskanzleien tätig war, sagte einmal: „In Kanzleien liegt oft eine negative Energie. Anwälte verbringen ihr ganzes Berufsleben damit, sich im Namen anderer zu streiten.“ Genau das spiegelt sich auch in diesem Buch: der ständige Drahtseilakt zwischen Wahrheitssuche und taktischem Kalkül – und die Frage, wie lange man das aushalten kann, ohne selbst daran zu zerbrechen.
Dunkle Momente ist kein Wohlfühlbuch, kein Genreroman, kein schnell konsumierbarer Gerichtssaal-Thriller. Es ist ein vielschichtiger Blick auf die Abgründe des Rechtssystems, auf Schuld, Wahrheit und die Grenzen moralischer Urteile. Elisa Hoven zeigt mit ihren Fällen, wie brüchig die Trennlinien zwischen Täter und Opfer sein können – und wie hoch der Preis ist, den jemand zahlt, der versucht, auf der Seite der Wahrheit zu bleiben. Wer bereit ist, sich auf diese Grauzonen einzulassen, bekommt ein klug konstruiertes, forderndes Buch, das lange nachwirkt.