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Veröffentlicht am 09.05.2025

Düster, sarkastisch und mit sehr eigenwilliger Interpretation griechischer Mythologie

Blood of Hercules
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Alexis muss sich als verlassenes Waisenkind in einer brutalen Welt durchschlagen: die ersten Jahre wächst sie bei lieblosen und gewalttätigen Pflegeeltern auf und muss hungern. Ihr einziger Trost sind ...

Alexis muss sich als verlassenes Waisenkind in einer brutalen Welt durchschlagen: die ersten Jahre wächst sie bei lieblosen und gewalttätigen Pflegeeltern auf und muss hungern. Ihr einziger Trost sind ihr Pflegebruder, der etwas später zur Familie kommt und den sie sehr liebt, und die zynische und gefährliche, aber gegenüber Alexis sehr liebevolle und beschützende, unsichtbare Schlange Nyx. Nach einem weiteren Gewaltvorfall ist sie auf einem Ohr taub und auf einem Auge blind. Die Jahre als Jugendliche verbringt Alexis hungernd und frierend gemeinsam mit ihrem Bruder in einem Pappkarton im Wald, versucht sich mit Essensmarken durchzuschlagen, besucht aber nebenbei die Highschool, auf der sie gemobbt wird, aber aufgrund ihrer hohen Intelligenz sehr gute Ergebnisse erzielt.

Wir haben als Hauptprotagonistin hier also eine grundsätzlich sympathische und sehr intelligente junge Frau mit einem eigenwilligen, zynischen Humor (der sehr gut zu dem ihrer Schlangengefährtin passt), die aber auch tief traumatisiert ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich die weiteren Geschehnisse besser verstehen.

Bei einer Prüfung am Ende der High School stellt sich überraschend heraus, dass Alexis über göttliches Blut verfügt und es wird vermutet, dass sie ein "verstoßenes Halbblut" der olympischen Spartaner sei, Ergebnis einer Liaison zwischen einem Gott oder einer Göttin und einem Menschen. Als solche wird sie auf die griechischen Inseln ins Reich der spartanischen Götter mitgenommen, wo sie sich erst einmal in einem blutigen Massaker für eine Ausbildung qualifizieren muss. Wider Erwarten überlebt sie das Massaker, bekommt als Mentoren Patro und Achilles zugeteilt, zwei als homosexuelles Paar zusammenlebende Spartaner, die zu den dunklen chtonischen Häusern gehören und von ihr erst einmal als Monster angesehen und gefürchtet werden. Die beiden leben sehr luxuriös in einer Villa am Meer auf der griechischen Insel Korfu, wo sie sich immer wieder mal von der grausamen Academy, die sie nun etwa ein halbes Jahr besuchen wird, erholen kann und Tipps für ihre weitere Ausbildung bekommt. Denn wenn sie diese erfolgreich absolviert, werden ihre Mentoren zu Generälen befördert.

Den Hauptteil des 600 Seiten langen Buches macht die Zeit auf der Academy aus. Dort geht es äußerst brutal und militärisch zu, Alexis ist die einzige Frau unter lauter Männern, es gibt weder Essen, noch die Möglichkeit, zu schlafen oder sich zu waschen, und beim kleinsten Verstoß irgendeines Gruppenmitgliedes werden alle in die Wildnis zum Laufen und Schwimmen geschickt, selbst im tiefsten Winter und wenn dort Titanen lauern, die einen umbringen möchten. So ist es kein Wunder, dass dabei auch immer wieder Schüler ums Leben kommen.

Dieses Buch einzuordnen, fällt mir schwer. Es ist kein klassisches Romantasy-Buch, denn die klassische Liebesgeschichte zwischen Alexis und irgendjemand anderem gibt es auf diese Art und Weise nicht, auch wenn immer wieder mal betont wird, wie unglaublich attraktiv insbesondere diverse männliche Götter und Halbgötter seien. Spice kommt aber sehr wohl immer wieder mal vor, auch wenn es nicht der Schwerpunkt des Buches ist, dieser sind definitiv die harten, militärisch-anmutenden Ausbildungsbedingungen.

Das Setting mit der griechischen Mythologie im Hintergrund ist interessant, verlangt aber speziell Menschen mit Vorwissen in diesem Bereich einiges an gedanklicher Flexibilität ab: zwar kommen die bekannten Götternamen vor, doch werden deren Beziehungen und Eigenschaften stark neu interpretiert und am meisten Spaß hat man am Lesen, wenn man sich von allem vorhandenen Vorwissen zu den griechischen Göttern löst und sich komplett neu auf die Welt einlässt, die hier präsentiert wird. Dass die griechischen Götter nicht Altgriechisch, sondern Latein sprechen, ist auch ein Detail, das einen nicht stören sollte, das ist eben so in dieser Welt.

Die Gesellschaft der Götter, die beschrieben wird, ist eine sehr archaische und von tiefstem Patriarchat geprägt: Frauen gibt es nur wenige, diese haben kaum etwas zu sagen und auf ihre "Ehre" muss geachtet werden (und ist diese beschmutzt, dann besteht eine gängige Lösung darin, sie möglichst schnell zu verheiraten) und die meisten vorkommenden Männer zeigen diverse misogyne Verhaltensweisen. Alexis nimmt das meiste davon passiv hin und wehrt sich wenig. Zwar wird sie von anderen Frauen als Kämpferin für die Freiheit der Frauen verehrt, sieht sich aber selbst null als solche, auch, weil sie ihr Schicksal und ihren Weg ja gar nicht selbst gewählt hat.

Es ist also eine sehr düstere Gesellschaft, die man aushalten können muss innerlich. Wege zur Befreiung der Frauen zeigen sich in diesem Buch noch kaum, vielleicht wird das in den Folgebänden stärker Thema, immerhin ist es der erste Band einer mehrbändigen Reihe.

Wer dieses Buch liest, muss also einiges an Dunkelheit ertragen können: Misogynie, der kaum etwas entgegen gesetzt wird und viel Brutalität und Gewalt. Alexis ist über weite Strecken sehr einsam und bekommt erst spät ansatzweise Verbündete. Charakterentwicklung gibt es bei ihr nur wenig, vermutlich ist sie dafür zu traumatisiert und alleine.

Entgegen gesetzt wird all diesem Dunklen in dem Buch ein sehr zynischer Humor, sowohl von Alexis selbst als auch von ihrer Schlange Nyx, die eine meiner Lieblingsprotagonistinnen war.

Unterhaltsam geschrieben ist das Buch auf alle Fälle und es zieht einen so richtig in diese mystische, dunkle Götterwelt hinein, sobald man es schafft, sich vom Vorwissen zu dem Thema zu lösen und die Welt so hinzunehmen, wie sie hier vorgestellt wird. Es ist somit in Summe durchaus ein empfehlenswertes Buch für Fans von ziemlich dunkler und eigenwillig interpretierter Fantasy mit Dark-Romance-Anteil, die eine ganz andere Geschichte suchen, um dem Alltag zu entfliehen.

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Veröffentlicht am 03.05.2025

Liebe im Schatten der Projektion

Die Liebe seines Lebens. Skizze eines Temperaments
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"Die Liebe seines Lebens - Skizze eines Temperaments" von Thomas, ursprünglich unter dem Titel "The Well-Beloved" im Jahr 1897 erschienen, und nun von Reclam neu herausgebracht, ist ein Buch, das ein zeitloses ...

"Die Liebe seines Lebens - Skizze eines Temperaments" von Thomas, ursprünglich unter dem Titel "The Well-Beloved" im Jahr 1897 erschienen, und nun von Reclam neu herausgebracht, ist ein Buch, das ein zeitloses Thema behandelt: die Liebe im Schatten der Projektion und die Frage, ob und wann wir die andere Person wirklich sehen und wann wir nur unsere eigenen Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen auf sie projizieren, wenn wir zu lieben meinen.

Gemäß dem Untertitel "Skizze eines Temperaments" erleben wir diesen Roman ausschließlich aus der Perspektive eines "jungen" Mannes, Jocelyn Pierston, der zwischen seiner Heimat auf einer halbfiktiven Halbinsel im Süden Englands und London pendelt. Das Buch ist in drei Teile geteilt: im ersten geht es um den jungen Mann von zwanzig Jahren, im zweiten um den "jungen" Mann von vierzig und schließlich um den "jungen" Mann von sechzig Jahren. Schon diese Titeleinteilung macht schmunzeln und zeigt, über was für einen besonderen Humor der Autor verfügt.

Unterhaltsam und humorvoll betrachtet verfolgen wir mit, wie der zunächst wirklich junge Mann um seine Jugendliebe Avice wirbt, aber diese schließlich aufgrund einer Nichtigkeit und einer Kurzschlussreaktion für eine andere Frau stehen lässt, die er aber schließlich auch nicht heiratet. Wobei heiraten, das möchte Jocelyn meist schnell und sofort, was wohl einerseits seinem impulsiven Temperament und andererseits dem konservativen Zeitgeist geschuldet ist, in dem eine lange unverbindliche Kennenlernphase zwischen Mann und Frau wohl auch in England nicht üblich war. Doch es wird meist nichts mit der Heirat, aus verschiedenen Gründen.

Beruflich etabliert sich Jocelyn, wird ein erfolgreicher Künstler und ist materiell gut abgesichert, doch in der Liebe immer noch nicht erfüllt. Mit 40 Jahren trifft er schließlich Avice wieder, die mittlerweile eine Tochter hat, Ann-Avice, halb so alt wie Jocelyn. In dieser meint Jocelyn Spuren seiner Jugendliebe wieder zu erkennen - und nennt sie beharrlich Avice, als ob sie ihre Mutter wäre - wenngleich er auch eingestehen muss, dass sie in manchem charakterlich ihrer Mutter nicht so gleicht, aber das meint er mit Bildung und Reisen beheben zu können. Es ist wohl eine Zeit, in der sich Männer Frauen noch sehr überlegen fühlten und meinten, diese erziehen zu können, insbesondere bei so einem Altersunterschied.

Doch es wird nichts mit der Heirat mit Ann-Avice, und Jocelyn zieht seiner Wege, die Jahre gehen ins Land, bis er mit 60 Jahren noch einmal in seine Heimatregion zurückkommt und wiederum Ann-Avice trifft, deren Babytochter (davon hatte er noch mitgekriegt) nun erwachsen ist und ebenfalls - damals auf Jocelyns Wunsch hin, der die junge Familie förderte, auch wenn es das Kind eines anderen war - Avice heißt. Auch um dieses junge Mädchen wird der nun 60 Jahre alte, aber innerlich sich noch jung fühlende Mann, werben, unterstützt von der Mutter Ann-Avice, die sich wünscht, ihre Tochter gut versorgt zu wissen.

Es sind interessante Fragen, die dieses Buch aufwirft. Zum Beispiel nach den Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Spiegel der Zeit... es macht einem noch einmal mehr bewusst, wie wichtig der Kampf für die weibliche Emanzipation und Unabhängigkeit war, wenn man sieht, wie wenig Optionen es für junge Frauen in der damaligen Zeit gab und wie abhängig sie davon waren, eine gute Partie zu machen.

Gleichzeitig zeigt sich Hardy aber auch als feinsinniger Charakterbeobachter: nicht nur Jocelyn selbst, sondern vor allem die drei Avice-Frauen sind sehr differenziert porträtiert und es ist klar wahrnehmbar, wie gut der Autor - wenn auch nicht unbedingt sein männlicher Hauptcharakter - Frauen in ihrer Vielfalt und Differenziertheit wahrnehmen und wertschätzen kann.

Auch die zeitliche Entwicklung in Richtung Emanzipation zeigt sich: so ist die Tochter deutlich freier in ihrer Lebensweise als die Mutter, und die Enkeltochter auch, noch einmal auf eine andere Art und Weise. So ist das Buch insgesamt auch ein wertvolles Zeitporträt.

Dann regt es zum Nachdenken über das Wesen der Liebe an: was ist Liebe und wann können wir unsere Gefühle als solche bezeichnen? Wo beginnt Liebe und wo endet Projektion? Wann erkennen wir einen anderen Menschen wirklich und schätzen ihn dafür, wer er im Kern ist, und woran können wir das festmachen? Was ist echte Liebe, in all ihren Facetten? Jocelyn projiziert viel auf die von ihm verehrten Frauen, aber er zeigt sich in anderer Weise, speziell materiell, auch sehr fördernd und großzügig, auch, wenn es nicht zu der von ihm gewünschten Heirat gekommen ist. Er ist ein manchmal etwas in sich verlorener und selbstbezogener, aber dann auch wieder durchaus auch großzügiger Charakter und künstlerischer Freigeist.

Und schließlich stellt das Buch auch noch die Frage, wer wir sind: unser Geist oder unser Körper und wie beides miteinander in Verbindung steht? Es spricht das zeitlose Thema an, dass viele Menschen sich innerlich oft noch jung und so wie früher fühlen, während ihr Körper altert, aber auch die Frage nach Entwicklung, Reife und danach, wer passende Partner auf Augenhöhe sein könnten.

Es ist somit insgesamt ein sehr wertvolles Buch, unterhaltsam und lustig, aber auch tiefsinnig und zum Nachdenken anregend, und eignet sich damit bestens für eine interessante Lektüre und auch für spannende Diskussionsrunden. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 01.05.2025

Poesie finden in einer rauen Umwelt

Ósmann
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„Dies ist eine wahre Geschichte. Jedoch, der Autor erlaubt sich erzählerische Freiheit. Es sei ihm erlaubt.“ (S. 9)

Mit diesem vorangestellten Zitat beginnt die Geschichte des isländischen Fährmannes, ...

„Dies ist eine wahre Geschichte. Jedoch, der Autor erlaubt sich erzählerische Freiheit. Es sei ihm erlaubt.“ (S. 9)

Mit diesem vorangestellten Zitat beginnt die Geschichte des isländischen Fährmannes, der Ósmann genannt wurde und um 1900 lebte. Die Erzählung beruht auf den Informationen der heute lebenden Urenkel dieses Mannes, mit denen der Autor Kontakt hatte sowie auf weiteren recherchierten Informationen, angereichert um die erzählerische Freiheit des Autors, eines nach Island ausgewanderten Schweizers.

Es entsteht ein eindringliches und lange nachhallendes Portrait eines ganz besonderen Mannes, der in der rauen Umgebung Islands gelebt und gearbeitet hat, von ihr geprägt und von Schicksalsschlägen erschüttert wurde, und doch im Kern immer ein feinsinniger, sensibler, poetischer Mensch geblieben ist.

Dieser Kontrast zwischen dem sehr anschaulich geschilderten harten Überlebenskampf in Island zu dieser Zeit und dem tiefsinnigen Charakter dieses Mannes ist für mich eines der ganz besonderen Merkmale, die dieses Buch auszeichnen. Viele Menschen lassen sich von einem harten Schicksal verhärten, da gibt es viele Beispiele dazu aus dem Leben und aus der Literatur. Hier treffen wir nun einen, der sich seinen weichen Kern sein Leben lang bewahrt hat.

Ósmann arbeitet als Fährmann, er zieht eine Seilfähre über den Ós, ein solcher ist eine Flussmündung, daher auch der Spitzname, denn sein eigentlicher Name ist ein anderer. Der Geschichte vorangestellt ist eine Übersichtskarte des Gebietes des Ós, in dem Ósmann lebt und arbeitet, diese war beim Lesen für mich sehr hilfreich, um immer wieder mal nachschlagen und mir die Gegend besser vorstellen zu können.

Hier begegnen wir nun Ósmann in verschiedenen Lebensaltern, vom kleinen „Nonni“ (der Spitzname der Eltern für ihn), der gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in einer kargen Hütte aufwächst, über den jungen Mann, der Beziehungen eingeht, mehrere Kinder zeugt, einige Söhne als Baby begraben muss und nur eine einzige Tochter aufwachsen sieht, bis zum Mann mittleren Alters, der so viel gesehen, erlebt und durchlebt hat.

Während seines ganzen Erwachsenenlebens wird er Menschen mit der Seilfähre über die Bezirkswasser bringen: eisige Gletscherflüsse, die von den Gletschern hin Richtung Meeresbucht strömen.

Immer wieder mal können Ungeduldige es nicht erwarten, bis die Fähre bereitsteht, und versuchen, die seicht und harmlos wirkenden, aber sehr tückischen, mit vielen Strudeln und einer starken Strömung versehenen, Bezirkswasser auf eigene Faust, etwa auf dem Rücken der Pferde, zu furten – oft mit tragischem Ende. Wie gut, dass es Ósmann gibt, der so viele sicher von einem Ufer ans andere bringt! Noch besser wäre eine Brücke, für den Bau einer solchen setzt Ósmann sich auch immer wieder ein, leider erfolglos, es werden keine Mittel dafür bereitgestellt. Auch bringt er mal Bedürftige kostenlos über den Ós.

Ósmanns sensible Psyche zeigt sich auch darin, wie verbunden sich dieser Mann der Mythologie und Poesie fühlt. Immer wieder meint er, Fabelwesen zu begegnen, wie etwa ganz am Anfang des Buches einer Robbenfrau – ein wichtiges Motiv nordischer Sagen – und er dichtet dazu, so wie auch sonst zu dem, was er im Alltag erlebt und fühlt:

„Wird angeschwemmt und liegt im Sand,
hat abgestreift das Robbengewand.
Zum Abschied heb‘ ich hoch die Hand.
Stets willkommen am Fabelstrand.“ (S. 27)

Wir befinden uns vor dem Hintergrund einer Zeit, in der Island noch zu Dänemark gehört und die meisten Menschen über wenige Freiheiten verfügen, sich zum Beispiel nicht frei auf der Insel ohne Genehmigung zwischen den Orten genehmigen dürfen. Jedes Buchkapitel wird mit einem eindrucksvollen Zitat eingeleitet, das noch einmal komprimiert einen Eindruck der momentanen Herausforderungen gibt und jeweils damit endet, wie viele Winter Ósmann schon überlebt hat:

„Schlimmster Winter, anhaltende Unwetterserie, Frosthärte und Schneestürme. Kalter Frühling. Begrünung erst während der Umzugstage Anfang Mai. Zwei Dutzend Leute besteigen das Auswanderer-Schiff Samoens. Und Ósmann hat 24 Winter überlebt.“ (Jahr 1886, S. 111)

Denn einen Winter zu überleben, das ist nicht selbstverständlich. Die langen Winter sind oft extrem hart, Kälte, Hunger und Krankheiten plagen die Menschen, viele sterben jung und insbesondere die Kindersterblichkeit ist extrem hoch. Da verwundert es nicht, dass viele, sobald sich ihnen die Möglichkeit bietet, nach Nordamerika auswandern.

Doch auch ein starker, aber tief in sich sehr sensibler Mann, hat nicht unendlich viel Kraft, die er all der Härte und all dem Leid entgegen setzen kann.

An dieser Stelle eine kleine Triggerwarnung: wer sensibel auf die Themen Depression und Suizid reagiert, wähle bewusst, ob und wie man sich diesem besonderen und wertvollen, aber auch dunklen Buch aussetzen möchte, denn insbesondere am Ende wird es sehr dunkel um Ósmanns Psyche, wie sich auch in einem seiner letzten Gedichte zeigt:

„Es lockt die Grabesstille.
Um Fried und Ruh bemüht.
Der letzte Funken Lebenswille,
in den Ós fällt und verglüht.“ (S. 215)

Es ist ein authentisches Ende für eine wahre Geschichte um einen sensiblen Mann aus dem hohen Norden, insbesondere vor dem Hintergrund bekannt hoher Suizidraten in den nordischen Ländern, die früher noch einmal deutlich höher waren. Und stimmt doch traurig und nachdenklich auch.

Insgesamt war Ósmann für mich ein sehr wertvolles, besonderes Buch. Es war hart, zu lesen und mitzufühlen, wie schwer viele Menschen dort und auch Ósmann, der mir sehr ans Herz gewachsen ist, vom Schicksal getroffen werden. Gleichzeitig hat das Buch in sich auch eine Tiefe, Stille und Poesie, die berührt. Ich habe mich in die isländischen Winterlandschaften versetzt gefühlt und insbesondere Ósmanns tiefe Verbindung zum Meer, zu den Eiswassern, zu all der Mystik dort, war für mich spürbar. Damit war sein Leben nicht nur ein hartes, sondern auch ein in vielen Bereichen auch sehr verbundenes und tief mit Sinn erfülltes, das aufzeigen kann, wie auch unter härtesten Umständen noch Raum für Poesie und Sensibilität bleiben kann. Ein wertvolles, authentisches und gut geschriebenes Buch, das ich absolut weiterempfehlen kann!

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Veröffentlicht am 28.04.2025

Über Entwurzelung, Zugehörigkeit und Identität

Beeren pflücken
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Mit "Beeren pflücken" ist der kanadischen Autorin Amanda Peters ein packendes Debüt gelungen, das völlig berechtigt schon einige Preise gewonnen hat. Es geht um Familie, Identität, altes Unrecht, Wut, ...

Mit "Beeren pflücken" ist der kanadischen Autorin Amanda Peters ein packendes Debüt gelungen, das völlig berechtigt schon einige Preise gewonnen hat. Es geht um Familie, Identität, altes Unrecht, Wut, aber auch die Möglichkeit für Versöhnung und Verzeihen. Und auch um die Frage des "alternativen Lebens". Wer wären wir, wenn wir in einer ganz anderen Familie aufgewachsen wären? Was hätte das mit uns, aus uns, gemacht?

In den 1960er Jahren arbeitet eine Mi'kmaq-Familie, nordamerikanische Ureinwohner, im Sommer auf Beerenplantagen. Die Eltern und die größeren Kinder pflücken Beeren, die kleineren Kinder laufen so mit und sind tagsüber weitgehend sich selbst überlassen. Es ist eine Zeit, in der man es sich noch nicht leisten konnte, sich die ganze Zeit aktiv um kleine Kinder zu kümmern, ganz besonders, wenn man einer benachteiligten Sozialgruppe angehört hat, so wie die unterdrückten und diskriminierten Mi'kmaq. Die Arbeit auf den Beerenfeldern ist eine harte, doch gibt es auch viel Freude und gemeinsames Zusammensein an den Abenden und in der Freizeit. Es ist eine fröhliche Familie, zu der die 4-jährige Ruthie gehört, sie ist die jüngste von sechs Geschwistern, abends kuschelt sie sich zum Schlafen an ihre Mama, und insbesondere der nur etwas ältere Bruder Joe steht ihr nahe. Er ist es auch, der sie zum letzten Mal sieht, bevor sie spurlos von den Beerenfeldern verschwindet. Alle verzweifelten Suchaktionen der Familie bleiben erfolglos, die Polizei ist nicht sehr gewillt, zu helfen, und es werden Jahrzehnte vergehen, bis die Familie Ruthie wiedersieht.

Das Buch ist abwechselnd aus zwei Perspektiven geschrieben: einerseits die von Ruthie, nun von ihren neuen Eltern Norma genannt, die materiell wohlhabend als abgeschirmtes Einzelkind bei ihren weißen Eltern aufwächst und schon früh beginnt, sich Fragen zu stellen... zu ihrer dunkleren Hautfarbe und auch sonst dem ganz anderen Aussehen im Vergleich zu ihrer irischstämmigen Familie, aber auch zu alten Träumen von einer anderen Mutter und Geschwistern, die von ihren Eltern als banale Kinderfantasien abgetan werden. Zusätzlich sind die Eltern, insbesondere die Mutter, die viele Fehlgeburten hatte, sehr ängstlich, und Norma wird überbehütet und von vielem abgeschirmt, auf eine Art, die sie als sehr erstickend erlebt.

Andererseits lesen wir über das Leben von Joe, Ruthies Bruder, der ihr Verschwinden nie verwunden hat, ein im Leben Herumirrender und Suchender bleibt, von einem Ort zum anderen flüchtet, engen Bindungen aus dem Weg geht und für nichts Verantwortung übernehmen will. Erst spät im Leben, als Joe Krebs im Endstadium hat und ihm nur noch kurz bleibt, findet er nicht nur wieder zu seiner Familie zurück, sondern es kommt auch zu einem Wiedersehen mit Ruthie (das ist kein Spoiler, da es schon ganz am Anfang des Buches zumindest angedeutet wird).

Stilistisch ist das Buch lebendig und interessant geschrieben, es fällt leicht, mit den Figuren mitzufühlen und sich mit ihnen zu identifizieren. Spannend sind auch die unterschiedlichen Perspektiven der zwei Geschwister. Immer wieder zeigt sich in Szenen die noch lange bestehende Diskriminierung der Mi'kmaq, was sehr nachdenklich macht. Die Autorin hat selbst zum Teil Mi'kmaq-Abstammung und kann hier sicher einiges aus der Erfahrung ihrer eigenen Familie mit diesem Thema beisteuern, das macht das Buch noch einmal auf einer tieferen Ebene lebendig und authentisch. Auch die intergenerationalen Traumatisierungen, die die Mi'kmaq und andere Native Americans seit langer Zeit mit sich herumschleppen, das Verleugnen der eigenen Kultur und Sprache und der problematische Umgang mit Alkohol und Gewalt sind Themen. Es ist also ein Buch, das nicht nur gut unterhält, sondern auch über einige vielen Lesenden sicher weniger bekannte Themen aufklärt, und das insgesamt sehr berührend ist - Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 23.04.2025

Ein Pionier auf dem Hochrad

Der Mann auf dem Hochrad
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"Der Mann auf dem Hochrad" von Uwe Timm, erstmals erschienen in den 1980er Jahren, wurde nun anlässlich des 85. Geburtstags des Autors, vom Reclam-Verlag in einer sehr schönen und hochwertigen Hardcover-Ausgabe ...

"Der Mann auf dem Hochrad" von Uwe Timm, erstmals erschienen in den 1980er Jahren, wurde nun anlässlich des 85. Geburtstags des Autors, vom Reclam-Verlag in einer sehr schönen und hochwertigen Hardcover-Ausgabe noch einmal neu herausgegeben.

In dem Buch lernen wir den Großonkel des Autors, Franz Schröter, und dessen Frau Anna, näher kennen. Die Handlung spielt hauptsächlich Ende des 19. Jahrhunderts, mit einzelnen Vorausblicken in spätere Jahre und die langfristige Entwicklung, aus denen wir etwa erfahren, dass Franz und Anna ein langes Leben und die goldene Hochzeit beschieden sein wird. Das ist tröstlich zu wissen, während wir den jungen Mann bei seinen mutigen Experimenten beobachten: beruflich ist Franz Schröter erst einmal als Tierpräparator tätig, und auch auf diesem Gebiet ist er ein Pionier, denn er traut sich, die Tiere lebensecht darzustellen, auch wenn das bei manchen Zeitgenossen erst einmal Unbehagen hervorruft und ihm somit nicht gleich den größtmöglichen wirtschaftlichen Erfolg sichert. Um diesen geht es ihm aber sowieso nur zweitrangig, in erster Linie hat er seine Freude an allem Innovativen und am Experimentieren.

Und so ist es kein Wunder, dass er - nachdem er es erstmalig in England kennen gelernt hat - das Hochrad nach Coburg bringt, erst einmal für sich selbst und erste Bekannte, und dann auch als Händler mit dem Versuch, mehrere Exemplare unters Volk zu bringen. Auch einige schmerzhafte Stürze und die Beschädigung eines Fingers durch diese sowie Hohn und Gespött der beobachtenden Menschenmengen halten Franz Schröter nicht davon ab, es immer weiter zu versuchen und bald kunstfertig mit dem Hochrad durch Coburg zu fahren und andere diese Fähigkeit zu lehren. Seiner Frau Anna will er zuerst davon abraten, sie bringt es sich aber selbst bei und bald machen die beiden gemeinsam Ausflüge mit dem Hochrad.

Das Buch ist insgesamt ein durchaus unterhaltsames und lehrreiches Zeitporträt (mit gelegentlichen Längen, insbesondere in Bezug auf die Beschreibung der adeligen Figuren, die ich so nicht gebraucht und bei denen ich mir zeitweise mehr Fokus auf das Hochrad gewünscht hätte). Die erfindungsreiche Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird spürbar, ebenso wie die abnehmende Bedeutung des Adels, das Erwachen von Arbeiterbewegungen und die Bekämpfung dieser, und die noch sehr eingeschränkte Rolle der Frauen in der Gesellschaft, der sich aber nicht alle so einfach hingeben möchten. So ist es etwa für eine Frau, die Hochrad-Fahren lernen möchte, nötig, ihren Kleidungsstil zu verändern, um mit den üblichen Röcken nicht in die Speichen zu kommen.

Die Lektüre lädt zum Nachdenken über unseren Umgang mit Fortschritt und Innovation ein. Über das Wechselspiel zwischen Innovationsgeist und wirtschaftlichem Erfolg, die bekanntlich oft nicht unbedingt miteinander einhergehen. Über wichtige erste Schritte in eine neue Richtung zu mehr Mobilität, die aber bald von weiteren Innovationen abgelöst werden, z.B. hier das sogenannte Niedrigrad, unser heutiges Fahrrad, das wesentlich sicherer, komfortabler und billiger ist, und sich deshalb schnell gegen das Hochrad durchgesetzt hat. Über den Mut, für das Neue einzustehen, auch wenn man erst einmal nicht weiß, wohin unbekannte Wege führen, man sich dabei Verletzungen zuzieht und dafür verlacht wird. Und auch darüber, wie schwierig es ist, in der Gegenwart die wichtigsten technischen Innovationen der jeweiligen Zeit zu erkennen... wohin etwas geführt hat, zeigt sich in aller Deutlichkeit oft erst im Rückspiegel.

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