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Veröffentlicht am 29.01.2024

Ein Standardwerk

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Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer ...

Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer Menschen im Rahmen der Kolonialherrschaft Großbritanniens in Westafrika und deren Folgen für alle Nachkommen auf nur 415 Seiten literarisch mitreißend zu erzählen.

Der Roman geht von zwei Halbschwestern aus, die nichts voneinander wissen und deren Lebensgeschichten sowie die ihrer Nachkommen ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine, Effia, wird mit dem britischen Kommandant eines Forts an der sogenannten "Goldküste", welches als Umschlagplatz des Sklavenhandels in Richtung der USA dient, verheiratet. Sie erahnt nur die Gräuel, die im Kellergeschoss dieser Festung mit der menschlichen Ware passieren, bekommt aber auch mit, wie ihr ehemaliges Fante-Dorf zu einem wichtigen Handelspartner der Briten in diesen Belangen wird. Zunächst bereits als Sklaven abgestempelte Asante und später zunehmend Kriegsgefangene aus den von den Briten geschürten Konflikten zwischen den beiden Völkern werden unter schrecklichsten Bedingungen in Schiffen über den Atlantik nach Nordamerika und die Karibik verbracht, um dort als Sklaven über Generationen hinweg gequält und ausgebeutet zu werden. Diese Geschichte wird von Gyasi über die zweite Schwester, Esi erzählt, welche auf einem Schiff genau diese scheußliche Reise durchmachen muss und deren Nachkommen in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen eingesetzt werden.

Nun fragt man sich schon zu Beginn, mit Blick auf den im Anhang des Buches befindlichen Familienstammbaums, ob es bei diesen vielen Erzählebenen möglich sein wird, den Geschehnissen, welche so unglaublich flott erzählt werden, auch folgen zu können. Und ich kann beruhigen: Ja, das ist problemlos möglich. Yaa Gyasi schreibt so gekonnt, entwirft ihren Roman so nachvollziehbar, dass jeder Generationensprung, jeder Protagonistenwechsel für die Leserinnen vollkommen stimmig geschieht. So wird der Roman mit jedem Kapitelwechsel folgendermaßen nach vorn bewegt: Wir beginnen mit einem Kapitel Effia, danach ein Kapitel Esi, und mit dem darauffolgenden Kapitel wechseln wir zu erst zu dem Sohn von Effia und dann zu der Tochter von Esi. Somit behält man a) leicht den Überblick, auf welcher Familienseite man sich gerade befindet und weiß b) dass man alle zwei Kapitel wieder eine Generation vorangeschritten ist. Dabei gewährt uns Gyasi einen Blitzlicht-Einblick in die Lebensumstände und Herausforderungen der jeweiligen Person und schafft durch gekonnte Rückblicke eine Verbindung zu der vorherigen Generation. Das ist wirkliches Können und funktioniert bis zum Schluss hervorragend.

In jede Lebensgeschichte tauchen die Lesenden ein und können aufgrund der erzählerischen Raffinesse von Gyasi sofort eintauchen und emotional angegriffen werden. Und natürlich liegt es im Thema des Romans, dass es hier emotional anstrengend wird. So fasst ein später Nachkomme, der seine Familiengeschichte soziologisch, wissenschaftlich bearbeiten möchte sehr gut zusammen, was uns - zumindest auf der Seite von Esis Familie - im Roman erwartet:

"Ursprünglich hatte er sich auf das System der Sträflingsarbeit konzentrieren wollen, das seinen Urgroßvater H Jahre seines Lebens geraubt hatte, das Projekt wurde jedoch umso umfangreicher, je weiter er sich darin vertiefte. Wie konnte er die Geschichte seines Urgroßvaters erzählen, ohne über seine Großmutter Willie und die Millionen Schwarzen zu sprechen, die vor den Jim-Crow-Gesetzen geflohen und nach Norden migriert waren? Und wenn er die Great Migration erwähnte, müsste er auch über die Städte sprechen, die die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Er müsste über Harlem sprechen. Und wie konnte er über Harlem sprechen, ohne die Heroinsucht seines Vaters, seine Gefängnisaufenthalte, sein Vorstrafenregister zu sprechen?"

Es scheint, als ob das, was diesem Protagonisten von einem Punkt zum nächsten hat denken lassen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, auch Gyasi bei ihrem Romanprojekt ereilt hat. Sie musste auch auf der Seite von Esi, deren Familie in Afrika auf dem Gebiet des heutigen Ghana verblieben ist, zwangsweise jeden Schritt bis hin zum modernen Ghana durchdeklinieren, um die Menschen von heute mit ihren transgenerationalen Erfahrungen gut darstellen zu können. Und so verstand ich persönlich durch Yaa Gyasis Buch nun erstmals, was in Afrika zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert ist. Nicht in der Tiefe, aber im Überblick. Für die Tiefe ist jetzt der Anreiz gesetzt, sich weiter in afrikanische Literatur zu vertiefen. Denn es muss die Geschichte von den Menschen und verschiedenen Völkern in Afrika erzählt werden, um ein vollständiges Bild abgeben zu können. Die Sicht der Kolonialmächte ist hier eindeutig verfälscht. So sagt ein Nachkomme Esis, welcher Lehrer geworden ist, zu seinen Schülern:

"Geschichte ist Geschichtenerzählen.[...] Wir können nicht wissen, welche Geschichte stimmt, weil wir nicht dabei waren.[...] Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben. Wenn ihr Geschichte studiert, müsst ihr euch deshalb immer fragen: Wessen Geschichte bekomme ich nicht zu hören? Wessen Stimme wurde unterdrückt, damit die andere Stimme zu hören ist? Sobald ihr das herausgefunden habt, müsst ihr auch diese Geschichte suchen. Dann bekommt ihr ein klareres, wenn auch noch immer unvollständiges Bild."

Yaa Gyasi hat genau das gemacht, sie hat auf die Stimmen gehört, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Nun können ihre Leser
innen diese Geschichten lesen und damit ein (etwas) klareres Bild bekommen. Mir persönlich erging es jedenfalls so und ich kann dieses Buch nur ausdrücklich für eine Lektüre empfehlen, damit hoffentlich immer mehr Menschen auch die Stimme der Unterdrückten hören und Zusammenhänge besser verstehen lernen. Eine lehrreiche, überwältigende und emotional aufrüttelnde Lektüre!

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Interessante Essays aus der Tenniswelt

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht
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Zugegeben mir fiel zwar die Tennisspielerin Andrea Petković durchaus im Literarischen Quartett auf, auch war mir die Veröffentlichung der vorliegenden Essay-Sammlung bekannt, nur wurde ich auf ihr Können ...

Zugegeben mir fiel zwar die Tennisspielerin Andrea Petković durchaus im Literarischen Quartett auf, auch war mir die Veröffentlichung der vorliegenden Essay-Sammlung bekannt, nur wurde ich auf ihr Können als Autorin erst durch einen Feuilleton-Beitrag in einer DIE ZEIT-Ausgabe im Januar 2022 aufmerksam. Dort kommentierte sie mit spitzer Feder den "Covid-Tennisskandal" um Novak Đoković bei den Australian Open. Und mit diesem Artikel war für mich entscheiden: Das Buch "Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" musst du lesen!

Beginnend mit Eindrücken aus ihrer Kindheit, ihrem späteren Leben, Erfolgen und Misserfolgen, dem Tennissport als solchen und zuletzt auch aus dem Privaten legt die Autorin 18 Erzählungen vor, die literarisch niveauvoll einen abwechslungsreichen Einblick in diese Themen bieten. Dabei wirft sie meines Erachtens gerade zu Beginn des Buches etwas zu häufig mit Lebensweisheiten und Kalendersprüchen um sich. Einmal merkt sie dies sogar selbst an: "Der Körper ist ein Wunderwerk an Potenzial, das nur darauf wartet, ausgeschöpft zu werden. (Achtung! Kalenderspruch-Alarm!)". Aber auch weitere Sprüche sind manchmal etwas over-the-top: "Alles, was ich über das Leben weiß, ist, dass es wie der Ozean ist. [...] Alles, was ich über Tennis weiß, ist, dass Tennisliebhaber auch Lebensliebhaber sind. [...] Das Schöne am Tennis: Alles geht, nichts muss. [...] Im Ozean des Lebens, im Viereck des Tennisplatz, ist alles erlaubt - solange ich verdammt noch mal durchhalte, egal, was kommt." Etwas merkwürdig auch folgender Vergleich: "An Training war nicht zu denken, weil ich zu müde war. An Schlaf war nicht zu denken, weil ich zu wach war. Der klassische Flop eines Planes, seit die USA geglaubt hatten, sie hätten was in Vietnam zu suchen. Oder alle europäischen Länder jemals in Russland." Ein Vergleich, der angesichts einer falschen Entscheidung fix in zwei Tagen zwischen zwei Spielen aus den USA noch einmal in die Heimat nach Deutschland zu fliegen, eher unpassend wirkt. Aber das waren tatsächlich schon die schlimmsten Beispiele. Petković gewinnt im Verlauf des Buches an literarischem Selbstbewusstsein und außerdem stark an Humor und Selbstironie. So musste ich mitunter schallend lachen, wenn sie von YouTube-Algorithmen spricht, welche sie von Tennis-Match-Sequenzen innerhalb von vier Stunden "bei einem Make-up-Tutorial für Giraffen" ankommen lassen. Oder wenn es um erzwungene Schönheitsideale im Damentennis geht:

"Wenn ich schon in meiner Arbeitszeit mit den Blicken der anderen konfrontiert werde, will ich wenigstens im Privaten meine Ruhe haben. Ich bevorzuge nun mal, ungesehen in Bondgirlmanier aus dem Wasser zu gleiten, die Haare nach hinten zu werfen, die Hüften zu wiegen - um dann auf eine Muschel zu treten, hinzufallen, Salzwasser zu schlucken und prustend wie eine Robbe an den Strand gespült zu werden. Mit beiden Beinen gen Himmel."

Die Selbstironie bringt nicht jedeer Spitzensportlerin zustande. Chapeau Frau Petković, chapeau!

Nun bin ich eine Person, die von Tennis wirklich absolut keine Ahnung hat. Weder weiß ich (immer noch nicht), wie im Tennis mithilfe der Mathematik eine Siegerin ermittelt wird, noch sind mir irgendwelche Top-Weltranglisten-Athlet*innen bekannt. Ich würde gerade noch so Steffi Graf oder Boris Becker erkennen, wenn sie im Tennisdress vor mir stünden. Das machte es an manchen, aber nicht vielen, Stellen des Buches mitunter schwer, den geschilderten Geschehnissen zu folgen. Da wäre es mir Tennis-Banausin durchaus entgegen gekommen, wenn Petković einen kleinen Nebensatz der Erklärung eingefügt hätte.

Für eine anregende Lektüre sind Vorkenntnisse des Sports jedoch nicht zwingend notwendig, sodass ich diese literarischen Ergüsse von Andrea Petković durchaus allen Interessierten empfehlen kann. Petković beweist, dass die, im Buch mehrfach gekonnt erwähnte, Faszination für anspruchsvolle Literatur auf ihr eigenes Schreiben abgefärbt hat. Natürlich ist sie (noch) kein David Foster Wallace, aber wer weiß, vielleicht kommt sie bei weiterem disziplinierten Training der Schreibkunst irgendwann einmal in seine Nähe. Dass sie diese Disziplin auf dem Platz beherrscht, hat sie scheinbar bereits bewiesen. Ich hab mir sagen lassen, dass es ein Qualitätsmerkmal sei, wenn jemand unter den Top 10 der Tennis-Weltrangliste spielt...

Zuletzt noch ein Wort zum Cover des Buches. Meines Erachtens hat der Verlag hier die bestmögliche Entscheidung getroffen. Statt eine Top-Spielerin als Zugpferd mit sexy Bildchen auf den Buchdeckel zu drucken, rückt die Person Andrea Petković durch das dezente Design in den Hintergrund. Wer Interesse am Buch hat, wird aufgrund des Inhalts danach greifen, nicht weil die Autorin berühmt ist.

So entscheide ich mich nach einem Leseeindruck, der 3,5 Sternen entspricht aufgrund des Gesamtpakets jedoch gern für die aufgerundeten 4 Sterne, empfehle das Buch gern weiter und freue mich schon auf weitere Veröffentlichungen der Autorin Andrea Petković. Die Tennisspielerin Andrea Petković würde ich wahrscheinlich weiterhin auf der Straße nicht erkennen, aber dann kann sie wenigstens galant über einen Stein stolpern, sich eben noch fangen, um dann vielleicht den Kaffee-to-go auf das eigene Shirt zu kleckern. Who knows...

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Veröffentlicht am 29.01.2024

"...eine konturlose Form, die wegbröselt wie grauer Sand."

Serge
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Viel erwartet habe ich mir von diesem Roman der jüdischen Autorin Yasmina Reza, welche schon die Vorlage zu dem grandiosen Kammerspiel "Der Gott des Gemetzels" geschrieben hat, über die Reise von drei ...

Viel erwartet habe ich mir von diesem Roman der jüdischen Autorin Yasmina Reza, welche schon die Vorlage zu dem grandiosen Kammerspiel "Der Gott des Gemetzels" geschrieben hat, über die Reise von drei jüdischen Geschwistern und der Tochter des titelgebenden Serge nach Auschwitz nach dem Tod der Mutter dieser Geschwister.

Tatsächlich lassen sich die stärksten Sequenzen des Romans auf den wenigen Seiten des tatsächlichen Besuchs der Gedenkstätten zu den ehemaligen KZs Auschwitz sowie Birkenau finden. Nur 70 Seiten des Romans umfasst diese Reise, welche nicht nur berechtigte Kritik an dem skandalösen, freizeitparkhaften Katastrophentourismus zu den Gedenkstätten übt, sondern ebenso (meines Erachtens zu hinterfragende) Kritik an der allgemeinen Sinnhaftigkeit solcher Gedenkstätten und der Erinnerung an die Vernichtung in solchen Lagern, nun da die letzten Überlebenden versterben.

"Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein."

Der Rest des Romans besteht aus nervtötendem und ziellosem Geplauder diverser Familienangehöriger der Pariser Familie. Die Figuren - erzählt aus der Sicht von Jean, dem mittleren Bruder, - bleiben flach und unsympathisch. Unsympathisch dürfen sie durchaus sein, aber sie sollten schon ein Anliegen vermitteln. So wird im Roman über einen fernen Bekannten der Familie gesagt: "André Ponchon ist dorthin zurückgekehrt, wo er hergekommen war, eine konturlose Form, die wegbröselt wie grauer Sand." Das beschreibt nicht nur alle Figuren des Romans, sondern auch die Erzählung an sich. So kann man nach der Lektüre nur Jean zustimmen, der auf eine Frage zur vergangenen Auschwitz-Reise sagt: "Ich antwortete, ich hätte mir nichts Bestimmtes von dieser Reise erwartet und sei noch unschlüssig, was sie gebracht habe." Auch von diesem Buch sollte man nichts Bestimmtes erwarten und wird unschlüssig, was die Lektüre gebracht hat, zurückgelassen. Für einen Familienroman ist es nicht tiefgründig genug, für eine amüsante Geschichte einfach nicht witzig genug (m.E.), das Thema Tod und Sterben wird immer wieder angerissen aber nicht zu Ende gedacht und die Auseinandersetzung mit der Gedenkkultur zum Holocaust zu schlicht ausgearbeitet. Die Erzählperspektive aus den Berichten Jeans heraus hat Probleme mit zu allwissenden Schilderungen sowie essayistischen Passagen, die die - in einigen Interviews kundgetane - Meinung der Autorin darlegen. Diese werden mir nicht stimmig genug aus der Figurenzeichnung Jeans ersichtlich.

An vielen Stellen hat der Roman also nicht meine Erwartungen erfüllen können und bleibt hinter seinen Möglichkeiten bzw. den Möglichkeiten, die der Themenkomplex zu bieten gehabt hätte, weit zurück. Der Stil der Autorin sagt mir, zumindest in der vorliegenden prosaischen Form, gar nicht zu. Nach einem sehr bizarren Einstieg in dem Roman überwiegt das groteske Geplänkel der Familienmitglieder untereinander und das Erzählen von mitunter stark unerheblichen Familien- und Bekanntenkreisanekdoten. Man springt beim Lesen ständig zwischen diesen Sequenzen hin und her und kommt dadurch den Figuren kaum bis gar nicht nahe, höchstens ihren meist wenig interessanten Befindlichkeiten. Die Familiendynamik hätte als solche besser ausgearbeitet werden können und bleibt mir bis zur Abschlussszene mit den drei Geschwistern über weite Strecken nicht authentisch.

Insgesamt: Die Bloßstellung der Touristenströme in die ehemaligen KZs ist gut gelungen und die Gedanken von Jean währenddessen finde ich durchaus nicht schlecht umgesetzt. Nach dem bekannten Motto: "There's no business like shoah business." Dem Rest des Romans kann ich hingegen nicht viel abgewinnen. Schade, obwohl ich sehr optimistisch in die Lektüre gegangen bin, gibt es meinerseits hierfür keine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

In die Arme der Absurdität

In die Arme der Flut
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Während der Lektüre von „In die Arme der Flut“ ist mir etwas passiert, was bisher in der Form noch nie vorgefallen ist: Ich hatte eine Vorahnung, die mir nach den ersten 110 Seiten sagte, ich solle lieber ...

Während der Lektüre von „In die Arme der Flut“ ist mir etwas passiert, was bisher in der Form noch nie vorgefallen ist: Ich hatte eine Vorahnung, die mir nach den ersten 110 Seiten sagte, ich solle lieber jetzt aufhören zu lesen, wenn es am schönsten ist und das Buch weglegen. Natürlich habe ich das Buch bis zum Ende gelesen. Aber der überwiegende Teil von dem, was nach diesen ersten Seiten geschrieben steht, hat mich enorm enttäuscht. Tatsächlich konnte meines Erachtens der Autor im späteren Verlauf des Romans nicht mehr annähernd zu seiner anfänglichen Stärke zurückfinden.

Den Beginn dieser grotesken Geschichte stellt die ausführliche, wertfreie und sogar poetische Betrachtung eines Menschen dar, der im Begriff ist, sich das Leben zu nehmen. Luke will von einer Brücke springen, verweilt dort jedoch eine ganze Stunde. Wir erleben in Rückblicken, dass dies nicht Lukes erster Versuch ist, in messerscharfen Sätzen erfahren wir etwas über seine Kindheit und in ausufernden Beschreibungen verbinden sich diese Schilderungen mit den Naturgewalten, die sich unter der Brücke und in der Luft zusammenbrauen. Selten war ich so gepackt von einem Romanbeginn. Selten so überzeugt davon ein Meisterwerk vor mir zu haben. Und noch nie hatte ich die Vorahnung nach 110 Seiten: Hör auf zu lesen, alles was jetzt noch kommt, könnte dieses einmalige Lektüreerlebnis zunichte machen.

Vorahnungen sollte man vielleicht doch ab und an folgen. Bei diesem Roman wäre das im Rückblick eindeutig die ratsamste Entscheidung gewesen. Denn nun schwenkt der Roman von einem menschlichen, mitreißenden Drama zu einer Medien- und danach zu einer Plotgroteske. Donovan versucht äußerst plakativ mittels der bekannten Holzhammermethode die Gefahren von Social Media in Kombination mit aufgewühlten Menschenmengen aufzuzeigen. Dabei ist er sich nicht zu schade einen unnötigen Trump-Verschnitt auftauchen zu lassen, der per Twitter die Massen aufwiegelt. Der gezogene Vergleich zum Erstürmen des Kapitols in Washington scheint dabei im Rahmen dieser Kleinstadtposse jedoch anmaßend. Zwischendrin gibt es noch einmal eine richtig große Portion Kitsch, die es einem hochkommen und an jeglicher schriftstellerischer Ernsthaftigkeit des Autors zweifeln lässt und fast zuletzt muss man auch noch einem Kind bei seinem schrecklichen Selbstmord beiwohnen. Das ist der Punkt, der über die Grenze des Erträglichen hinausragt und einfach nur fehl am Platze ist. Das Buch wirkt an der Stelle meilenweit entfernt vom poetischen Anfang und eher wie ein billiger Snuff-Streifen. Der Plot verkommt zu einem himmelschreienden Unsinn mit Zufällen, die verzweifeln lassen ob der Absurdität. Insgesamt wird mit zunehmender Seitenzahl Subtilität immer kleiner geschrieben und ist teilweise gar nicht mehr vorhanden. Kurz flimmert am Ende des Romans noch einmal das Potential der Geschichte sowie des Autors über dem Horizont auf, bevor es sich selbst im Meer versenkt.

Zur Übersetzung ist darüber hinaus erwähnenswert, dass diese zwar grundsätzlich ganz gut gelungen ist, aber auch starke Schnitzer aufweist, namentlich wenn mindestens viermal im Laufe der Erzählung ein Auto irgendwohin „braust“. Das ist ein Wort, welches ich in einer literarisch anspruchsvollen Übersetzung einfach nicht lesen möchte. Punkt.

Somit muss ich die schwere Entscheidung treffen, diesem Roman, der für mich bei 2,5 Sternen liegt, eine auf 2 Sterne abgerundete Bewertung zu geben. Ich kann ihn leider nicht guten Gewissens weiterempfehlen, was den Ausschlag zu meiner Bewertungsentscheidung gibt.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Tiefgründige Science-Fiction aus Nigeria

Rosewater
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Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde ...

Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde Welt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2066 ausdenkt, in der die Außerirdischen bereits lange auf der Erde angekommen sind. Und sie sind vielleicht laut Plothistorie 2012 erstmals in London angekommen, aber tatsächliche Auswirkungen zeigen sie - ganz ungewohnt - eben nicht in Europa oder Amerika, sondern auf dem afrikanischen Kontinent, speziell auf dem Gebiet Nigerias. Somit krempelt dieser Roman schon einmal vollkommen die Lesegewohnheiten von uns mitteleuropäischen Sci-Fi-Leser:innen gehörig um.

Im Zentrum des Geschehens steht Kaaro, ein Mitte 40-Jähriger sogenannter "Empfänger". Er hat seit seiner Kindheit "übernatürliche" Fähigkeiten (welche später noch sehr gut wissenschaftlich fundiert erklärt werden), durch welche er - einfach gesagt - die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Das ist jetzt stark verkürzt dargestellt, denn eigentlich ist er fähig, sich in die sogenannte Xenosphäre einzuklinken. Diese besteht aus zahlreichen miteinander vernetzten pilzartigen Organismen, die durch die Luft schweben und für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Prinzipiell handelt es sich um ein ausgeweitetes Informationsnetzwerk, auf welches nur wenige Menschen (ich lasse hier mal offen weshalb) zugreifen können. Kaaro lebt in Rosewater, einer Stadt, die sich nach dem Auftauchen einer außerirdischen Entität, einer riesigen Kuppel mit einem Durchmesser von 50 km, um diese Kuppel herum gebildet hat. Denn - wieder entgegen der altbekannten Seh- und Lesegewohnheiten - zeigt sich die Entität nicht angriffslustig, sondern gütig in Form von Heilungen kranker Menschen, die einmal pro Jahr in ihrer Nähe stattfinden. Um Kaaro entwickelt sich ein fast schon Agenten-Plot, da er aufgrund seiner Fähigkeiten von einer Regierungsbehörde angeworben wurde.

All dies erfahren wir durch verschiedene Erzählstränge, die jedoch stets beim Ich-Erzähler Kaaro bleiben. Allein die Zeitebene wechselt ständig. Die so betitelte "Jetzt"-Zeit spielt 2066, dann gibt es noch Rückblicke in die "Früher"-Zeit beginnend mit 2031 bis ca. 2059, welche viel Wissen um Kaaros Fähigkeiten und die Geschehnisse bis aktuell vermitteln, sowie "Zwischenspiele" oder "Missionen", die besondere Ereignisse/Missionen in den letzten 10 Jahren von Kaaros Leben bis jetzt darlegen, mit dem Fokus auf seine "Agenten"-Tätigkeit. Das ist tatsächlich der verwirrendste Part dieses Romans. Meines Erachtens hätte es die gesondert betitelten "Zwischenspiele" nicht gebraucht bzw. wirkten diese ab und an überfordernd, wenn man sie gedanklich versucht, in das Gesamtbild chronologisch korrekt einzuordnen. Aber das ist eine minimale Kritik im Rahmen meiner allgemeinen Begeisterung für diesen Roman.

Denn dem Buch merkt man im allerbesten Sinne die Berufung des Autors als Psychiater an. So entwirft er die Charaktere des Romans nicht nur glaubwürdig sondern stellt psychologische Zusammenhänge, die sich aus der Fähigkeit des "Gedankenlesens" ergeben, schlüssig und fachlich fundiert dar. Auch das mykologische Konstrukt um die außerirdische Entität herum ist plausibel erschaffen. Der technische Fortschritt ist authentisch an das Jahr 2066 angepasst und wird gut erklärt. Was mich aber besonders am Roman begeistert hat: Thompson spart nicht an Gesellschaftskritik. So wird immer wieder das Thema der als "illegal" eingeordneten Homosexualität in Nigeria, welche in unserer Zeit 2022 vorherrscht, aber im Roman auch noch in 2066 dort besteht. Die Verfolgung dieser Menschengruppe bis zum Tod durch den Mob. Weiterhin findet die Vergangenheit Nigerias, als ein durch die Kolonialisierung traumatisiertes Land, Eingang in die Erzählung. Eine despotische, korrupte Herrscherrieger darf natürlich auch in 2066 nicht fehlen. So legt Thompson mit seinem als Science-Fiction "getarnten" Roman den Finger in gleich mehrere gesellschaftliche und politische Wunden seines Heimatlandes.

Insgesamt bin ich also äußerst begeistert von diesem ungewohnten Lektüreerlebnis. Science-Fiction mit Tiefgang auf mehreren Ebenen. Wirklich empfehlenswert für alle, die sich grundsätzlich auf die oben beschriebenen Grundannahmen einlassen können.

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