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Veröffentlicht am 14.11.2025

Dieses Haus hat viel zu erzählen – und das sehr originell

Treppe aus Papier
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In Henrik Szántós Romandebüt „Treppe aus Papier“ erzählt ein ganzes Haus die Geschichte seiner Bewohner – der ehemaligen und gegenwärtigen. In unserer Gegenwart treffen die 15jährige Nele und die 90jährige ...

In Henrik Szántós Romandebüt „Treppe aus Papier“ erzählt ein ganzes Haus die Geschichte seiner Bewohner – der ehemaligen und gegenwärtigen. In unserer Gegenwart treffen die 15jährige Nele und die 90jährige Irma aufeinander. Die eine muss gerade für den Geschichtsunterricht etwas über das Dritte Reich und die Gründung der BRD lernen, die andere hat dies hautnah selbst miterlebt. Irma hat auch miterlebt, wie Juden verschleppt wurden und ihre Familie ist nicht unschuldig daran. Durch den Kontakt der beiden treffen Generationen aufeinander, etwas, was in der Wahrnehmung des Hauses sowieso ständig passiert.

Szántó lässt sich nämlich etwas ganz besonderes für seinen Roman einfallen: Es spricht nicht nur in der „Wir“-Form das Haus mit uns, sondern in seiner Wahrnehmung findet alles gleichzeitig statt. Es überlagern sich dutzende Menschen, Situationen, Geräusche, Gerüche in einem Moment des Erzählens, da Zeit, wie wir sie kennen, für so ein altes Gemäuer nicht existiert.

Habe ich zu Beginn noch gedacht, der Spoken-Word-Künstler Szántó übernehme sich hier ein bisschen, webt er doch auf den ersten Seiten all seine Sprachkunst auf einmal ein, entspannt sich die Sprache mit der Zeit und es ist problemlos möglich, den verschiedenen, gleichzeitig stattfindenden Erzählebenen zu folgen. „Gleichzeitig stattfindend“ heißt in diesem Falle, dass wir in einem Absatz der kleinen Jüdin Ruth als Schülerin in den 1930ern begegnen können, dem Baby Ruth auf dem Arm ihres Vaters Jahre zuvor, die Greisin Ruth, die mit ihrem Gehstock das Treppenhaus betritt und den Geruch von Zwiebelsuppe ins Haus hinauslässt. Das finde ich toll gemacht. Es liest sich ganz anders als Bücher, bei denen kapitelweise die Zeitebenen gewechselt werden. So kommt man den Figuren nicht nur sehr nahe, sondern auch dem Umstand, dass Vergangenes immer noch in der Nähe lauert. Und so natürlich auch nationalistische-rechtsextreme Gesinnungen, die da sind. Damals wie heute. Verdrängung, die gestriges nicht mehr wahrhaben will. Aber eins macht uns Szántó mit seinem Roman sehr deutlich bewusst: Vergangenheit existiert immer auch heute noch. Vergangenheit beeinflusst unsere Gegenwart und wird auch unsere Zukunft beeinflussen. Ob auf der persönlichen, familiären Ebene oder auf gesellschaftlicher Ebene. Ganz unwillkürlich fängt man an sich nicht nur noch einmal zu fragen, was die eigenen Vorfahren erlebt und zu verantworten haben, sondern auch was dieses oder jenes Haus nicht alles schon gesehen, gehört, gespürt hat.

Ich habe in diesem kleinen Büchlein immer noch Hintergründe zur NS-Zeit und die Zeit kurz danach neu gelernt. Das macht das Buch für mich, durch seine Erzählperspektive, zu etwas Besonderem. Sodass ich dem Autor auch vergebe, dass die Sprachkunst manchmal mit ihm durchgeht und mitunter über mehrere Seiten hinweg, jeder Satz etwas drängendes will.

Leseempfehlung von meiner Seite!

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.11.2025

Dieser Cocktail ist leider nicht gut gemixt

Moscow Mule
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„Moscow Mule“ bezeichnet einen Wodka-Cocktail, der interessanterweise nicht in Russland sondern in den USA erfunden wurde, um Wodka dort populär zu machen. Er ist also kein Exportschlager, sondern ganz ...

„Moscow Mule“ bezeichnet einen Wodka-Cocktail, der interessanterweise nicht in Russland sondern in den USA erfunden wurde, um Wodka dort populär zu machen. Er ist also kein Exportschlager, sondern ganz und gar amerikanisch. Für mich ist der gleichnamige Roman von Maya Rosa leider auch kein Exportschlager. Ich finde den Mix nicht ausgewogen und das Buch trifft leider so gar nicht meinen Geschmack.

Die Ich-Erzählerin Karina ist außerhalb von Moskau aufgewachsen und pendelt nun als Studentin des politischen Journalismus zwischen Moskau und einem Vorort, in dem sie bei ihrer Großmutter lebt, hin und her. Die meiste Zeit verbringt sie entweder mit ihrer besten Freundin Tonya, in einem Club oder im Bett mit einem (meist wildfremden) Mann. Wahlweise die letzten beiden Punkte auch zusammen mit Tonya. Beide wollen raus aus Russland, vor allem seit 2006 die kremlkritische Journalistin Anna Politkowskaja einfach so in Moskau ermordet wurde.

Jetzt denkt man: Das ist eine wirklich gute Voraussetzung für einen tiefgründigen Roman, der sich mit der Seele junger, politisch engagierter Leute in Russland beschäftigt. Aber weit gefehlt. Tiefgründig wird es leider nie so richtig im Roman. Die Figuren bleiben unglaublich blass. Inhaltliche Tiefe will scheinbar allein dadurch erreicht werden, dass mehrfach der Mord an Anna Politkowskaja mehrfach erwähnt wird (mehr aber auch nicht). Vielleicht will der Roman auch die Selbstermächtigung zweier Frauen zeigen, die sich Männer zunutze machen. Aber letztlich vögeln sie sich nur durch die Gegend mit wechselnden Partnern, um bestenfalls einen Vorteil für sich herausschlagen zu können.

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich bis Seite 100 intensiv gelesen und gehofft habe, irgendwo Tiefe zu finden. Ab da habe ich eher so oberflächlich weitergelesen, wie auch der Text geschrieben ist. Leider tauchte bis zum Ende des Romans keine Szene mehr auf, die mich irgendwie mitnehmen konnte. Der Schreibstil ist durchschnittlich bis einfach gehalten und der angekündigte Humor trifft scheinbar so gar nicht meinen Sinn für Humor.

Mich hat das Cover gleich auf den ersten Blick gebannt und der Klappentext klang interessant, ebenso wie die ersten Seiten. Aber es bleibt bei einer Aneinanderreihung von gefühlt zu belanglosen Szenen (im Vergleich dazu, was für ein Fass hätte aufgemacht werden können, da die Protagonistin politischen Journalismus studiert und kurz zuvor Anna Politkowskaja ermordet wurde). Es ist so schade, hatte ich doch zunächst ein großes Interesse an diesem Buch. Deshalb gibt es leider keine Leseempfehlung von mir für den unausgewogenen, eher langweiligen Cocktail „Moskow Mule“, den ich, hätte ich dafür nicht eine Rezension schreiben wollen, nicht einmal vollständig ausgetrunken (aka zu Ende gelesen) hätte.

2/5 Sterne

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Veröffentlicht am 22.10.2025

„Männer töten Frauen, weil es eben geht.“

Da, wo ich dich sehen kann
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Mit „Da, wo ich dich sehen kann“ veröffentlicht die Biologin und Schriftstellerin Jasmin Schreiber einen Appell an alle Menschen beim Thema häusliche Gewalt und Femiziden nicht wegzusehen. Diese Straftaten, ...

Mit „Da, wo ich dich sehen kann“ veröffentlicht die Biologin und Schriftstellerin Jasmin Schreiber einen Appell an alle Menschen beim Thema häusliche Gewalt und Femiziden nicht wegzusehen. Diese Straftaten, die keine Seltenheit haben, sondern mehrfach täglich passieren, nicht als alleinstehendes Ereignis, sondern als gesamtgesellschaftliches Phänomen wahrzunehmen und im besten Fall aktiv zu werden. Mehr Fragen zu stellen, sowohl an mögliche Betroffene als auch an den Gesetzgeber.

Kommt dieser Roman zwar sprachlich leichtfüßig daher und hat einen unkomplizierten Lesefluss, doch erzeugt er damit nur eine umso größere Wucht, mit der das Thema bei den Lesenden einschlägt. Wir lernen gleich zu Beginn die neunjährige Maja in einer Therapiesitzung kennen. In Therapie muss sie, weil sie ihre Mutter von ihrem Vater stranguliert als Erste tot aufgefunden hat. Seither plagen sie Angstzustände und Alpträume. Verständlich. Aber nicht nur Maja ist direkt betroffen vom Tod ihrer Mutter Emma. Auch das Leben Emmas Eltern und der besten Freundin Emmas Liv wird nie wieder dasselbe sein. Alle fragen sich, warum sie den jahrelangen physischen und psychischen Missbrauch an Emma nie mitbekommen haben, warum sie nie genauer nachgefragt haben, wenn sie bedrückt wirkte. Und so erfahren wir in wechselnden Perspektiven sowohl wie es seit dem Femizid an Emma für deren Hinterbliebenen weitergeht, als auch durch Rückblenden, wie erste Warnzeichen in der Beziehung zwischen Emma und ihrem Mann auftraten und stetig die Gewalt an ihr zunahm.

Jasmin Schreiber macht das wirklich ganz großartig. Sie entwirft eine Kollage aus verschiedenen Blickwinkeln und fügt außerdem noch Medienberichte, Kinderzeichnungen und (und das ist der Knaller) Alternativkapitel ein, in welchen sie aufzeigt, wie empathisches Nachfragen Betroffenen helfen könnte sich zu öffnen. Diese Alternativkapitel würde ich als Einblicke in alternative Paralleluniversen interpretieren. Liv ist nämlich Astrophysikerin und gleich zu Beginn erklärt sie Maja die Theorie zu unendlichen Paralleluniversen. In mindestens einem dieser Universen muss Emma noch am Leben sein, auch wenn sie es in unserem nicht mehr ist. So sind diese Kapitel auch im Druckdesign gezielt umgekehrt dargestellt. Das Papier ist schwarz, die Schrift weiß. Hier wird phantasiert, wie es anders hätte laufen können. Die fiktiven Medienberichte hingegen bieten die Faktengrundlage zum Thema Femizide und häusliche Gewalt. Durch diesen Mix aus Fakten und Fiktion des Romans im Sinne der betroffenen Figuren erstellt Schreiber ein umfassendes Bild zur Aufklärung zum Thema. Dies wirkt fast nie künstlich, sondern stets homogen eingefügt in die Geschichte. Nur an ein, zwei Stellen hatte ich das Gefühl, die Gedanken der Protagonisten sollen uns Leser:innen nun vorsätzlich aufklären. Das hat mich aber nicht weiter gestört, kommt es doch auf die Gesamtaussage an. Nämlich, dass man als Frau Glück haben muss, um einen Mann an der eigenen Seite zu wissen, der weder körperlich übergriffig wird noch psychisch in einer Form die Frau unterdrückt, anzweifelt, nicht ernst nimmt, klein macht. Es wird klar gemacht, dass die geschlagenen und ermordeten Frauen, nie selbst schuld sind an dem, was ihnen angetan wird. Und auch die Frage „Warum geht sie nicht einfach?“ ist eben nicht einfach zu beantworten, weil es immer ein Geflecht aus verschiedenen Faktoren gibt, das die Frauen in Geiselhaft nimmt, da statt von staatlicher Seite die Täter, die bereits auffällig geworden sind, eingeschränkt werden, sondern immer die Frauen es sind, die Frauenhäuser aufsuchen sollen, ihr Leben selbst schützen sollen. Schreiber zeigt die vielen Fehlstellen auf und nennt gleichzeitig dringend notwendige Veränderungen. Sie prangert gesellschaftliche Missstände an und gleichzeitig schafft sie es ihren Figuren psychologisch unglaublich nah zu sein. Jede Figur hat ihre eigenen Facetten und ihre eigene Sprache. Jede geht anders mit dem Undenkbaren um. Und des Weiteren spart die Autorin auch nicht das eigene Fach, die Kultur, aus, um aufzuzeigen, wo Dinge falsch laufen. Thriller, in denen ohne Unterlass Frauen die Opfer sind, ermordet und vergewaltigt werden, ohne dass es wichtig für die Geschichte wäre, einfach weil sie sich als Opfer anbieten. So schreibt sie sehr richtig:

„Wie oft ist Liv schon aufgefallen, dass es für die Handlung keinen Unterschied gemacht hat, dass die Misshandlung oft einfach nur als Schocker oder als verdichtendes Hintergrundrauschen dient, dass sie nur vorkommt, weil es dramaturgisch bequem ist, weil man gelernt hat, dass Frauenkörper eben zur Verfügung stehen - für die Entwicklung des männlichen Protagonisten, für seine Katharsis, zum Draufschlagen, zum Vergewaltigen, zum Töten und als Aufhänger für eine Geschichte, die gar nicht wirklich um die Frau geht.“

Und Schreiber macht es besser. Hier kommt nicht ein einziges Mal der Täter zu Wort. Hier kommen Männer zu Wort, ja, aber nicht der Täter. Der bekommt kein Rampenlicht. Nur die Betroffene und ihre Hinterbliebenen stehen im Fokus. Zu oft geht es um die Täter.

Ich könnte jetzt noch sehr lange weiterschreiben und benennen, was mir an diesem Roman so gut gefallen hat. Kurz gesagt: Er ist sehr gut geschrieben, er legt den Finger in die Wunde, er ist einfach wichtig! Eine klare Leseempfehlung für ALLE, denn Wegsehen sollte nicht mehr an der Tagesordnung sein.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 01.10.2025

Eine faszinierende, leider weggesperrte Adlige

Prinzessin Alice
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In ihrem Roman über die Großmutter des amtierenden König Charles III. trägt Irene Dische auf wenigen Seiten einige unfassbare Episoden aus dem Leben von Alice von Battenberg zusammen. Alice von Battenberg, ...

In ihrem Roman über die Großmutter des amtierenden König Charles III. trägt Irene Dische auf wenigen Seiten einige unfassbare Episoden aus dem Leben von Alice von Battenberg zusammen. Alice von Battenberg, die Enkelin von Königen Victoria, die mal ein koloniales Weltreich regierte und Tochter von Prinzessin Victoria (ja, es kann verwirrend sein), eine hochintelligente, belesene Frau (der ich aufgrund der kurzen Personenbeschreibung Autismus unterstellen würde), hatte selbst ein aufwühlendes Leben, welches dem ihrer Vorfahren und Nachkommen in nichts nachsteht. Taub geboren, lernte sie fünf Sprachen von den Lippen abzulesen und zu sprechen. Das brachte ihr bloß nicht mehr viel, als sie aufgrund ihres für ihre Familie unangenehmen Verhaltens in psychiatrische Kliniken gegen ihren Willen abgeschoben wurde. Alice war nämlich so gläubig und durchaus auch neurodivergent, dass sie der Meinung war, mit Jesus/Gott verheiratet zu sein. Im Gebet konnte sie sogar einen Orgasmus haben. Nie hat sie Eigen- oder Fremdgefährdung gezeigt, trotzdem war sie in den 1920er Jahren mit ihrem Verhalten auffällig genug, um sie bestialischen Behandlungsmethoden zu unterwerfen.

Was in diesem Roman historisch überliefert ist und was Fiktion, ist nie ganz klar. Aber die groben Informationen scheinen (laut Wikipedia) zu stimmen. So wurde ihr von u.a. Sigmund Freud die wilde Diagnose „paranoide Schizophrenie, mitverursacht durch sexuelle Frustration aufgrund einer nicht ausgelebten Leidenschaft“ diagnostiziert und verbrachte mehrere Jahre in Sanatorien eingesperrt. Ich persönlich glaube dem Roman so ziemlich alles, was hier von Alice persönlich uns berichtet wird. Für mich ist allein schon die Lebensgeschichte dieser Adligen, mit ihrem ironischen Blick auf die eigene Sippe (und deren Inzuchtsproblematik) und die Einblicke in die adligen Herrscherfamilien unglaublich aufschlussreich gewesen. Der persönliche Blick auf die Erlebnisse machen es noch interessanter, wobei ich an manchen Stellen mit der Erzählperspektive gehadert habe. Alice berichtet hier in der Vergangenheitsform rückblickend auf ihr Leben. Dabei nimmt sie nicht nur ab und an recht flapsige Formulierungen in den Mund, die so gar nicht zu einer so stolzen Adligen passen wollen, sondern scheint auch manchmal einen allwissenden Blick auf ihre Mitmenschen zu haben und deren Emotionen zu kennen. Die Leser:innen werden mit Durchbrechen der vierten Wand mitunter direkt angesprochen. In der zweiten Hälfte des Romans passiert dann noch eine Wandlung mit Alice, von der ich mir nicht sicher bin, ob diese so tatsächlich passiert ist bzw. passiert sein kann, ob sie durch den Geisteszustand der Frau in ihr selbst auftauchte, oder ob dieses Detail von Irene Dische vollkommen frei erfunden ist.

Ich muss zugeben, auch wenn ich mit dem Erzählstil durchaus gehadert habe, fand ich diese (fast) vergessene Lebensgeschichte von Alice von Battenberg wirklich unglaublich lesenswert und spannend. Mal wieder ein Werk, welches durch seine Schilderung von vergangenen psychiatrischen und psychotherapeutischen „Therapien“ an diesen zweifeln und nur den Kopf schütteln lassen. Auch die heutige Psychiatrie hat noch einiges vor sich und ist nicht lupenrein. Der Roman ruft ins Gedächtnis, dass immer die aktuelle Gegenwart von sich denkt, das Richtige für andere Menschen zu tun. Im Rückblick betrachtet aber durchaus falsch gelegen haben kann.

Insgesamt eine kurze, knackige Lektüre, die zum Nachdenken anregt und nachhallt.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 01.10.2025

Alternative, feminine Historie

Die Frau der Stunde
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Die Autorin und Historikerin Heike Specht hat sich in ihren vergangenen Werken immer wieder historischen Frauenfiguren gewidmet. Nun macht sie etwas sehr interessantes: Sie entwickelt eine alternative ...

Die Autorin und Historikerin Heike Specht hat sich in ihren vergangenen Werken immer wieder historischen Frauenfiguren gewidmet. Nun macht sie etwas sehr interessantes: Sie entwickelt eine alternative Historie, in der statt Helmut Schmidt und Hand-Dietrich Genscher Bundeskanzler und Außenminister/Vizekanzler sind, ein anderer fiktiver sozialdemokratischer Kanzler an der Macht und durch einen Eheskandal des auch männlichen Außenministers, der daraufhin zurücktreten muss, eine Frau ins Außenministerium einzieht. Etwas, was so nie geschehen ist. Diese Frau ist Catharina Cornelius und sie ist die Frau der Stunde, denn durch ihr Nachrücken wird die rot-gelbe-Regierungskoalition gerettet. Nur sehen nicht alle der alt eingesessenen Herren im Bundestag und den Ministerien sie als die Retterin, sondern vor allem wird sie fehl am Platz gesehen. Wir begleiten nun Catharina in diesem alternativen 1978 und 1979 und lernen dabei viel über Frauen in der Politik der damaligen Zeit, auch wenn sie nie, wie im Roman erfunden, schon Ende der Siebziger reale Machtpositionen inne hatten.

Der alternativ-historische Roman von Specht konnte mich wirklich positiv überraschen. Bin ich zwar nicht von Politik aber vom allgemeinen Politikbetrieb heutzutage recht gelangweilt, kommt in Spechts Roman niemals Langeweile auf. Wir werden direkt an der Seite von Catharina in ihr neues Leben geworfen und lernen dabei auch noch viele andere Frauenfiguren kennen, die symbolisch für Frauen dieser Zeit stehen. So Suzanne, die als Journalistin arbeitet und eine für die Zeit moderne Ehe führt, in der ihr Ehemann, der Lehrer ist, zuhause sich um Haushalt und die drei Kinder kümmert. Ebenso Azadeh, eine iranische Dokumentarfilmerin, die zunächst von außen die Umwälzungen in ihrem Heimatland beobachtet, die kurz vor und nach der islamische Revolution das Land und die Menschen überrollen, und bald mit ins Geschehen gezogen wird. Aber auch ältere Frauen der Politik, seien sie früher in der Weimarer Republik für das Volk im Parlament eingetreten oder als fädenziehende Ehefrau an der Seite von politisch aktiven Ehemännern tätig. Und auch junge Frauen einer neuen Generation, die erstmals im Politikbetrieb Fuß fassen wollen. Diese vielen Figuren, die Catharina nicht allein im Zentrum des Romans stehen lassen, machen die Geschichte äußerst facettenreich. Gleichzeitig scheut sich Specht natürlich nicht, all die Hürden und Gefahren für Frauen in der Politik darzustellen. Dies ist keine „was-wäre-wenn“-Geschichte durch die rosarote Brille, sondern eine realistische Einschätzung, wie diese Konstellation mit einer Vizekanzlerin Ende der Siebziger Jahre hätte aussehen können.

Heike Specht schreibt süffig und durch den Wechsel zwischen den verschiedenen Protagonistinnen in den Kapiteln bekommen wir einen weiten Blick auf das Personal. Für mich war es allerdings gerade zu Beginn schwer, mich in diese alternative Historie reinzudenken. Es wird mal in der Vergangenheitsform von Willi Brandt gesprochen und wir wissen dann, dass die historische Person gemeint ist. Aber bei den vielen Figuren rund um Catharina war mir manchmal nicht klar, ob diese wirklich existiert haben, nur zu unbekannt sind, um heutzutage noch Wiedererkennungswert zu haben bzw. ob es sich um einen Schlüsselroman handelt, der hinter den fiktiven Namen Anspielungen auf reale Personen in sich trägt. Dafür kenne ich mich leider nicht gut genug in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik aus. Mit der Zeit habe ich diese Fragezeichen in meinem Kopf allerdings ablegen und mich auf den Plot an sich konzentrieren können.

So, wie der Roman endet, vermute ich stark, dass es sich um den Beginn einer Buchreihe handelt. Normalerweise lese ich nicht gern Reihen, muss allerdings zugeben, dass mich Specht mit ihrer Idee und ihrem Schreibstil fesseln konnte. Sollte also Catharinas Geschichte weitergehen, bin ich dabei.

4/5 Sterne

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