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Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein Weckruf

Das Lied des Propheten
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Ausgehend von den politischen Veränderungen, die seit einiger Zeit in Europa zu beobachten sind, nimmt uns Paul Lynchs „Das Lied des Propheten“ (2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet) mit nach Irland. ...

Ausgehend von den politischen Veränderungen, die seit einiger Zeit in Europa zu beobachten sind, nimmt uns Paul Lynchs „Das Lied des Propheten“ (2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet) mit nach Irland. Das einstmals idyllische grüne Idyll wandelt sich nach der Machtübernahme der NAP, weicht einer Gesellschaft, in der bürgerliche Freiheiten nichts mehr wert sind.

„Die Nacht ist angebrochen, und sie hat das Klopfen nicht gehört…“.

Der Gewerkschaftler Larry ist nach eine Protestaktion spurlos verschwunden. Zurück bleiben seine Frau Eilish und ihre vier Kinder. Allmählich verändert sich das Klima im Land, zuerst nur in kleinen Schritten, aber dann nimmt es an Fahrt auf. Überwachung und Repressionen nehmen zu, die persönlichen Freiheiten werden tagtäglich weniger, bis sie ganz verschwunden sind. Der Ausbruch eines Bürgerkriegs ist dann lediglich die letzte Konsequenz. Um ihre Kinder zu schützen, scheint es für Eilish nur einen einzigen Ausweg zu geben. Sie müssen ihr bisheriges Leben aufgeben und ihre Heimat verlassen, bevor es zu spät ist.

„Das Lied des Propheten“ geht an die Nieren, bietet er doch einen hochgradig beängstigenden Ausblick auf den Alltag unter einem totalitären Regime. Ist das eine Dystopie? Beschreibt Lynch ein weit hergeholtes Szenario? Mitnichten, man muss sich ja nur einmal auf der Welt umschauen. Ich habe selten einen Roman gelesen, der dermaßen eindringlich sämtliche emotionalen Knöpfe drückt. Mit Sicherheit ist das der literarischen Form geschuldet, die der Autor gewählt hat. Wörtliche Rede wird nicht kenntlich gemacht, Gedanken, Gefühle und Beschreibungen reihen sich aneinander, ziehen sich ohne unterbrechende Satzzeichen über mehrere Seiten hin, man liest förmlich ohne Luft zu holen. Eine Verbeugung vorn Lynchs Landsmann James Joyce, der dieTechnik des „stream of consciousness“ in seinem Hauptwerk „Ulysses“perfektioniert hat.

Ein zeitgemäßes, ein politisches, ein wichtiges Buch. Ein Weckruf, der dazu auffordert, wachsam zu bleiben. Und eine nachdrückliche Leseempfehlung meinerseits!

Veröffentlicht am 25.07.2024

Faszinierender Genre-Mix aus Fantasy, Steampunk, Horror, Krimi, Ökologie und Kapitalismuskritik

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
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Wir sind an Bord der Transsibirischen Eisenbahn und begleiten im Jahr 1899 eine Zugbesatzung und ihre Passagiere auf dem Weg von Peking nach Moskau. Die Fahrt führt durch das Ödland, eine unwirtliche, ...

Wir sind an Bord der Transsibirischen Eisenbahn und begleiten im Jahr 1899 eine Zugbesatzung und ihre Passagiere auf dem Weg von Peking nach Moskau. Die Fahrt führt durch das Ödland, eine unwirtliche, menschenleere Steppe, in der man beim verbotenen Blick aus den Fenstern seltsame Vorkommnisse beobachten kann. Das Außen verändert sich, wirkt bedrohlich, fast scheint es, als wäre es lebendig, würde ein Eigenleben führen, hätte einen Plan.

Einen Plan hat auch Maria Petrowna, die unter falschem Namen reist und vorgibt, eine trauernde Witwe zu sein. In Wirklichkeit ist sie aber die Tochter des Glasmachers, in dessen Verantwortung es lag, die Fenster des Zuges herzustellen. Er sollte die Innen- von der Außenwelt abschotten, was offenbar aber nicht gelang, denn auf der seiner letzten Fahrt mit dem Zug brachen die Fenster. Wie sich später herausstellen wird, wurde damit der Weg frei für eine unkontrollierbare Materie gemacht, die sich ihren Weg ins Zuginnere bahnte. Mittlerweile ist er tot, angeblich an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Tochter bezweifelt es, will herausfinden, was wirklich auf dieser letzten Fahrt ihres Vaters geschehen ist. Aber sie ist nicht die Einzige, die auf dieser Reise nach Gewissheit sucht, denn mit zunehmender Fahrt mehren sich die ungewöhnlichen Ereignisse.

Die Autorin baut die Handlung behutsam auf, ganz gleich, ob es um die Beschreibung der an den Zugfenstern vorbeiziehenden Landschaft oder die Charakterisierung der Personen geht. Das gelingt ihr zumindest in der ersten Hälfte auch wirklich gut. Sie schafft eine Atmosphäre, die gleichermaßen bedrohlich, aber auch faszinierend wirkt und damit den Leser bei der Stange hält. In der zweiten Hälfte sind leider einige Längen zu überwinden, ehe die Spannung zum Ende hin ihren Höhepunkt erreicht.

Sarah Brooks Roman, 2019 ausgezeichnet mit dem Lucy Cavendish Prize und 2021 mit einem Northern Debut Award von New Writing North, lässt sich nicht eindeutig in eine Genre-Schublade stecken. Es überwiegen die Fantasy-Elemente, die schon durch die Wahl des Transportmittels von den Besonderheiten des Steampunk beeinflusst sind. Dazu wohldosiert eine Prise Horror, Spannung, Ökologie und Kapitalismuskritik. Ohne Zweifel eine höchst interessante Mischung und eine unerwartet etwas andere Lektüre, die mich gut unterhalten hat. Lesen!

Veröffentlicht am 13.07.2024

Pizza, Pasta, Pomodori

Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche
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Liebt ihr italienisches Essen und dessen Zutaten? Und interessiert ihr euch für kulturwissenschaftliche Zusammenhänge? Dann seid ihr bei Alberto Grandi richtig, der seinen Blick auf die Geschichte der ...

Liebt ihr italienisches Essen und dessen Zutaten? Und interessiert ihr euch für kulturwissenschaftliche Zusammenhänge? Dann seid ihr bei Alberto Grandi richtig, der seinen Blick auf die Geschichte der italienischen Küchenklassiker richtet und damit im Land einen Shitstorm ausgelöst hat. Die Behauptungen, die er in den Raum stellt, sind sowohl gewagt als auch entlarvend, denn er räumt mit dem Mythos auf, das alles, was wir heute an Gerichten und Zutaten mit dem Schlagwort „Italienische Küche“ beschreiben, sich im Lauf der Jahrhunderte aus Traditionen entwickelt hat.

Grandi ist Historiker mit Lehrstuhl an der Universität Parma und forscht seit Jahren an der Wirtschaftsgeschichte Italiens mit Schwerpunkt auf Herkunft der traditionellen Speisen und ihrer Zutaten. Dabei ist er auf zahlreiche Behauptungen gestoßen, die sich nicht beweisen lassen und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Schon der Untertitel zeigt, was der Autor von den „Traditionen der italienischen Küche“ hält. Alles erfunden, weil Ergebnis einer cleveren Marketing-Kampagne aus den Siebzigern/Achtzigern, die durch die Wiederbelebung von angeblichen Traditionen die Verunsicherung im Land kompensieren sollte, die dem Ende des italienischen Wirtschaftswunders geschuldet war.

Um diese Aussagen zu untermauern schaut sich Grandi die Produkte an, die mit „typisch italienisch“ assoziiert werden, und ohne die die Zubereitung der Gerichte seines Heimatlandes nicht möglich wäre. Mit Blick auf den historischen Kontext und die regionale Verortung kommt er zu dem Schluss, dass gerade bei dem, was wir als Klassiker wahrnehmen, z.B. Parmesan, Tomaten, Pasta, Olivenöl, Balsamico, die Herkunft (und manchmal leider auch Qualität) überwiegend fragwürdig ist.

Ein höchst unterhaltsamer Blick auf die Geschichte der italienischen Küche. Und wer sich nun weiter mit dem Thema beschäftigen möchte, findet im Anhang zwei Bibliografien mit Werken, denen Grandi seine Erkenntnisse verdankt: „Literatur, für diejenigen, die mir vertrauen“ und, wesentlich umfangreicher, mit „Literatur, für diejenigen, die mir misstrauen“.

Veröffentlicht am 10.07.2024

Langeweile auf dem Teller war gestern

Das Gemüsekisten-Kochbuch
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Als langjährige Bezieherin einer Bio-Gemüsekiste habe ich mich sehr über dieses Kochbuch gefreut. Ich koche täglich und schätze die Abwechslung auf dem Teller, weshalb ich immer auf der Suche nach neuen ...

Als langjährige Bezieherin einer Bio-Gemüsekiste habe ich mich sehr über dieses Kochbuch gefreut. Ich koche täglich und schätze die Abwechslung auf dem Teller, weshalb ich immer auf der Suche nach neuen Rezepten bin, die die saisonalen Angebote von Gemüse, Salat und Obst berücksichtigen. Zusätzlich gibt es im Umland zahlreiche Hofläden, die sich mit ihrem Angebot ergänzen und in denen man ergänzend direkt beim Erzeuger einkaufen kann. Selbst die allseits beliebten Tomaten kann ich direkt beim Erzeuger einkaufen, werden sie doch in unmittelbarer Nähe unseres Wohnorts in hoher Qualität, umweltverträglich und ganzjährig angebaut. Beste Voraussetzungen also, wenn man auch Wert auf die kurzen Wege der Zutaten legt.

Anbau vor Ort und somit kurze Wege, saisonales Kochen und Abwechslung auf dem Teller. Wem diese Punkte wichtig sind, der sollte unbedingt zu Stefanie Hiekmanns Gemüsekisten-Kochbuch greifen.

100 Rezepte mit über 300 Variationen verspricht der Untertitel, und die Autorin löst dieses Versprechen ein. Gegliedert nach den zwölf Monaten stellt sie auf Doppelseiten jeweils fünf Gemüse mit schnickschnackfreien Fotos und den entsprechenden Rezepten vor. Als besonderen Clou gibt es zusätzlich, und das ist insbesondere für die weniger erfahrenen Hobbyköchinnen und –köche interessant, Ersatztipps für die Hauptzutat, falls diese nicht verfügbar sein sollte oder man sie nicht mag. Ergänzend dazu versorgt uns die Autorin auf separaten Seiten mit vertiefenden Zusatzinformation zu den Gemüsesorten und zusätzlichen Rezepten zu Basics, sowie Tipps zur Konservierung, was insbesondere für Gartenbesitzer sehr interessant ist.

Die Rezepte sind über wiegend, wie von einem Gemüse-Kochbuch erwartet, vegetarisch, teilweise aber auch vegan bzw. mit geringem Aufwand dahingehend abzuwandeln, aber auch Fleisch- oder Fischliebhaber kommen auf ihre Kosten. Sämtliche Rezepte sind unkompliziert und mit überschaubarem Zeitaufwand zu realisieren, die Zutaten halten sich in Grenzen und sind in jedem Bioladen bzw. Supermarkt erhältlich.

Mit diesem Kochbuch, das während des gesamten Jahres im Einsatz sein kann, ist Abwechslung angesagt. Langeweile auf dem Teller war gestern, also nichts wie ran an den Herd!

Veröffentlicht am 08.07.2024

Eine Geschichte von Familie, Loyalität, Menschlichkeit und Moral

Feuerjagd
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„Feuerjagd“ schreibt die in „Der Sucher“ begonnene Geschichte von Cal und Trey fort: Ardnakelty in Irlands Westen. Cal Hooper, Ex-Cop aus Chicago, fühlt sich wohl in der ländlichen Umgebung und hat seinen ...

„Feuerjagd“ schreibt die in „Der Sucher“ begonnene Geschichte von Cal und Trey fort: Ardnakelty in Irlands Westen. Cal Hooper, Ex-Cop aus Chicago, fühlt sich wohl in der ländlichen Umgebung und hat seinen inneren Frieden gefunden. Die anfänglichen Vorurteile der Einheimischen scheinen weitgehend ausgeräumt, auch wenn er noch immer wahlweise als „Amerikaner“ oder der „Zugezogene“ bezeichnet wird. Und auch sein Privatleben läuft in ruhigen Bahnen. Die Beziehung mit Lena ist stabil und auch der Kontakt mit Trey, die so etwas wie eine Ersatztochter für ihn ist, hat sich intensiviert. Er hat sie unter seine Fittiche genommen, lehrt sie das Schreinerhandwerk und gibt ihr damit eine Perspektive, damit sie nach ihrem Schulabschluss auf eigenen Beinen stehen kann.

Dass die Idylle trügerisch ist, wird spätestens dann klar, als unverhofft deren Vater Johnny, der typisch smarte Glücksritter und Taugenichts, nach Jahren der Abwesenheit in Begleitung eines Engländers auftaucht und sich wieder in ihr Leben einmischt. Die beiden haben hochfliegende Pläne, hat doch die irische Großmutter des Engländers von einem Goldschatz erzählt, der angeblich im Flussbett darauf wartet, gehoben zu werden und alle reich zu machen. Doch dafür brauchen sie die Hilfe der Einheimischen. Die könnten das Gold gut gebrauchen, denn der außergewöhnlich heiße und trockene Sommer schadet der Landwirtschaft und der Viehzucht, gefährden die Existenz. Aber dennoch, die Reaktion der Dorfgemeinschaft ist nicht eindeutig. Von Zustimmung und Euphorie einerseits und Ablehnung und Misstrauen andererseit ist alles dabei. Nicht zu vergessen, die Wut, die sich Bahn bricht. Und die Rachepläne, die Trey schmiedet…

Wie wir es von anderen Romanen Tana Frenchs kennen, nimmt sich die Autorin Zeit, ihre Geschichte zu entwickeln. Ihre Personen sind komplex, deren Charakter sorgfältig entwickelt. Zeit und Raum, in denen sie sich bewegen, sind gespickt mit scheinbar nebensächlichen Informationen, die allerdings im Lauf der Handlung relevant werden. Landschaft und Dorfleben werden genauestens beschrieben und kreieren damit diese ganz besondere Atmosphäre, die wir zwar mit Irland verbinden, sich aber außerhalb der üblichen Klischees bewegt.

French richtet unseren Blick auf die großen Themen wie Menschlichkeit und Moral, auf persönliche Integrität und zwischenmenschlichen Beziehungen, auf Familie und Freundschaft, aber auch die sich daraus entwickelnde Loyalität, die durchaus widersprüchlicher Natur sein und dafür sorgen kann, dass sich moralische Grenzen verschieben. Sie ist eine Meisterin der Zwischentöne, Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse gibt es bei ihr nur selten. Und damit kommt sie dem Kern der menschlichen Natur ziemlich nah.

Lest dieses Buch. Unbedingt!