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Veröffentlicht am 04.05.2021

Tolle Geschichte

Das Flüstern der Bienen
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Mexiko im frühen 20. Jahrhundert. Rückwirkend wird die Geschichte eines ausgesetzten Jungen geschildert. Unter einer einsamen Brücke gefunden und umgeben von einem Schwarm Bienen, wird Simonopio von einer ...

Mexiko im frühen 20. Jahrhundert. Rückwirkend wird die Geschichte eines ausgesetzten Jungen geschildert. Unter einer einsamen Brücke gefunden und umgeben von einem Schwarm Bienen, wird Simonopio von einer wohlhabenden Familie als Ziehsohn adoptiert und schläft mit zunehmendem Alter in einer Hütte unter einem Dach von Bienen. Er kann zwar nicht sprechen, sich aber dafür mit seinem Bienenschwarm verständigen. Als Mitglied der geflügelten Familie folgt er ihnen, wenn sie ausschwärmen, lernt von ihnen das Wetter am Himmel abzulesen und sieht durch ihre Augen, was sich hinten den Hügeln befindet. Klingt absurd, ist ihm jedoch eine außerfewöhnliche Gabe, die seine Familie nicht nur einmal rettet. Denn das Buch ist nicht nur seine Geschichte, sondern auch die seiner Familie. Im Wandel der Zeit durchläuft diese Schicksalsschläge persönlicher wie politischer Natur, vor welcher der Bienenjunge sie nicht nur einmal im Voraus warnen kann. Dennoch prägen Agrarreformen, die Spanische Grippe und Mord das Familienleben. Viel Inhalt für ein Buch, das wirklich vollgepackt von Themen ist, aber allesamt toll verarbeitet.

In einer märchenhaften, metaphorischen Sprache werden Bilder aus Aromen und Tönen gezeichnet. Und das nicht nur kurzweilig, viele Szenen betören den Leser mit einer eigensinnigen Kulisse auf einem duftenden Klangteppich. Man kann das Buch mit allen Sinnen erleben. Emotional erlebt man Auf und Abs einer Familie; Viele Szenen werden aus verschiedenen Blickwinkeln vorgestellt, das Buch ruft auf zu Sensibilität und Mitgefühl, sich der Geschichte hinzugeben und zu lauschen.

Mit dem amüsant-komischen Flair eines Wes-Anderson-Films springt jemand dem Tod von der Schippe, indem er sich dem langweiligen Warten auf das Sterben, das nicht schnell genug einsetzt, verweigert. Klingt absurd, doch ich habe mich köstlich amüsiert, das ist Unterhaltung vom feinsten.

Es gibt keine allzu unerwarteten Wendungen im Buch, da uns von Anfang an alle handelnden Charaktere an ihren Gedanken, Emotionen und Plänen teilhaben lassen. Zwischendurch ist das Buch kurzweilig etwas langatmig, aber dennoch führt eine allmählich teilweise radikale Reduzierung der Kapitellänge (auf Teilweise ganze zwei Sätze!) zu einem enormen Spannungsbogen, in welcher die Geschichte voranprescht. Obwohl das Buch sanft ist wie das Flügelschlagen einer Biene, passiert so viel und es war wirklich eine große Freude, dem Werdegang der Familie um den Jungen zu folgen. Ganz große Erzählkunst.

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Veröffentlicht am 04.05.2021

Nicht mein Fall

Enriettas Vermächtnis
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Der Tod einer weltbekannten Autorin, die ihre Familie in Argentinien vor langer Zeit verlassen hat, lässt zwei Erben in Zürich aufeinandertreffen. Die Beteiligten: ein plastischer Chirurg aus Argentinien ...

Der Tod einer weltbekannten Autorin, die ihre Familie in Argentinien vor langer Zeit verlassen hat, lässt zwei Erben in Zürich aufeinandertreffen. Die Beteiligten: ein plastischer Chirurg aus Argentinien und eine Zürcher Schauspielerin - die Ziehtochter der Verstorbenen. Es geht um eine ansehnliche Summe Geld, doch die Erbschaft verkompliziert sich, als plötzlich Enriettas totgeschwiegener Sohn in Zürich aufkreuzt. Die Fronten sind verschärft. Was ist also damals in Argentinien vorgefallen, dass Enriettas leiblicher Sohn nicht im Testament aufgeführt wird?

Ach ja, das Problem mit dem Erbe. Der Klappentext verspricht ein "dunkles Geheimnis" und lässt ein spannendes Buch in Richtung Krimi vermuten, aber der flache Spannungsbogen hat mich irgendwie nicht gepackt. Dunkle Geheimnisse lassen etwas böseres erahnen, als es im Nachhinein wirklich ist. Die Charaktere sind mir allesamt recht fern geblieben, recht schwach porträtiert und dazu neigen sie leider alle eher in Richtung unsympathisches Klientel. Ganz langsam entwickelt sich die Geschichte um die Familiengeschichte Enriettas, und einige Längen machten das Buch zu einem eher spärlichen Lesegenuss. Obwohl die Geschichte enorm viel Konfliktpotenzial in sich birgt, bedarf es der Vermittlung durch die Ziehtochter. Heißt: der Erbstreit wird nur nebensächlich durch Janas Gespräche mit den anderen Erben ausgetragen, sie erzählt dem einen, was der andere ihr erzählt. Sie wird zum Sprachrohr der Männer, immer hin und her, lässt sich dabei oft lenken und verunsichern, sodass sie ständig zwischen beiden Männern schwankt und mal dem Einen, mal dem Anderen misstraut. Die sämtlichen Liebesgeschichten und Liebeleien dürfen daher natürlich nicht fehlen, welche die Geschichte im Endeffekt mehr ausmachen, als das tatsächliche Geheimnis um Enriettas Vermächtnis.
Hier wird sich leider viel in Nebensächlichkeiten verzettelt, die das Buch nur unnötig strapazieren. Der Fokus wird zu sehr auf Irrelevantes gelenkt. Einiges ist dabei in sich widersprüchlich, anderes kann ich nicht ganz nachzuvollziehen. Es gibt ein zu schnulziges, kitschiges, triviales Happy End, das ich dem Buch irgendwie nicht ganz abkaufe. Hat mir leider nicht so zugesagt und etwas enttäuscht zurück gelassen.

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Veröffentlicht am 03.05.2021

Literarisches Meisterwerk

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte
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"In diesem Sommer haben wir uns stärker selbst zerstört als in all den Jahren zuvor, aber wir waren nie lebendiger gewesen."

Oh wow, WAS für ein Buch! Ich kann hier gar nicht wiedergeben, wie ergreifend ...

"In diesem Sommer haben wir uns stärker selbst zerstört als in all den Jahren zuvor, aber wir waren nie lebendiger gewesen."

Oh wow, WAS für ein Buch! Ich kann hier gar nicht wiedergeben, wie ergreifend dieses Buch und wie tief die psychologische Handlung reicht.

Die Geschichte beginnt mit einer unglaublichen, kapitellangen Hass- und Schimpftirade des jungen Aleksy auf seine Mutter, begleitet von obskuren Todeswünschen - denn er hasst sie, und zwar so richtig. Nie verheilte, emotionale Wunden aus Aleksys Kindheit haben tiefe Narben hinterlassen, die sich durch Wut und Gewalt den Weg an die Oberfläche bahnen. Und dann, nach vielen Jahren der Abscheu, reisen Mutter und Sohn zusammen in ein kleines Dorf inmitten von Frankreich - im Gegenzug dafür wird Aleksy immerhin ein Auto versprochen. Doch hier ändern sich die Umstände, denn in einem kleinen, schäbigen Mietshaus mitten in Frankreich findet Aleksy heraus, dass seine Mutter krebskrank ist und ihr letzter gemeinsamer Sommer bevorsteht. Ein brutales Carpe Diem beginnt, und damit auch ein hochemotionaler Sommer der Vergebung und der unausgesprochenen Worte zwischen Mutter und Sohn.

Das Buch ist ein Schlag in die Magengrube, voller Wut und lang angestautem Schmerz.
Abgelehnt und depressiv nähert sich Aleksy seiner Mutter an. Der Schreibstil, die Details, die Ehrlichkeit, jedes Wort ist sorgfältig ausgewählt. Es ist so direkt und eindringlich erzählt, dass das Buch kaum Platz zur Interpretation bietet.

Einige Kapitel sind nur eine Zeile lang, aber unbeschreiblich ausdrucksstark. Und durch diese ziehen sich ständige Reflexionen Aleksys auf dessen Mutters Augen durch das Buch, zum Beispiel: "Mutters Augen waren Narben im Gesicht des Sommers". Eindringlichst werden dadurch die Gefühle des Protagonisten verpackt, die aus einem ständigen emotionalen Kampf der Abscheu und Liebe resultieren - denn die grünen Augen der Mutter sind das Schönste an ihr. Die Augen sind der Spiegel der Seele, hierauf beruht das Buch. Und so ändern sich auch zunehmens Aleksys Empfindungen gegenüber seiner Mutter durch den wandelnden Ausdruck ihrer Augen. Und anhand dieser, sich durch Krankheit und gemeinsame auf-und-ab-Erlebnisse ständig ändernden Gefühlswelt der Mutter, verschieben und manifestieren sich ebenfalls die Gefühle von Aleksy gegenüber seiner Mutter.

Schmerzhaft und aufrichtig, ein Buch über Sehnsucht, Vergebung und Reue, über Verantwortung und dem Versuch, im letzten verbleibendem Sommer noch einmal das Glück beim Schopf zu packen. Eins der schönsten, emotionalsten und intensivsten Bücher, die ich je gelesen habe. Aus meiner Sicht ein Meisterwerk der Literatur und ein heißer Anwärter auf mein Jahreshighlight.

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Veröffentlicht am 30.04.2021

Enttäuschend

Dein ist das Reich
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Kurz gesagt, ich mag das Buch nicht. Bei mir die Sprache verhagelt, beziehungsweise der Umgang mit dieser. Denn Sprache ist Macht, und das wissen wir bereits alle. Fans der "so würde früher halt gesprochen"-These ...

Kurz gesagt, ich mag das Buch nicht. Bei mir die Sprache verhagelt, beziehungsweise der Umgang mit dieser. Denn Sprache ist Macht, und das wissen wir bereits alle. Fans der "so würde früher halt gesprochen"-These dürfen jetzt aufschreien. Aber mal ernsthaft, wir sind mittlerweile im Jahre 2021 angekommen und da gehört sich sowas einfach nicht.

Ich will der Autorin auch gar nichts Böses unterstellen, aber es war einfach schrecklich geschrieben. Triggerwarnung unter anderem in Sachen Rassismus, Antifeminismus, Verherrlichung des Kolonialismus wären hier durchaus angebracht. Und ja, die sonstige literarische Qualität hat mich auch nicht angesprochen, deswegen habe ichs nach der Hälfte abgebrochen. Schade, schade, es ist ein interessantes Thema, das leider so selten behandelt wird. Aber leider so unreflektiert bearbeitet, es hat bei mir Bauchschmerzen ausgelöst. So ein Thema wie kolonialistische Herrschaft darf nicht unkommentiert stehen gelassen werden und muss feinfühliger bearbeitet werden.
Wenn es stimmt, dass die Autorin hier im Buch ihre kolonialistische Familiengeschichte verarbeitet, hätte ich mir zumindest im Vor- oder Nachwort einen kritischen Standpunkt der Autorin gewünscht. Einfach because.
Über den Kolonialismus literarisch zu schrieben ist erst einmal eine gute Sache, aber nicht so wie im hiesigen Buch dargestellt. Rassismus heutzutage wird weit diskutiert, und das ist gut und muss noch viel weiter so geschehen. Das Buch ist aber ein Schritt zurück in die falsche Richtung. Auch Täter-Opfer-Umkehr ist so ein Ding: der arme Missionar auf Papua Neuguinea, der seine (Zwangs-)Verlobte in Bayern zurücklassen musste und fortan unter Sehnsucht leidet. Wer ein Buch über Missionare mit Helfersyndrom lesen möchte, go for it. Aber man kann auch anders über den Kolonialismus schreiben, ohne ständig Machtherarchien zu betonen, sich rassistischer, veralteter Klischees zu bedienen, ständig das N-Wort und die Exotik der Indigenen zu betonen - die by the way zu faul zum arbeiten und zu dumm zum selbstständigen Denken sind.
Gerade ein solches Thema fordert Sensibilität, Kontext und Reflexion und keine lapidare und herablassende Herangehensweise aus (post-)kolonialistischer Sicht - der Ton macht die Musik.

Ich bin mir sicher, dass in dem Buch eine Menge Arbeit steckt, doch meine Erwartungen hat es nicht erfüllt.

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Veröffentlicht am 29.04.2021

Eine Hymne an den Sommer!

Der große Sommer
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"Ich hob mich in die Pedalen und riss im Fahren einen Zweig mit Lindenblüten ab. Vielleicht musste man sich das Schöne einfach nehmen."

Viel muss man zum Inhalt gar nicht sagen. Es geht um Frieder, der ...

"Ich hob mich in die Pedalen und riss im Fahren einen Zweig mit Lindenblüten ab. Vielleicht musste man sich das Schöne einfach nehmen."

Viel muss man zum Inhalt gar nicht sagen. Es geht um Frieder, der nicht mit seiner Familie in die Sommerferien fahren darf. Er hat zwei Klausuren verhauen, und muss bei seinen Großeltern für die Nachprüfungen büffeln. Die Zeichen für einen unvergesslichen Sommer stehen erst einmal schlecht, doch mit Alma und Johann wird der Sommer dann doch noch ganz Groß. Und mit Beate, die Frieder im Freibad kennenlernt - und in die er sich sofort unsterblich verliebt.

Arenz hat eine nostalgisch-sentimentale Art des Erzählens und kann erstklassig Gefühle und Stimmungen einfangen. Das Thema selbst ist zwar keine prickelnd neue Idee, aber die jugendlich-gewitzten Konversationen sowie die gleichzeitig detailverliebte Sprache im Roman machen die Handlung um die jungen Protagonisten nachvollziehbar und erlebbar. Wir erleben viel mit den vier Freunden: einen Sommer der ungezügelten Jugend, des jugendlichen Leichtsinns, der ersten Male und gelebten Freiheit. Aber auch Verlust. Es ist ein typischer Adoleszenzroman über tiefgehende Freundschaften, die erste Liebe und das Sammeln von Erfahrungen und Erinnerungen. Doch er eignet sich als Lektüre sowohl für junge Leser als auch für ältere Generationen, die sich noch einmal die Sommer ihrer jungen, unbeschwerten Jahre in Erinnerung rufen möchten.

Eine Hymne an die Jugend und an die unvergesslichen Sommer, die wir in uns tragen. Mich hat das Buch sehr gerührt, daher gibt's eine eindeutige Leseempfehlung meinerseits!

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