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Veröffentlicht am 08.06.2022

Eine Collage

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
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Über drei Jahrzehnte begleiten wir eine namenlose Erzählerin auf ihrer Kollision mit der Welt. Sie ist Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, wächst als Kind der 80er-Jahre in einer ...

Über drei Jahrzehnte begleiten wir eine namenlose Erzählerin auf ihrer Kollision mit der Welt. Sie ist Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, wächst als Kind der 80er-Jahre in einer westdeutschen Provinz zwischen beiden Herkünften auf. Als der Vater bei einem Sägeunfall stirbt, hinterlässt sein Tod ein starkes Ungleichgewicht in der zurückbleibenden Mutter-Kind-Konstellation, welches sich vor allem in einer Bulimie der Protagonistin manifestiert. Der eigene Körper wird zum Gegner, und auch in der Schule findet sie keinen Anschluss, muss sich mit Rassismus und Ausgrenzung auseinandersetzen. Die sehr unzuverlässige Erzählerin erzählt dabei in üppigen Metaphern aus ihrem jungen Leben und schafft ein Selbstbildnis in hemmungsloser Sprache. Schemenhafte und flimmernde Sprache beleben die oft überspitzte Handlung, bei der man nie sicher sein kann, was wahr und was falsch ist. Alles kann so gewesen sein, doch nichts muss, anything goes scheint hier das Motto zu lauten. Die Erzählerin konstruiert, rekonstrutiert und dekonstruiert ihre eigene Lebensgeschichte in einem ständigen Flow, der hin und wieder plötzlich abbricht, um an späterer Stelle erneut an Fahrt aufzunehmen.
Der Roman ist eine experimentelle und surreale Suche nach der eigenen Wahrnehmung und Zugehörigkeit, immer wieder verwischt die Sprache die Grenzen von Realität und Imagination. Identität, Migrationstrauma und Körperlichkeit spielen eine entscheidende Rolle im Buch, thematisiert werden aber auch Sex(-sucht), toxische Beziehungen und natürlich das Erwachsenwerden in einer unbeständigen Welt. Ein buntes Prismaspiel mit kaleidoskopisch-scharfen Kanten. Ruckartig blitzen Szenen auf und werden dann bis zur Unerkennbarkeit verzerrt und mit einem unsteten Rythmus unterlegt, es steckt unglaublich viel zwischen den Zeilen. Sehr eindrucksvoll und sensibel wird hier eine Collage zwischen hemmungsloser Selbstzerstörung, Selbstinszenierung und leiseren Rufen nach Halt aufgebaut. Ein starker, extravaganter Debütroman mit virtuos-verrätselter Sprache, definitv ein Jahreshighlight für mich. Nach diesem überaus dramatisch inszenierten Werk bin ich nun gespannt, was wir von Yade Yasemin Önder noch lesen werden, und ich kann das Buch jedem empfehlen, der auf der Suche nach sprachlichen Außergewöhnlichkeiten ist: das Buch ist ein wortgewaltiges Kunstwerk.

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Veröffentlicht am 06.04.2022

Attacke

GRM
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GRM erzählt eine Geschichte über, ja - was eigentlich genau? Den modernen, technologischen Menschen könnte man sagen, über das Unmoralische des technischen Forschritts und über gesellschaftliche Missstände. ...

GRM erzählt eine Geschichte über, ja - was eigentlich genau? Den modernen, technologischen Menschen könnte man sagen, über das Unmoralische des technischen Forschritts und über gesellschaftliche Missstände. Das Buch spielt irgendwann in einer Postbrexit-Welt. Es gibt ein Grundeinkommen für alle, die sich einen Chip zur staatlichen Überwachung einsetzen lassen, und es gibt ein Sozialpunktesystem: Bonuspunkte für gutes soziales Verhalten, Strafpunkte für schlechtes. Rahmenhandlung ist die alles miteinander verbindende Geschichte einer Clique aus dem sozialen Brennpunkt Rochdale: vier seelisch verstümmelte Kinder, die nach London ziehen und Rachezüge an ihren Ausbeutern planen.

GRM ist ein Buch über diejenigen, die am Rand der Gesellschaft stehen: aufgegebene Menschen, die dem Verfall überlassen werden und keine Perspektive mehr haben. GRM ist ein Buch über den Überwachungsstaat, über Konsum und künstliche Intelligenz, über die Perversionen der Menschen und das Patriarchat. Eine böse Vision der Zukunft, und gleichzeitig ein düsteres Abbild der Gegenwart: brutal, zynisch und mit scharfer Feder geschrieben. Thematisch überfrachtet, Personell überfrachtet, einfach komplett brainfuck. Ein literarischer Rundumschlag, der kaum ein gesellschaftlich kontroverses Thema nicht wenigstens kurz anschneidet. Big Brother in extremo, verstörend und betörend. Und alle, die dieses wahnsinnige Buch noch nicht gelesen haben: jetzt aber Attacke!

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Veröffentlicht am 27.03.2022

Die jüngste Tochter

Die jüngste Tochter
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Gleich der Autorin heißt die innerlich zerrissene Protagonistin in Fatima Daas autofiktionalem Debütroman "Die jüngste Tochter". Sie ist Französin mit algerischem Background und die Jüngste dreier Töchter. ...

Gleich der Autorin heißt die innerlich zerrissene Protagonistin in Fatima Daas autofiktionalem Debütroman "Die jüngste Tochter". Sie ist Französin mit algerischem Background und die Jüngste dreier Töchter. Fatima wächst im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois auf, ist praktizierende Muslima und angehende Autorin, doch sie hadert immer wieder mit ihrer Rolle im streng islamischen Weltbild ihrer Familie; Unter anderem liebt sie Frauen, ist sogar polyamorös - und sündigt aus islamischer Sicht damit gleich doppelt. Also versucht sie sich mit äußerlichen Zuschreibungen und Erwartungshaltungen Anderer zu identifizieren, traut sich nicht so richtig, zu sich selbst zu stehen. Und so versteckt Fatima ihre eigene Identität unter einem schützenden Gerüst aus Lügen, und versucht zeitgleich den Grat einer guten Tochter und einer selbstbestimmten Frau zu überwinden.

Ich machs kurz, ich habs in einem Rutsch gelesen und geliebt, der sehr originelle, repetive Schreibstil ist klar und flott zu lesen, entwickelt einen tollen Rhythmus und einen unheimlichen Sog. Das Buch, aus dem französischen von Sina de Malafosse übersetzt, wurde 2021 zurecht mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Fatima Daas erzählt von Einer, die zwischen den Stühlen sitzt. Einer, die sich im Spannungsfeld islamischer Zugehörigkeit und dem Streben nach Selbstverwirklichung befindet. Einer, die mit dem Spagat zwischen Identität, Herkunft und religiöser Moralvorstellungen zu kämpfen hat. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 20.03.2022

Macht und Begehren

BÄR
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"Oh Bär [...], wir sind ein lustiges Pärchen." (S. 93)

"Bär" erzählt die Geschichte einer Frau, die das Haus eines verstorbenen Colonels im Norden Kanadas bezieht. Im Auftrag ihres Instituts untersucht ...

"Oh Bär [...], wir sind ein lustiges Pärchen." (S. 93)

"Bär" erzählt die Geschichte einer Frau, die das Haus eines verstorbenen Colonels im Norden Kanadas bezieht. Im Auftrag ihres Instituts untersucht Lou dessen Nachlass, katalogisiert sie die dortige, außergewöhnlich gut bestückte Bibliothek und soll dabei herausfinden, ob sich Aufschlüsse zur Siedlungsgeschichte der Region finden lassen. Da das Haus abgeschieden auf einer einsamen Insel liegt, handelt es sich bei dem einzigen Lebewesen, dem sie sich sowohl körperlich als auch psychisch annähern kann, ein im Schuppen hinterm Haus lebender Bär. Und zwar ein angeketteter, sehr handzahmer Bär.
Im Laufe des Sommers entwickelt sich so auch eine sexuelle Beziehung zwischen Lou und dem eigentlich wilden, aber faszinierenden Geschöpf, und wird zu einem Machtspiel zwischen Mensch und Tier.

Lou, selbst von einem Mann verlassen und als Schreibtischaffäre ihres Institutsdirektors, projiziert ihre eigenen Gefühle auf den Bären, geht mit ihm schwimmen und macht sich ihn körperlich zu eigen. Das Buch, bereits 1976 erschienen und jetzt neu aufgelegt, behandelt das ziemlich unbequeme Thema der Zoophilie und macht auch den Leser zum Voyeur teils detailgetreuer Schilderungen. Ein außergewöhnliches Leseerlebnis, das über persönliche Grenzen geht und harter Tobak ist.
Am Ende befindet sich ein sehr gutes Nachwort der Autorin Kristine Bilkau, welches sich dem Text aus literaturwissenschaftlicher Sicht mit Referenzen zu u.a. Virginia Woolf und Marlen Haushofer nähert, feministische Denkanstöße gibt und auch Überschneidungen zur Popkultur anspricht. Hier kann man auch sicher selbst noch viel interessante Forschung am Text betreiben. Das Nachwort hat nochmal guten Input gegeben und wirklich viele interessante Interpretationsansätze geliefert, welche die eigentliche Story gut ergänzt und perfekt abgerundet haben.

Und ja, auch wenn ich mich in der Story nicht wirklich wohl gefühlt habe, überwiegten Neugier und Interesse am Weiterlesen wie in einem Fiebertraum ohne Entrinnen. Somit ist "Bär" für mich ein kleines Frühjahreshighlight über Begehren, Macht und Freiheit, das ich bestimmt noch mehrmals Lesen werde und wirklich jedem empfehlen möchte!

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Veröffentlicht am 13.03.2022

Wilhelm Tell

Tell
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"Tell" erzählt die altbekannte Geschichte von Wilhelm Tell, dem legendären Schweizer Nationalhelden, der den Habsburger Tyrannen inmitten der Alpen die Stirn bietet. Vielen vor allem durch Schillers gleichnamiges ...

"Tell" erzählt die altbekannte Geschichte von Wilhelm Tell, dem legendären Schweizer Nationalhelden, der den Habsburger Tyrannen inmitten der Alpen die Stirn bietet. Vielen vor allem durch Schillers gleichnamiges Drama und den berühmten Apfelschuss bekannt, ist Tell in dieser Neuerzählung ein bärbeißiger Antiheld, ein Eigenbrötler, welcher lediglich seiner Familie ein gutes Leben auf dem eigenen Hof ermöglichen möchte. Doch die Schikanen der Habsburger Obrigkeiten lassen Tell schließlich zum Freiheitskämpfer und Tyrannenmörder werden, zur Legende, die auch noch nach acht Jahrhunderten neu erzählt wird.

Der Klappentext spricht von einem "Blockbuster in Buchform", und das trifft es ziemlich gut. Joachim B. Schmidt lässt mit seiner Neuinterpretation den Mythos um Wilhelm Tell in vielstimmigen Bildern aufleuchten: 100 Abschnitte, erzählt aus den Sichtweisen von insgesamt 20 Akteuren, vermitteln ein rasant vorpreschendes Erzähltempo. Die Legende vom Apfelschuss in neuem Gewand, ein großartiger Pageturner und sehr spannend gemacht. Großes Kino ohne viel Schnickschnack drumherum, klare Leseempfehlung!

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