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Veröffentlicht am 10.02.2023

Besondere Lyrik

Nachthimmel mit Austrittswunden
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Um über Ocean Vuongs Gedichte schreiben zu können, muss ich zunächst kurz auf meine Beziehung zu seinem Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" eingehen. Dieses Debüt hat einen bleibenden Eindruck bei ...

Um über Ocean Vuongs Gedichte schreiben zu können, muss ich zunächst kurz auf meine Beziehung zu seinem Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" eingehen. Dieses Debüt hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, steht für mich stilistisch völlig für sich und hat einen unvergleichlichen Wiedererkennungswert. Da ich in Bezug auf den Roman stets von "poetisch" gesprochen habe, war ich neugierig darauf, wie die eigentliche Poesie Vuongs auf mich wirken würde.

Mit Vuongs Gedichten hatte ich noch mehr das Gefühl, in die Sprache des Autors eintauchen zu dürfen. Seine Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen, Bilder, Bildfragmente und Ideen werden durch ein Konstrukt von Assoziationen und Leitmotiven zusammengehalten. Die Vaterfigur, Krieg, Flucht, Sexualität, Verlust, Einsamkeit, Wunden... all diese Elemente ziehen sich durch die Gedichte. Der Schmerz ist dabei omnipräsent und spricht aus fast jedem Gedicht (wie auch schon der Titel suggeriert).

„& remember,/loneliness is still time spent/with the world.“

Ocean Vuong verleiht dem Ausdruck, was ihn in seinem Innersten bewegt. Seine Gedichte sind persönlich und eindringlich, verarbeiten die eigene Lebensgeschichte und die seiner Familie. Manchmal sind sie vielleicht weniger zugänglich, weniger leicht zu fassen als sein Debütroman, aber dadurch nicht minder beeindruckend. Sie entwickeln einen Sog. Vor allem im Original. Deshalb empfehle ich sie allen Fans von besonderer Lyrik.

„& how/could I have known, that by pressing this pen to paper, I was touching us/back from extinction?“

Übersetzt aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Bereichernde Einblicke

Gespräch über Kunst und Politik
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Inzwischen ist es sicher kein Geheimnis mehr, oder? An einem neuen Buch von Edouard Louis führt für mich kein Weg vorbei. Für sein neuestes Buch zählt das gleich doppelt, da es ein Gespräch mit dem englischen ...

Inzwischen ist es sicher kein Geheimnis mehr, oder? An einem neuen Buch von Edouard Louis führt für mich kein Weg vorbei. Für sein neuestes Buch zählt das gleich doppelt, da es ein Gespräch mit dem englischen Regisseur Ken Loach ist, dessen Schaffen mich sehr interessiert.

In ihrem Gespräch widmen sich Louis und Loach Themen, die unsere Gesellschaft bewegen. Das Buch ist in mehrere Teile aufgeteilt. Dialoge zwischen den beiden wechseln sich mit Publikumsfragen ab (das Gespräch hat live vor einem Publikum stattgefunden und wurde aufgezeichnet).

Das Buch beginnt mit einem Teil über den Aufstieg der extremen Rechten in Europa und den Fragen danach, wie es dazu kommen konnte und wie die Linke darauf reagieren sollte. Im Folgenden geht es darum, wie sich unsere Gesellschaft verändern muss. Welche Verbesserungen braucht es? Und welche Rolle spielen dabei die Medien? Einen besonderen Schwerpunkt legen die beiden außerdem auf die Rolle der Kunst und fragen danach, wonach Kunst streben muss, aber auch, wo ihre Grenzen liegen.

"Gespräch über Kunst und Politik" liefert Denkanstöße und macht die Lesenden mit den Ansichten von zwei scharfsinnigen und mutigen Künstlern unserer Zeit bekannt.

Zugegebenermaßen haben die beiden nicht genügend Zeit, um sehr in die Tiefe zu gehen. Das erlaubt ihnen der Rahmen dieses relativ kurzen und in unterschiedliche Themen eingeteilten Gesprächs nicht. Aber dennoch vereinfachen und idealisieren sie nicht. Es entsteht deshalb nie der Eindruck von Plakativität. Stattdessen wird im Lesenden der Wunsch danach geweckt, sich ausgiebiger mit den Werken von Louis und Loach zu beschäftigen.

Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Überzeugend

Lapvona
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Lapvona, ein mittelalterliches Fürstentum. Das ist der Ort, an dem Otessa Moshfeghs neuer Roman spielt. Villiam, der Fürst, thront in seinem Schloss über dem Dorf. Mithilfe des Pfarrers, Wachposten und ...

Lapvona, ein mittelalterliches Fürstentum. Das ist der Ort, an dem Otessa Moshfeghs neuer Roman spielt. Villiam, der Fürst, thront in seinem Schloss über dem Dorf. Mithilfe des Pfarrers, Wachposten und Räuberbanden hält er die Dorfbevölkerung unter Kontrolle, erstickt jede Unzufriedenheit im Keim und lässt die Menschen Hunger leiden und verdursten, wenn ihm danach ist.

"Furcht und Schrecken waren gut für die Moral, glaubte Villiam."

Marek ist der Sohn des Lammhirten Jude. Er wächst ohne Mutter auf, ist missgebildet, kindlich und naiv. Als er versehentlich den Sohn des Fürsten umbringt, verändert sich sein Leben schlagartig, denn er zieht ins Schloss und ersetzt dem Fürsten fortan den verlorenen Sohn.

Otessa Moshfeghs Roman kreist, wie man es von ihr gewohnt ist, um das Düstere, Dunkle und bisweilen auch Eklige. Doch er tut dies nicht um derer selbst willen. Er will nicht schockieren, nur um zu schockieren. Ganz im Gegenteil offenbart er durch diesen Fokus die Abgründe der Menschen. Machtverhältnisse, Tyrannei, die Funktionsweisen von Unterdrückung: All diese Themen machen den eigentlichen Kern des Romans aus.

Das gelingt besonders gut durch Mareks Weltenwechsel. Die erste Hälfte des Romans macht den Leser mit dem Leben im Dorf vertraut, die zweite nimmt ihn an Mareks Seite mit ins Schloss, also ganz nah heran an die Lächerlichkeit der Mächtigen. An Villiam, der von ständiger Langeweile geplagt wird und der sich von seiner Dienerschaft bespaßen lässt. Er verkörpert auf anschaulichste Weise eine Herrscherfigur, die den Bezug zur Realität nicht verloren, sondern ihn nie gehabt hat.

Moshfegh zeichnet ein groteskes Porträt der menschlichen Gesellschaft, das zwar im Mittelalter angesiedelt ist, sich aber nie weit weg anfühlt. Und das ist vielleicht das Erschreckende, aber gleichzeitig auch Grandiose an diesem Roman.

Zusätzlich überzeugt der Roman sprachlich, stilistisch und schafft es in gewohnter Moshfegh-Manier, den Lesenden in seine Welt zu ziehen. Deshalb gilt: Lapvona sollte man nicht, man muss es gelesen haben! 🐑

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Eindringlich und komplex

Macht
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Ein Foto im Innendeckel von Heidi Furres Roman "Macht" zeigt, wie die Künstlerin Niki de St Phalle auf eine Wand schießt. Diese berühmten "Schießbilder" von St Phalle sind Teil eines persönlichen Verarbeitungsprozesses ...

Ein Foto im Innendeckel von Heidi Furres Roman "Macht" zeigt, wie die Künstlerin Niki de St Phalle auf eine Wand schießt. Diese berühmten "Schießbilder" von St Phalle sind Teil eines persönlichen Verarbeitungsprozesses von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung.

Mit dem erlebten Trauma fertig zu werden, es zu verarbeiten, darum geht es in Furres Roman. Genau wie Niki de St Phalle verbirgt und unterdrückt die Protagonistin die erfahrene Vergewaltigung jahrelang. Sie heiratet und wird Mutter. Doch die Nähe und Verbindung zu ihrem eigenen Kind löst Ängste aus und lässt Unterdrücktes wieder an die Oberfläche dringen.

Alles in ihrem Alltag scheint sie an das Erlebte zu erinnern. Da ist der Schauspieler, dem sie auf ihrer Arbeit begegnet und dem vorgeworfen wird, dass er eine sexuelle Straftat begangen hat. Da ist die Angst in der Dunkelheit, auf einsamen Wegen, der Besuch beim Zahnarzt, die Angst davor, was ihre eigene Tochter eines Tages erleben konnte oder die Nachbarskinder...

Die Vergewaltigung nimmt einen immer größeren Raum in ihrem Leben ein. Und gleichzeitig kann sie das Wort nicht denken, geschweige denn aussprechen. Stattdessen bewahrt sie mit aller Macht den Schein. Ihr Äußeres ist ihr wichtig. Sie will nicht negativ auffallen, in keine Opferrolle gedrängt werden. Macht über die Fassade zu haben, bedeutet für sie, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten.

Furres Roman fokussiert sich auf die Spuren, die eine Vergewaltigung in der Psyche des Opfers hinterlässt. Er zeichnet den jahrzehntelangen Kampf mit dem Trauma nach und stellt gleichzeitig die Frage nach Mutterschaft, Sexualität, Erwartungen und Macht.

"Macht" ist ein eindringlicher und komplexer Roman, der dem Thema der sexueller Gewalt in der Hinsicht gerecht wird, als dass er aus dem Innersten seiner Protagonistin erzählt. Zwischen Leser*in und Protagonistin steht keine Erzählstimme, die eine Distanz schafft. Die Protagonistin selbst wirkt daher zu jeder Zeit mit dem, was sie denkt und fühlt, glaubhaft und das ist sicherlich die Stärke dieses Buchs.

Weniger überzeugend ist jedoch das Ende, das sich vom Rest der Geschichte abhebt und etwas zu literarisch konstruiert wirkt. Auch manche Aspekte, die im Laufe des Romans aufgeworfen werden, finden keinen richtigen Abschluss. Das ist zwar bedauerlich, aber letztlich nicht schwerwiegend genug, um diesen Roman nicht zu empfehlen. Denn dafür ist sein Thema zu wichtig und die Umsetzung insgesamt, von den erwähnten Schwächen abgesehen, zu gelungen!

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Nicht anspruchsvoll, aber auch nicht schlecht

The Man I Never Met – Kann man lieben, ohne sich zu kennen?
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Ein Anruf bei der falschen Nummer: So lernen sich Davey und Hannah kennen. Was als Zufall beginnt, wird zu einer Fernbeziehung, die aus Nachrichten, Anrufen und Videocalls besteht. Davey lebt in Texas, ...

Ein Anruf bei der falschen Nummer: So lernen sich Davey und Hannah kennen. Was als Zufall beginnt, wird zu einer Fernbeziehung, die aus Nachrichten, Anrufen und Videocalls besteht. Davey lebt in Texas, Hannah in London. Doch Davey wird für seinen Job nach London ziehen. Darauf fiebern die beiden hin. Ihre Fernbeziehung wird damit ein Ende haben. Als Hannah Davey jedoch am Flughafen abholen möchte, kommt dieser nicht an...

Ich mochte die Ausgangssituation von „The Man I Never Met“: Zwei menschen, die sich über Nachrichten und Anrufe kennenlernen. Es hat mich ein bisschen an „Gut gegen Nordwind“ erinnert. Letztlich hat der Roman viel weniger Tiefe entwickelt und auch das Briefromanelement, oder in diesem Fall besser das Kennenlernen durch Telefonate, hat nicht so einen großen Raum eingenommen, wie ich es mir erwünscht hätte. Klischees und nicht ganz nachvollziehbares Verhalten der Figuren dürfen ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.

Trotzdem: „The Man I Never Met“ ist kein schlechter Unterhaltungsroman. Für kalt Winterabemde, an denen man einfach mal was ganz Leichtes mit wenig Anspruch braucht, ist der Roman ganz in Ordnung.

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