Profilbild von Lesereien

Lesereien

Lesejury Star
offline

Lesereien ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Lesereien über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.03.2023

Eine wichtige und notwendige Neuerzählung der amerikanischen Geschichte

Der Wassertänzer
0

Hiram Walker wächst als Sohn einer Sklavin und eines Plantagenbesitzers auf. Als er noch ein Kind ist, wird seine Mutter verkauft und er arbeitet fortan auf den Plantagen des Vaters. Doch Hiram ist wissbegierig ...

Hiram Walker wächst als Sohn einer Sklavin und eines Plantagenbesitzers auf. Als er noch ein Kind ist, wird seine Mutter verkauft und er arbeitet fortan auf den Plantagen des Vaters. Doch Hiram ist wissbegierig und hat vor allem ein außergewöhnliches Gedächtnis, das schon bald die Aufmerksamkeit des Vaters erregt. So steigt Hiram auf und wird zum Diener des eigenen Bruders Maynard. Als die Brüder während einer Kutschfahrt verunglücken, stirbt Maynard und Hiram entdeckt in sich eine Fähigkeit, die so außergewöhnlich ist, dass sogar der Underground auf ihn aufmerksam wird.

Die Geschichte begleitet Hiram fortan auf seinem Weg in die Nordstaaten. Er muss Gefangenschaften und Qualen über sich ergehen lassen, doch die Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit gibt ihm den Willen, weiterzugehen.

Ta-Nehisi Coates’ Roman erzählt auf eindrückliche Weise vom Grauen, den Verbrechen und von der Unwürdigkeit der Sklaverei. Er erzählt von Eltern, die von Kindern getrennt werden, von Familien, die auseinandergerissen werden, von Gefangenen, die gedemütigt werden, von Trauma, Verlust und schließlich auch von Unterdrückten, die sich gegen die Unmenschlichkeit der Gesetze aus dem Untergrund heraus aufzulehnen beginnen.

Das Bild, das dabei von der Zeit der Sklaverei entsteht, ist detailliert und vielschichtig. Es ist an die Realität angelehnt und in einer historischen Zeit verankert, in der die großen Sklavenplantagen Virginias bereits dem Untergang geweiht waren. Doch historische Wirklichkeit und Fantastisches bedingen sich in der Geschichte, denn Coates baut Elemente des magischen Realismus in sie ein und stattet seinen Protagonisten mit übernatürlichen Kräften aus. Damit überträgt er die Idee des weißen amerikanischen Superhelden auf einen Sklaven und das ist sicherlich eine der bemerkenswertesten Errungenschaften dieses Romans.

Der Wassertänzer ist eine wichtige und notwendige Neuerzählung der amerikanischen Geschichte, die endlich diejenigen als Helden darstellt, die es wirklich verdient haben.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Außergewöhnlich

Das Fluchholz
0

Habt ihr Lust auf eine Geschichte, die aus einer außergewöhnlichen Perspektive erzählt wird? Auf eine Geschichte, die Jahrhunderte umspannt? Dann sollte Johan De Booses Roman „Das Fluchholz“ eure nächste ...

Habt ihr Lust auf eine Geschichte, die aus einer außergewöhnlichen Perspektive erzählt wird? Auf eine Geschichte, die Jahrhunderte umspannt? Dann sollte Johan De Booses Roman „Das Fluchholz“ eure nächste Lektüre werden!

Im Roman erlebt ein Stück Holz die Knotenpunkte der letzten 2000 Jahre der Menschheitsgeschichte. Beginnend als Olivenbaum in Palästina, in dessen Schatten Maryam und später ihr Sohn Jeschua sich regelmäßig niederlassen, muss der Baum schon bald tatenlos zusehen, wie er gefällt und sein Holz für das Kreuz, an das man Jeschua nageln wird, genutzt wird.

Im Folgenden wird ein Stück dieses Kreuzes ständig weitergereicht. Zunächst landet es bei den Römern, später findet es sich in einem Kloster in Belgien wieder, wird von russischen Mönchen in ihre Heimat getragen und zur Ikone umfunktioniert. Auch nach Andalusien, in Darwins England, in den Vatikan, in die Zeit der Russischen Revolution, zu Stalin, in den Kalten Krieg und schließlich sogar ins Weltall verschlägt es unseren Erzähler.

Auf etwas mehr als zweihundert Seiten gelingt es De Boose nicht nur, die Menschheitsgeschichte seit der Geburt von Jesus nachzuzeichnen, er schafft es auch, sie zu entmystifizieren. Sein Blick auf die Geschichte ist zwar durch die Religion geprägt, aber sie dient ihm lediglich als roter Faden, denn die Erzählinstanz zeichnet sich dadurch aus, dass sie klarsichtig ist, logisch denkt und keine Direktheit scheut. Sie steht über jeglichen religiösen Mythen und dass das auf manch einen Leser befremdlich oder sogar provokativ wirken kann, ist nicht auszuschließen. So hinterfragt das Holz gleich zu Beginn indirekt die Glaubwürdigkeit religiöser Überlieferungen, wenn es Zeuge der Vergewaltigung Maryams durch römische Soldaten wird, die ihre Schwangerschaft erklärt.

„Das Fluchholz“ ist humorvoll, geistreich, ironisch, voller Witz und Klugheit und tut sich und allen Lesern den Gefallen, von Aberglaube und verstaubten Mythen befreit zu sein. Es lässt uns an Umbrüchen und Veränderungen in der Geschichte teilhaben und macht gleichzeitig deutlich, dass Gewalt, Krieg und Religion uns immer begleitet haben.

Ein außergewöhnlicher Roman!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Liest sich wie ein Thriller

Undercover
0

Murat Cem kommt als Kind türkischer Gastarbeiter nach Deutschland. Sein Umfeld ist geprägt von Gewalt, Drogen und gescheiterter Integration. Haltlos rutscht er in die Drogenszene seines Problemviertels ...

Murat Cem kommt als Kind türkischer Gastarbeiter nach Deutschland. Sein Umfeld ist geprägt von Gewalt, Drogen und gescheiterter Integration. Haltlos rutscht er in die Drogenszene seines Problemviertels hinein. Als die Polizei ihn festnimmt, verrät er seinen besten Freund, der gleichzeitig sein Partner im Drogengeschäft ist und entgeht so einer längeren Gefängnisstrafe.

Im Folgenden entwickelt er eine immer engere Beziehung zur deutschen Polizei. Schon bald hilft er ihnen dabei, Kriminelle und Drogendealer zu entlarven. Es gelingt ihm sogar, einen Mordfall aufzuklären und dem Mörder ein Geständnis abzuringen. Seine Arbeit wird für die Polizei so wertvoll, dass er immer häufiger Aufträge bekommt, teilweise an mehreren Orten gleichzeitig arbeitet und schließlich als wichtigste Vertrauensperson in den innersten Kreis der Salafistenszene eindringt und Anschläge verhindert.

Doch nicht immer geht alles glatt. Einmal fliegt Cem durch seine echten Papiere auf, einmal errät seine Zielperson, dass er ein Spitzel ist, ein anderes Mal fährt er mit einer Handgranate im Kofferraum durch die Gegend.

Ein Jahr lang haben die Redakteure des Spiegel mit Cem über sein Leben, seine Familie und seine Tätigkeit als V-Mann geredet. Entstanden ist ein Porträt, das durch seinen Detailreichtum und seine unbeschönigten Einblicke in von Gewalt, Kriminalität, Fanatismus und Radikalität geprägte Welten besticht.

Gleichzeitig ist es ein kritisches Porträt, das einem im System Unsichtbaren und Stummen eine Stimme verleiht. Das Buch offenbart die Mängel und gesetzlichen Lücken, die dazu führen, dass die eigenen Mitarbeiter nicht geschützt werden, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, letztlich ihr Leben in einem Zeugenschutzprogramm fristen müssen und, wie im Falle von Cem, arbeitslos sind.

Das Buch lebt von seinem Protagonisten, von dessen Wandelbarkeit, dessen Anpassungsfähigkeit und dessen scheinbar mühelosem Wechsel zwischen den Welten. Auf 300 Seiten fasst dieses Buch zwanzig Jahre eines Ausnahmelebens zusammen, das es in sich hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein gelungener Roman

Des Lebens fünfter Akt
0

Bekannt ist Arthur Schnitzler bis heute als brillanter Novellist. Werke wie seine “Traumnovelle” haben schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass er als Schriftsteller ein hohes Ansehen genoß und sich mit ...

Bekannt ist Arthur Schnitzler bis heute als brillanter Novellist. Werke wie seine “Traumnovelle” haben schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass er als Schriftsteller ein hohes Ansehen genoß und sich mit den großen Denkern und Autoren seiner Zeit in Briefen austauschte. Volker Hage konnte für seinen Roman daher unter Anderem auf Korrespondenzen mit Hofmannsthal, Freud, Thomas Mann und Stefan Zweig zurückgreifen.

Zitate und Ausschnitte aus diesen Briefen, sowie aus den eigenen Aufzeichnungen Schnitzlers fügen sich dabei stets harmonisch und sinnvoll in das Erzählte ein und wirken nie wie Fremdkörper. Es gelingt Hage, ein einfühlsames Porträt des Schriftstellers zu zeichnen, das es dem Leser ermöglicht, sich Schnitzler nahe zu fühlen.

Als Beginn des Romans hat Hage den wohl größten Einschnitt in Schnitzlers Leben ausgewählt: Den Selbstmord der achtzehnjährigen Tochter Lili: “Lili, die Tochter, die er geliebt hatte wie keinen anderen Menschen, sie lebte nicht mehr. Es gab keine Worte dafür. Er überließ sich dem Schmerz [...]. Ihn umgab eisige Finsternis.” Der Verlust der einzigen Tochter prägt ihn grundlegend und er nimmt sein Leben fortan nur noch als eines war, “das es abzuleben galt”.
Schicksalsschläge und Verluste dieser Art begleiten den Schriftsteller jedoch nicht erst in seinen späteren Lebensjahren. Denn auch seine große Liebe Marie Reinhard starb früh. Der Tod ist nie fern in diesem fünften Akt.

“Des Lebens Fünfter Akt” ist ein gelungener Roman, der Sprache, Stil und Erzählinstanz in den Hintergrund rücken lässt, um seiner Hauptfigur vollständig die Bühne zu überlassen. Schnitzler wird sowohl als Schriftsteller als auch als Mensch der Raum gelassen, sich selbst durch sein Werk, seine Beziehungen und durch seinen Lebensweg darzustellen. Um den Mann hinter den Novellen besonders in seinen letzten Lebensjahren kennen- und verstehen zu lernen, sollte man sich diesem Roman widmen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein Roman, der zum Hinsehen zwingt

Vertraute Welt
0

Glupschaug, der junge Protagonist des Romans, lebt mit seiner Mutter in den 1980er Jahren in den Slums von Seoul. Die Armut ist nie fern und als der Vermieter mit der Kündigung droht, nimmt die Mutter ...

Glupschaug, der junge Protagonist des Romans, lebt mit seiner Mutter in den 1980er Jahren in den Slums von Seoul. Die Armut ist nie fern und als der Vermieter mit der Kündigung droht, nimmt die Mutter den Vorschlag eines Bekannten an. Sie erhofft sich damit einen festen Job und ein eigenes Heim. Doch anstelle von Freiheit erwartet sie eine noch größere Abschottung und ein Dasein am Rande der Gesellschaft, nämlich auf der Müllhalde.

Sok-yong schreibt aus der Perspektive der von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Er entführt den Leser in eine Welt, in der Menschen zwölf Stunden am Tag Müll aus riesigen Müllbergen picken müssen, sich mit dem herumschlagen müssen, was andere längst entsorgt haben und von Gestank, Fliegen, Tod, Verwesung, Zerbrochenem, Benutztem und Ausrangiertem umgeben sind. Der Müll liefert das Essen. Aus Müll werden die Hütten gebaut. Müll ist allgegenwärtig.

In Südkorea ist Hwang Sok-yong ein erfolgreicher Autor, dessen Werk bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Und die Lektüre alleine dieses Romans lässt erahnen, dass die Wertschätzung und der Erfolg seiner Romane sicherlich nicht unberechtigt ist. Denn Sok-yongs Gesellschaftskritik ist tiefgründig und auf eine subtile Art konfrontativ. Er deckt gesellschaftliche Strukturen und Missstände auf, indem er auf Bilder und Szenen zurückgreift, die durch ihre Aussagekraft überzeugen und nicht, indem er sich in langen Beschreibungen oder Anklagen verliert. Ein Beispiel dafür liefert eine Szene, in der eine Frauengruppe Nahrungsmittel an die Müllsammler und deren Kinder in der Kirche verteilt. Denn sie sind nur an den inszenierten Fotos interessiert und nicht daran, den Menschen wirklich zu helfen.

Der deutsche Titel des Romans „Vertraute Welt“ suggeriert, ebenso wie der englische “Familiar Things”, dass wir als Leser wissen, dass diese Welt existiert, dass sie uns alles andere als fremd ist. Wir verdrängen sie vielleicht, denken nicht über sie nach und überlassen sie den Anderen, aber genau das lässt der Roman nicht zu. Er zeigt, dass Glupschaugs Lebenswelt ein Resultat des immerwährenden Konsums, des Überflusses und der Verschwendung ist. Die beiden Welten, die die Stadt in eine Mitte und in einen Rand aufteilen, sind aufs engste miteinander verknüpft und können nicht getrennt voneinander gedacht werden. Daher stellt der Roman letztlich auch die Frage von gesellschaftlicher Verantwortung und zwingt zum Hinsehen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere