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Veröffentlicht am 18.12.2021

Traurige Tulpen: Ein Autoreifen explodierte neben mir (14,214)

Straßen in Berlin und anderswo
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Die intellectual buddies von der Frankfurt School haben ihn wohl nicht ganz für voll genommen, Teddie ihn mit Ausdauer „Friedel“ (den Friedfertigen) genannt und im US-Exil wollte er lieber mit „Krac“ angesprochen ...

Die intellectual buddies von der Frankfurt School haben ihn wohl nicht ganz für voll genommen, Teddie ihn mit Ausdauer „Friedel“ (den Friedfertigen) genannt und im US-Exil wollte er lieber mit „Krac“ angesprochen und als Singularität ernstgenommen werden. Wenigstens ist er dann nicht wie Franz Neumann (1954) oder eben „der ramponierte Teddie“ (1969) im Urlaub im Visper Spital plötzlich verstorben, mit schrecklichen Auswirkungen bei dem jeweiligen Anhang; er hat sich aber auch nicht für solch „elegante Naturschönheiten“ wie Arlette oder das Matterhorn - „Hochgebirge: Streichertremolo mit signalähnlichem Hornmotiv“ (Adorno/Eisler 1947) - entscheiden müssen. Wer den Titel des vorliegenden Werks allzu wörtlich verstehen möchte, dem sei von der Beschaffung eher abgeraten, denn hier stehen die Straßen von Berlin, was ihre bauliche Beschaffenheit oder stadtplanerische Raffinesse betrifft, gar nicht so sehr im Vordergrund, wie man das bei einem immerhin studiert und praktiziert habenden Architekten eigentlich erwarten würde. Vielmehr drängt sich ein Vergleich mit dem ETH-Absolventen Max Frisch auf, dem irgendwann auch alles in Sprache gerann und der sich ebenfalls „von unten kommend“ hocharbeiten musste, aber ohne einen großbürgerlichen Sponsor aus dem Zürcher Patriziat wohl kaum hätte reüssieren können. Hier schreibt also ein praktizierender Sprachkünstler auf der Suche nach dem, was Mark Knopfler an der Gitarre „finding my own voice“ genannt haben dürfte, oder eben ein an seiner Begabung noch still zweifelnder Kunstmaler, der seine Pinsel zum Trocknen weggelegt hat und unterdessen - immer in furchtbar fruchtbarer Eile - geradezu obsessiv hier und dort noch ein paar Skizzen zu Papier bringen möchte. Was die 52 Skizzen in diesem beeindruckenden Werk zu fassen versuchen, hat mit Straßen (12), Lokalen (8), Dingen (5), Leuten (8) oder Anhängen (19) nur bedingt zu tun, viel aber mit der Rolle eines „participant observer“ und einer aus melancholischer Einsamkeit hervor quellenden Sprachlust. Es handelt sich also eher um eine Art von Divertimento über das unerschöpfliche Thema „Die große Stadt“, das nach Zwischenstationen 1933, 1964 und 2009 wo-möglich wieder zeitgemäß sein könnte. Diese Aussage zu belegen, seien einige - möglichst titelnahe - Kostproben aus der Vorlage kurz angesprochen. Nehmen wir zunächst eine Rarität, die aber für die Titelgebung den Ausschlag gegeben haben dürfte. Im „Anhang“ findet sich unter dem Divertimento Nr.40 eine Impression von Kracs Wohnhaus „im Berliner Westen“ (196-98), ein „völlig normales Haus, (...) vier Stockwerke, in deren jedem zwei Wohnungen angeordnet sind, und einen Lift, der fast immer funktioniert.“ Krac wundert angesichts der überschaubaren Größe dieses urbanen Habitats, dass er „zu jeder Tages- und Nachtzeit“ Leuten begegnet: „Das Haus wird von Kaufleuten, einem Fabrikanten, zwei Ärzten, einer Schauspielerin, einer Geheimratsfamilie und ein paar (?) anderen Berufen bewohnt. Aber selbst wenn alle diese Parteien Untermieter hätten, wäre damit noch keineswegs die Menschenfülle erklärt, die gleichzeitig mit mir die Etagen benutzt.“ Der Flaneur ist eben kein Passant, dazu fehlt ihm das Zielgerichtete des sich in der Stadtwelt bewegenden Berufsakteurs und Funktionsträgers, in einer „an Gegensätzen so reichen Stadt“ zumal, der ehemaligen Hauptstadt. (184) „Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.“ (55) Aber eine „unbesonnene Sinnlichkeit“ (34) ist dabei nicht ungefährlich, denn die urbanen „Eindrücke (...) beschlagnahmen den Passanten.“ (43) Wie bei dem in Erkner spazieren gehenden jungen G. Hauptmann fallen dem bürgerlichen Betrachter auch hier „Straßenexistenz(en)“ mit Krücken auf (193), „Menschen, die schon lange nicht mehr geblinkt haben.“ (83) Im Unterschied zu einer politischen „Ampel“ hat eine Verkehrsampel deshalb drei Farben, weil gelb als „Zwischenlicht“ (nicht in allen Ländern) „den Übergang von einem entschiedenen Zustand in den anderen (bezeichnet).“ (191) Das sieht ein politisches Ampelgelb (FDP) vermutlich anders. Jedenfalls entspricht dem „furchtbaren Elend“ jener Zeit der 1920er Jahre sogar in einer ehemaligen Reichshauptstadt eine paradoxe und irrationale Neigung zu Chiromantik (91), zumal bei denen, die „auf der Straße daheim“ sind. (178) „Was geht diese Menschen die Sonne an?“ (99) Sicher eine berechtigte Frage, nur stellen müsste man sie. Die Vorstädte werden zu „Riesenasyle(n) der kleinen Leute.“ (16) Von dort streben sie in das „Vergnügungslokal“ (93) oder in die „Wärmehallen“ (82). Das Kino in der Münzstraße hinterm Alex bietet - jetzt auch tagsüber - Zerstreuung für kleines Geld und Hans Albers hält sich auf Kosten von Heinz Rühmann schadlos. Die Fangschaltung für Bummler besteht aus den Bilderschaukästen im Eingangsbereich der Kinos (96), wo sie sich als Vitrinen regelrecht zu Alleen verdichten (199), sodass „den abgewetzten Häusern“ (212) mit dem Glanz von „Filmdiven in feenhaften Toiletten“ (200) über die Runden geholfen wird. Der Import der Alfred-Jackson-Girls lohnt sich in jedem Fall, übertreffen sie doch sogar die Tillergirls an Zahl und Synchronie der aufgeworfenen Strumpfbeine - das Ensemble hat quasi fabelhafte 32 PS. (202) Dem Sündenbabel des die Krise kompensierenden Vergnügungsexzess korrespondiert eine gutmütige Einladung in die Ausstellung am Reichskanzlerplatz - die „Sowo“ steht für „So wohnen alle Tage“. (204) „Warum in aller Welt muss immer alles gleich in alle Welt?“ (188) Am besten bleibt man wie Montaigne einfach zuhause - „Trautes Heim, Glückes Keim“? (127) - und schaut sich die eigenen Möbel an. „Hohe Mietshäuser fassen die grade Straße ein, in der zwei Baumreihen stramm stehen wie Rekruten. Vom einen Stamm zum andern sind immer genau zwölf Schritte. Über den Laubmonturen ragen die Fassaden empor, schmutzige Wände mit eingelassenen Balkonen und vielen Fenstern, hinter denen sich ein besseres Familienleben vollzieht. (...) Im Erdgeschoss befinden sich unbedeutende Kneipen und kleine Läden, die dem Bedarf der Straßenbewohner dienen. (...) Auf dem Asphalt fahren fortwährend Wagen und Taxis vorbei, die im Verein mit einigen Zeitungsbuden der Straße ein großstädtisches Aussehen verleihen. Dennoch langweilt sie sich. Ihre Erker sind es müde, sich ewig anzustarren, und ihre Bäume müssen immer denselben Abstand wahren.“ (160f)
Michael Karl

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