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Veröffentlicht am 21.06.2022

Emotionaler Strudel über die deutschen Schicksalsjahre 1936 bis 1945

Als die Welt uns gehörte
3

„Als die Welt uns gehörte“ von Liz Kessler ist ein Buch der Gattung Antikriegsbuch und ist nicht nur ein interessanter und gelungener Historischer Roman, sondern ein wirklich brillantes Werk, welches über ...

„Als die Welt uns gehörte“ von Liz Kessler ist ein Buch der Gattung Antikriegsbuch und ist nicht nur ein interessanter und gelungener Historischer Roman, sondern ein wirklich brillantes Werk, welches über die Schicksalsjahre 1936 bis 1945 berichtet und den Leser auf eine emotionale Achterbahnfahrt mit nimmt und ihn immer wieder schockiert zurück lässt.

„Ich konnte die ganze Welt sehen! Oder zumindest ganz Wien, und das war meine Welt. Meine zwei besten Freunde, Max und Elsa, standen neben mir und hatten die Gesichter wie ich an die Scheibe gedrückt.“ So beginnt aus Sicht von Leo die auf Tatsachen beruhende Geschichte dreier Kinder (Großvater und Eltern der Autorin hatten dabei Pate gestanden), die dank Max‘ Vater einen ihrer schönsten Tage auf dem Wiener Prater verbringen dürfen. Höhepunkt ist dabei die Fahrt mit dem Riesenrad. Und da der Vater von Max Fotograf ist, muss er natürlich Erinnerungsfotos schießen, von denen jedes der Kinder einen Abzug erhält. Max stolpert zudem bei dieser Fahrt über die Beine einer Frau, was sich im weiteren Verlauf noch als schicksalsträchtig erweisen wird. Die drei Freunde sind sich einig, dass sie immer zusammenbleiben werden, und Elsa, die sich zwischen Max und Leo niemals entscheiden könnte, fasst den Entschluss, später beide heiraten zu wollen. All das passiert im Jahre 1936, als das Leben der drei noch von kindlicher Naivität geprägt ist … noch! Doch dann erfolgt im März 1938 Österreichs „Anschluss“ an das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich und die Welt der drei Freunde wird aus den Angeln gehoben und sich schnell und überaus gewaltig verändern. Von einem auf den nächsten Tag entsteht in Wien ein Judenhass, bei der Menschen enteignet, misshandelt, gefangen genommen und aufs äußerste gedemütigt werden. Als die ersten Vorboten dessen bekannt werden, flieht Elsas Familie wegen ihres jüdischen Hintergrunds in die Tschechoslowakei - nicht die beste Wahl, da dem Nazi-Regime das im Vorjahr infolge des Münchner Abkommens bereits an Deutschland abgetretene Sudetenland alleine nicht ausreicht und die Wehrmacht bekanntermaßen 1939 schließlich in der Tschechoslowakei einmarschierte. Leo und seine Mutter, die ebenfalls jüdische Wurzeln haben, fliehen erst, als der Vater von der SS bereits abtransportiert wurde. Der Vater von Max hingegen ist Arier durch und durch und steigt unter dem Nazi-Regime immer weiter auf, erklimmt mit der Zeit immer höhere Stufen auf der Karriereleiter und sein Sohn beginnt sich immer mehr an ihm zu orientieren und seine Freunde nahezu zu vergessen. Bis zum bitteren Ende, werden die Protagonisten allerdings immer wieder von einander hören, über einander nachdenken oder sich gar über den Weg laufen. Wichtigstes Bindeglied bleibt dabei stets das Foto vom Praterbesuch. Manch einer mag diese Situationen als konstruiert oder unrealistisch empfinden, für meinen Geschmack spielt das für die Handlung selbst allerdings keine relevante Rolle – vielmehr schafft die Autorin damit eine Atmosphäre, bei der sie den Leser immer tiefer in die Gefühlswelt der Hauptcharaktere des Buches mit hinein zieht.

Wahnsinnig mitreißend schreibt Liz Kessler über das Leben der Protagonisten. Sie verzichtet darauf minutiös über die einzelnen militärischen Ereignisse dieser Zeit zu berichten und konzentriert sich hier auf die wesentlichen politischen Entwicklungen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Auswirkungen auf die Menschen im Dritten Reich. Sehr gut wird nachvollziehbar, was sich zu jener Zeit in Deutschland zugetragen hat – der Leser wird hier regelrecht in einen emotionalen Abwärtsstrudel mit hinein gerissen. Oft bleibt er dabei schockiert und emotional aufgewühlt in einer unerklärbaren Starre verharrend, da es einem nicht nachvollziehbar erscheint, wie Menschen einander solche Dinge antun können und kaum jemand einschreitet, sondern eine gewaltige Mehrheit einfach nur mit dem Strom schwimmt. Vieles davon mag der ein oder andere noch von den erinnerten Erzählungen der Eltern oder Großeltern kennen, deren Verwandten und Bekannten oftmals das gesamte Spektrum von SS-Mitgliedern bis zu Widerstandskämpfern abdeckte. Liz Kessler vermag es, kontrastreich all die unterschiedlichen Sichtweisen dem Leser zu transportieren und ihn tief in den Bann des Buches hinein zu ziehen. Nur ganz selten habe ich ein Buch gelesen, welches mich emotional so sehr mitgerissen und gleichzeitig mit seiner gesamten Tragweite so bewegt und aufgewühlt hat – vergleichbar war das für mich nur mit dem Moment, als ich damals nach dem Film „Schindlers Liste“ schockiert aus dem Kino kam und keiner mehr etwas zu sagen wusste oder sagen wollte.

Deklariert als Kinder- und Jugendbuch, würde ich es für Jugendliche unter 14-15 Jahren sicherlich nicht empfehlen wollen, dafür aber allen Erwachsenen ans Herz legen, die bereits viel über die deutsche Nazi-Ära gehört haben und die gesamte emotionale Palette an Eindrücken jener Zeit hautnah erfahren und nachvollziehen möchten. Sehr bildhaft führt die Autorin dem Leser die Geschehnisse dieser Zeitspanne vor Augen. Darüber hinaus sollte man gewarnt sein, dass das Buch nichts beschönigt und insbesondere die Verhältnisse in Theresienstadt und Auschwitz in seiner ganzen Brutalität darstellt. Das stimmige Buchcover mit Wiener Prater im Hintergrund und Jagdbombern im Anflug ist treffend gewählt und fungiert zusammen mit dem Buchtitel, fast schon als eine Art Zusammenfassung des Buches. Die Hörbuchvariante wird darüber hinaus ganz hervorragend, den jeweiligen Rollen angepasst, von Fritzi Haberlandt, Julian Greis, Walter Kreye und Friedhelm Ptok gesprochen.

Fazit: Liz Kessler ist mit „Als die Welt uns gehörte“ ein richtig großes Werk gelungen, welches Nazi-Deutschland objektiv und schonungslos beschreibt, wie man dies auf solch emotional packende Art bislang nur ganz selten erlebt hat. Jeder, ob nun jung oder alt, sollte dieses Buch gelesen haben, welches sich meines Erachtens auch sehr gut als Pflichtlektüre und Diskussionsstoff zur Aufarbeitung dieser Epoche der Deutschen Geschichte in der schulischen Mittel- bis Oberstufe eignen würde. Ganz besonders ist es all jenen zu empfehlen, die diese Zeit mit all seinem Elend am liebsten leugnen und die Existenz von Arbeits- und Konzentrationslagern bestreiten. Sehr nachdenklich und fast schon ein wenig verstört lässt es den Leser zurück, gerade dann, wenn sich die drei Freunde an das Foto und den Tag auf dem Wiener Prater zurück erinnern. Der Roman endet schließlich mit Leos Worten: »Also gut«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Hier ist meine Geschichte. Sie beginnt vor langer Zeit, auf einem Rummelplatz in Wien im Jahr 1936 ...« Ein „Chapeau“ an die Adresse der Autorin, der hier wirklich ein meisterhaftes Buch geglückt ist, das tief unter die Haut geht - ganz besonders in Zeiten, in denen einmal mehr ein zu mächtig gewordener Politiker glaubt, verlorenes Kolonialterritorium wieder erobern zu müssen und damit unser aller Frieden in Europa und der Welt aufs Spiel setzt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.06.2022

Emotionaler Strudel über die deutschen Schicksalsjahre 1936 bis 1945

Als die Welt uns gehörte
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„Als die Welt uns gehörte“ von Liz Kessler ist ein Buch der Gattung Antikriegsbuch und ist nicht nur ein interessanter und gelungener Historischer Roman, sondern ein wirklich brillantes Werk, welches über ...

„Als die Welt uns gehörte“ von Liz Kessler ist ein Buch der Gattung Antikriegsbuch und ist nicht nur ein interessanter und gelungener Historischer Roman, sondern ein wirklich brillantes Werk, welches über die Schicksalsjahre 1936 bis 1945 berichtet und den Leser auf eine emotionale Achterbahnfahrt mit nimmt und ihn immer wieder schockiert zurück lässt.

„Ich konnte die ganze Welt sehen! Oder zumindest ganz Wien, und das war meine Welt. Meine zwei besten Freunde, Max und Elsa, standen neben mir und hatten die Gesichter wie ich an die Scheibe gedrückt.“ So beginnt aus Sicht von Leo die auf Tatsachen beruhende Geschichte dreier Kinder (Großvater und Eltern der Autorin hatten dabei Pate gestanden), die dank Max‘ Vater einen ihrer schönsten Tage auf dem Wiener Prater verbringen dürfen. Höhepunkt ist dabei die Fahrt mit dem Riesenrad. Und da der Vater von Max Fotograf ist, muss er natürlich Erinnerungsfotos schießen, von denen jedes der Kinder einen Abzug erhält. Max stolpert zudem bei dieser Fahrt über die Beine einer Frau, was sich im weiteren Verlauf noch als schicksalsträchtig erweisen wird. Die drei Freunde sind sich einig, dass sie immer zusammenbleiben werden, und Elsa, die sich zwischen Max und Leo niemals entscheiden könnte, fasst den Entschluss, später beide heiraten zu wollen. All das passiert im Jahre 1936, als das Leben der drei noch von kindlicher Naivität geprägt ist … noch! Doch dann erfolgt im März 1938 Österreichs „Anschluss“ an das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich und die Welt der drei Freunde wird aus den Angeln gehoben und sich schnell und überaus gewaltig verändern. Von einem auf den nächsten Tag entsteht in Wien ein Judenhass, bei der Menschen enteignet, misshandelt, gefangen genommen und aufs äußerste gedemütigt werden. Als die ersten Vorboten dessen bekannt werden, flieht Elsas Familie wegen ihres jüdischen Hintergrunds in die Tschechoslowakei - nicht die beste Wahl, da dem Nazi-Regime das im Vorjahr infolge des Münchner Abkommens bereits an Deutschland abgetretene Sudetenland alleine nicht ausreicht und die Wehrmacht bekanntermaßen 1939 schließlich in der Tschechoslowakei einmarschierte. Leo und seine Mutter, die ebenfalls jüdische Wurzeln haben, fliehen erst, als der Vater von der SS bereits abtransportiert wurde. Der Vater von Max hingegen ist Arier durch und durch und steigt unter dem Nazi-Regime immer weiter auf, erklimmt mit der Zeit immer höhere Stufen auf der Karriereleiter und sein Sohn beginnt sich immer mehr an ihm zu orientieren und seine Freunde nahezu zu vergessen. Bis zum bitteren Ende, werden die Protagonisten allerdings immer wieder von einander hören, über einander nachdenken oder sich gar über den Weg laufen. Wichtigstes Bindeglied bleibt dabei stets das Foto vom Praterbesuch. Manch einer mag diese Situationen als konstruiert oder unrealistisch empfinden, für meinen Geschmack spielt das für die Handlung selbst allerdings keine relevante Rolle – vielmehr schafft die Autorin damit eine Atmosphäre, bei der sie den Leser immer tiefer in die Gefühlswelt der Hauptcharaktere des Buches mit hinein zieht.

Wahnsinnig mitreißend schreibt Liz Kessler über das Leben der Protagonisten. Sie verzichtet darauf minutiös über die einzelnen militärischen Ereignisse dieser Zeit zu berichten und konzentriert sich hier auf die wesentlichen politischen Entwicklungen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Auswirkungen auf die Menschen im Dritten Reich. Sehr gut wird nachvollziehbar, was sich zu jener Zeit in Deutschland zugetragen hat – der Leser wird hier regelrecht in einen emotionalen Abwärtsstrudel mit hinein gerissen. Oft bleibt er dabei schockiert und emotional aufgewühlt in einer unerklärbaren Starre verharrend, da es einem nicht nachvollziehbar erscheint, wie Menschen einander solche Dinge antun können und kaum jemand einschreitet, sondern eine gewaltige Mehrheit einfach nur mit dem Strom schwimmt. Vieles davon mag der ein oder andere noch von den erinnerten Erzählungen der Eltern oder Großeltern kennen, deren Verwandten und Bekannten oftmals das gesamte Spektrum von SS-Mitgliedern bis zu Widerstandskämpfern abdeckte. Liz Kessler vermag es, kontrastreich all die unterschiedlichen Sichtweisen dem Leser zu transportieren und ihn tief in den Bann des Buches hinein zu ziehen. Nur ganz selten habe ich ein Buch gelesen, welches mich emotional so sehr mitgerissen und gleichzeitig mit seiner gesamten Tragweite so bewegt und aufgewühlt hat – vergleichbar war das für mich nur mit dem Moment, als ich damals nach dem Film „Schindlers Liste“ schockiert aus dem Kino kam und keiner mehr etwas zu sagen wusste oder sagen wollte.

Deklariert als Kinder- und Jugendbuch, würde ich es für Jugendliche unter 14-15 Jahren sicherlich nicht empfehlen wollen, dafür aber allen Erwachsenen ans Herz legen, die bereits viel über die deutsche Nazi-Ära gehört haben und die gesamte emotionale Palette an Eindrücken jener Zeit hautnah erfahren und nachvollziehen möchten. Sehr bildhaft führt die Autorin dem Leser die Geschehnisse dieser Zeitspanne vor Augen. Darüber hinaus sollte man gewarnt sein, dass das Buch nichts beschönigt und insbesondere die Verhältnisse in Theresienstadt und Auschwitz in seiner ganzen Brutalität darstellt. Das stimmige Buchcover mit Wiener Prater im Hintergrund und Jagdbombern im Anflug ist treffend gewählt und fungiert zusammen mit dem Buchtitel, fast schon als eine Art Zusammenfassung des Buches.

Fazit: Liz Kessler ist mit „Als die Welt uns gehörte“ ein richtig großes Werk gelungen, welches Nazi-Deutschland objektiv und schonungslos beschreibt, wie man dies auf solch emotional packende Art bislang nur ganz selten erlebt hat. Jeder, ob nun jung oder alt, sollte dieses Buch gelesen haben, welches sich meines Erachtens auch sehr gut als Pflichtlektüre und Diskussionsstoff zur Aufarbeitung dieser Epoche der Deutschen Geschichte in der schulischen Mittel- bis Oberstufe eignen würde. Ganz besonders ist es all jenen zu empfehlen, die diese Zeit mit all seinem Elend am liebsten leugnen und die Existenz von Arbeits- und Konzentrationslagern bestreiten. Sehr nachdenklich und fast schon ein wenig verstört lässt es den Leser zurück, gerade dann, wenn sich die drei Freunde an das Foto und den Tag auf dem Wiener Prater zurück erinnern. Der Roman endet schließlich mit Leos Worten: »Also gut«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Hier ist meine Geschichte. Sie beginnt vor langer Zeit, auf einem Rummelplatz in Wien im Jahr 1936 ...« Ein „Chapeau“ an die Adresse der Autorin, der hier wirklich ein meisterhaftes Buch geglückt ist, das tief unter die Haut geht - ganz besonders in Zeiten, in denen einmal mehr ein zu mächtig gewordener Politiker glaubt, verlorenes Kolonialterritorium wieder erobern zu müssen und damit unser aller Frieden in Europa und der Welt aufs Spiel setzt.

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Veröffentlicht am 12.06.2022

Sehr gelungene, objektive Analyse des Ukraine-Kriegs und der Frage, wie Europa in diese Situation geraten konnte

Zeitenwende
4

„Zeitenwende - Putins Krieg und die Folgen“ von Rüdiger von Fritsch ist ein großartiges Buch über die Ursachen, die Entstehung und den bisherigen Verlauf des Ukraine-Kriegs und gibt darüber hinaus sogar ...

„Zeitenwende - Putins Krieg und die Folgen“ von Rüdiger von Fritsch ist ein großartiges Buch über die Ursachen, die Entstehung und den bisherigen Verlauf des Ukraine-Kriegs und gibt darüber hinaus sogar noch einen Ausblick wohin das Ganze in Europa und weltpolitisch führen könnte.

Der Autor ist vom Fach und als ehemaliger Botschafter in Moskau und Warschau einer der ganz wenigen echten Experten, wenn es um den Kreml, Russland und insbesondere um eine realistische Einschätzung zu Putin und seinen Plänen geht. Rüdiger von Fritsch gibt sich dabei nicht damit zufrieden, nur die Wochen vor dem Krieg zu beschreiben. Vielmehr analysiert er sehr präzise, wie Russland aus seiner Historie heraus in einer Schwächephase die ehemaligen Kolonien verloren hat und Putin diese nun wieder erobern möchte. Vieles davon geht dabei bis zu den Ursprüngen der Rus zurück und „der kleine Bruder“ Ukraine gehört nach Putins Lesart einfach zu Russland dazu. Der Autor erklärt ferner sehr detailliert, wie sich bereits 2014 die Bedingungen im Krim-Krieg und im Donbass zugespitzt und eskaliert haben bzw. von russischer Seite ganz bewusst eskaliert wurden. Auch weist von Fritsch mehrfach darauf hin, dass es in der westlichen Welt einen großen Unterschied macht, ob sich die NATO den ehemaligen GUS-Staaten anbietet, oder ob diese Staaten bei der NATO um Schutz vor Russland bitten. Darüber hinaus wird mit Mythen aufgeräut, wie beispielsweise, dass die NATO versprochen habe, sich niemals nach Osten hin erweitern zu wollen. Ganz offensichtlich hat Russland lange Zeit kein Problem dabei im Falle von u.a. Polen, Tschechien, Ungarn oder der baltischen Staaten gesehen, fühlt sich nun aber bei der Frage, ob die Ukraine bei der NATO aufgenommen werden könnte, bedroht. Rückwirkend und völlig ohne erhobenen Zeigefinger legt Rüdiger von Fritsch offen, wie Europa die Zeichen, die eindeutig auf Krieg hindeuteten, hätte erkennen können – obgleich jeder, inklusive des Autors selbst, diese nicht wirklich auf dem Schirm hatte, sie ignoriert hat oder sie ignorieren wollte. Da auch dem Autor der Ausgang des Krieges nicht bekannt ist, diskutiert er verschiedene Szenarien und erläutert die Konsequenzen des jeweiligen Ausgangs.

Fazit: Mit „Zeitenwende“ hat Rüdiger von Fritsch in sehr kurzer Zeit (das Manuskript hatte bereits im April vorgelegen) ein großartiges Buch über Ursachen und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs verfasst. Er geht dabei auf viele Details ein und bespricht auch Lösungswege, wie – je nach unterschiedlichem Ausgang - nach dem Krieg vorgegangen werden könnte. Zusätzlich zur historischen Komponente geht er auch sehr deutlich darauf ein, wie wirksam Sanktionen gegen Russland sich auswirken können. Mir persönlich hat das Buch sehr gut gefallen und ich kann es jedem politisch Interessierten nur wärmstens empfehlen, um sich eine eigene Meinung bilden oder aktiv bei Diskussionen mitsprechen zu können. Auch wer glauben sollte, sich bei dieser Thematik bereits recht gut auszukennen, wird eines besseren belehrt und eine enorme Erweiterung seines Wissenshorizonts zu aktuellen und geschichtlichen Fragen in Bezug auf Russland und Putin verspüren: Ein großartiges Buch, welches unbedingt gelesen werden sollte.

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Veröffentlicht am 10.06.2022

Karikatur eines (erfolgreichen) Politikers

Strömung
3

„Strömung“ ist die Romanpremiere von Jakob Augstein. Der Autor selbst ist mittlerweile ein bekannter und bewährter Journalist sowie Sachbuchautor und als rechtlicher Sohn des ehemaligen „Spiegel“-Gründers ...

„Strömung“ ist die Romanpremiere von Jakob Augstein. Der Autor selbst ist mittlerweile ein bekannter und bewährter Journalist sowie Sachbuchautor und als rechtlicher Sohn des ehemaligen „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein und leiblicher Sohn des Schriftstellers Martin Walser und der Übersetzerin Maria Carlsson lasten die Erwartungen natürlich ganz besonders hoch … und Jakob Augstein macht das mit seinem Erstlingswerk richtig gut. „Strömung“ ist kein Werk im Stile Heinrich Bölls, Thomas Manns oder Günter Grass‘ - den Literaturnobelpreis sollte man also nicht unbedingt im Blick haben, obwohl der Roman sprachlich schon eine ganze Menge hergibt. Es handelt sich ebenso wenig um einen politisch autobiografischen oder Schlüsselroman, und dennoch geht es um das Leben des (fiktiven) Politikers Franz Xaver Misslinger.

Dessen Karriere nimmt zu Beginn des neue Jahrtausends so richtig Fahrt auf, nachdem er sich - als bei den Klassenkameraden nicht gerade sonderlich beliebtes und ziemlich unsportliches Kind, so irgendwie trickreich durchs Leben geboxt hat, und er schließlich in der Person des „Walter“, einem ehemaligen Spitzenpolitiker, seinen großen Unterstützer gefunden hat. Mitreißende Reden halten, ja das kann Franz Xaver Misslinger so exzellent wie kaum ein zweiter und aus dem Mangel seines Namens formt er einen kernigen Slogan „Mein Name ist Franz-Xaver Misslinger und bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf.“, mit welchen er typischerweise sich selbst vorstellt. Sein Weg scheint bereits vorgezeichnet, hin zur Parteispitze einer freiheitlichen, demokratischen Partei (durch die Erwähnung des Dreikönigstreffens wird sie eindeutig als die FDP entlarvt) zu zeigen. Um für den entscheidenden Parteitag „die ultimative“ Rede entwerfen zu können, gönnt sich Misslinger eine inspirierende Auszeit in den USA, der Wiege der Freiheit und der Demokratie, bei der nach seiner Lesart auch seine Ahnen, die Angeln, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Und da es mit seiner Ehe immer weiter bergab geht, nimmt er seine jugendliche Tochter, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht und viel mehr in der Realität lebt als Misslinger, mit auf diese Reise. Wie fast schon zu erwarten, reden die beiden von Anfang an komplett aneinander vorbei.

Und so erkennt der Leser recht schnell, dass Franz Xaver Misslinger tief in seiner ganz eigenen Welt gefangen scheint, entfremdet vom normalen Menschen, vom Wähler, selbst von seiner Familie. Er geht komplett auf in der Welt der Floskeln, bei denen mit vielen Worten, ganz wenig transportiert wird; er versucht andere zu belehren und wundert sich dabei, wie es seiner Frau und seiner Tochter eindrucksvoll gelingt, komplexe Sachverhalte informativ in nur wenige Worte zu packen. Ablenkung verschaffen Franz Xaver Misslinger unter dem Decknamen Bruno Bolognese u.a. heimliche Sex-Chats. Dabei hat es ihm auf seiner Amerikareise ganz besonders Arta Demirovic, die ihm aufreizende Bilder von sich schickt, angetan. Interessant wird es, wenn Misslinger parallel zu Telefonaten und Gesprächen mit der Tochter, bei Chats mit seiner Frau und Frau Demirovic die Adressaten verwechselt.

So schafft Jakob Augstein also ein sprachlich außerordentlich gefälliges und politisch völlig überzeichnetes Bild des Franz Xaver Misslingers zu entwerfen, bei dem der Protagonisten als Karikatur oder fast schon als Persiflage eines Spitzenpolitikers daher kommt. Ohne dass sich der Leser mit Misslinger auch nur im entferntesten identifizieren könnte, gelingt es Augstein eine Atmosphäre zu kreieren, bei der man einerseits zwar Abneigung gegen Misslinger hegt, andererseits aber durchaus auch Mitleid für den Menschen empfindet, da dieser gar nicht mehr erkennen kann, wie nah er sich am Abgrund befindet.

Fazit: Jakob Augstein hat bei seinem Debüt einen sprachlich sehr schönen und ausgereiften Roman über einen Spitzenpolitiker geschrieben, dessen Hauptcharakter derart überzeichnet wurde, dass es Lesern, denen Ironie und Sarkasmus gefällt, Spaß machen muss „Strömung“ zu lesen. Sicherlich mögen ihm ganz kritische Stimmen vorwerfen, dass Augstein dabei so weit geht, dass er die Politik gewissermaßen vorführen möchte und dass die Handlung des Buches insgesamt eigentlich nirgendwo hinführt. Mir persönlich hingegen hat das Buch gerade aufgrund seiner ironischen Überzeichnung und dadurch dass erwartete Vorurteile gegen die Politik bedient werden, sehr gut gefallen. Als politisch Interessierter sollte man genügend Distanz bewahren können, um all das Lustige einer solchen Persiflage genießen zu können. Das Buchcover ist stimmig gewählt und, obwohl es vermutlich bessere Vorleser als den Buchautor geben mag, fand ich es richtig toll, dass die Hörbuchvariante als Autorenlesung von Jakob Augstein selbst gesprochen wird. In meinen Augen hat er die Bewährungsprobe seines Romandebüts hervorragend gemeistert.

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Veröffentlicht am 23.05.2022

Deep Learning“ nicht nur bei der Maschine, sondern auch beim Leser

Natürlich alles künstlich
6

Mit „Natürlich alles künstlich - Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht - KI erklärt für alle“ hat Philip Häusser ein überragendes Buch zum Thema "Künstliche Intelligenz" verfasst. Wer sich ...

Mit „Natürlich alles künstlich - Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht - KI erklärt für alle“ hat Philip Häusser ein überragendes Buch zum Thema "Künstliche Intelligenz" verfasst. Wer sich schon immer gefragt haben möchte, was unterscheidet eigentlich künstliche von realer Intelligenz und wie funktionieren eigentlich neuronale Netzwerke, sollte hier unbedingt rein schauen. Als promovierter Physiker, Wissenschaftsjournalist und auch TV-Moderator schafft es der Autor beeindruckend leicht auch komplizierte Sachverhalte verständlich darzustellen, insofern der Leser über ein gewisses naturwissenschaftliches Allgemeinverständnis verfügt.

Sehr überschaubar und gut strukturiert werden die Grundlagen der KI vermittelt und plastische Parallelen beispielsweise zum menschlichen Auge oder Gehirn gezogen. Gleichzeitig wird auch ein historischer Abriss über die Entwicklung gegeben und dargelegt, wann und wo man damals auf die Grenzen der KI gestoßen ist. Dabei wird auch auf die im Laufe der Jahre erzielten Verbesserungen der zugrunde liegenden Algorithmen eingegangen ohne, wie sonst oft üblich, auf Formeln einzugehen. Viel Wissenswertes lernt der Leser über den schwammigen Überbegriff „Künstliche Intelligenz“ und seine Untergattungen „Maschinelles Lernen“, „Neuronale Netze“ und „Deep Learning“ oder wie das Smartphone aus Filtern, die horizontale und vertikale Linien und ähnliches enthalten, im Laufe von nur weniger Layers lernen, Gesichter wiederzuerkennen oder Hunde von Katzen und Zebrastreifen von Zebras zu unterscheiden.

Für mich persönlich stellt „Natürlich alles künstlich - Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht - KI erklärt für alle“ von Philip Häusser ein sehr informatives und interessantes Buch dar, bei dem der Leser unter Benutzung der eigenen gehörig viel über über die Thematik der künstlichen Intelligenz und deren Limits lernen kann. Eine klare Empfehlung an all jene, die sich auf populärwissenschaftliche Art über KI weiterbilden möchten.

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