Emotionaler Strudel über die deutschen Schicksalsjahre 1936 bis 1945
Als die Welt uns gehörte„Als die Welt uns gehörte“ von Liz Kessler ist ein Buch der Gattung Antikriegsbuch und ist nicht nur ein interessanter und gelungener Historischer Roman, sondern ein wirklich brillantes Werk, welches über ...
„Als die Welt uns gehörte“ von Liz Kessler ist ein Buch der Gattung Antikriegsbuch und ist nicht nur ein interessanter und gelungener Historischer Roman, sondern ein wirklich brillantes Werk, welches über die Schicksalsjahre 1936 bis 1945 berichtet und den Leser auf eine emotionale Achterbahnfahrt mit nimmt und ihn immer wieder schockiert zurück lässt.
„Ich konnte die ganze Welt sehen! Oder zumindest ganz Wien, und das war meine Welt. Meine zwei besten Freunde, Max und Elsa, standen neben mir und hatten die Gesichter wie ich an die Scheibe gedrückt.“ So beginnt aus Sicht von Leo die auf Tatsachen beruhende Geschichte dreier Kinder (Großvater und Eltern der Autorin hatten dabei Pate gestanden), die dank Max‘ Vater einen ihrer schönsten Tage auf dem Wiener Prater verbringen dürfen. Höhepunkt ist dabei die Fahrt mit dem Riesenrad. Und da der Vater von Max Fotograf ist, muss er natürlich Erinnerungsfotos schießen, von denen jedes der Kinder einen Abzug erhält. Max stolpert zudem bei dieser Fahrt über die Beine einer Frau, was sich im weiteren Verlauf noch als schicksalsträchtig erweisen wird. Die drei Freunde sind sich einig, dass sie immer zusammenbleiben werden, und Elsa, die sich zwischen Max und Leo niemals entscheiden könnte, fasst den Entschluss, später beide heiraten zu wollen. All das passiert im Jahre 1936, als das Leben der drei noch von kindlicher Naivität geprägt ist … noch! Doch dann erfolgt im März 1938 Österreichs „Anschluss“ an das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich und die Welt der drei Freunde wird aus den Angeln gehoben und sich schnell und überaus gewaltig verändern. Von einem auf den nächsten Tag entsteht in Wien ein Judenhass, bei der Menschen enteignet, misshandelt, gefangen genommen und aufs äußerste gedemütigt werden. Als die ersten Vorboten dessen bekannt werden, flieht Elsas Familie wegen ihres jüdischen Hintergrunds in die Tschechoslowakei - nicht die beste Wahl, da dem Nazi-Regime das im Vorjahr infolge des Münchner Abkommens bereits an Deutschland abgetretene Sudetenland alleine nicht ausreicht und die Wehrmacht bekanntermaßen 1939 schließlich in der Tschechoslowakei einmarschierte. Leo und seine Mutter, die ebenfalls jüdische Wurzeln haben, fliehen erst, als der Vater von der SS bereits abtransportiert wurde. Der Vater von Max hingegen ist Arier durch und durch und steigt unter dem Nazi-Regime immer weiter auf, erklimmt mit der Zeit immer höhere Stufen auf der Karriereleiter und sein Sohn beginnt sich immer mehr an ihm zu orientieren und seine Freunde nahezu zu vergessen. Bis zum bitteren Ende, werden die Protagonisten allerdings immer wieder von einander hören, über einander nachdenken oder sich gar über den Weg laufen. Wichtigstes Bindeglied bleibt dabei stets das Foto vom Praterbesuch. Manch einer mag diese Situationen als konstruiert oder unrealistisch empfinden, für meinen Geschmack spielt das für die Handlung selbst allerdings keine relevante Rolle – vielmehr schafft die Autorin damit eine Atmosphäre, bei der sie den Leser immer tiefer in die Gefühlswelt der Hauptcharaktere des Buches mit hinein zieht.
Wahnsinnig mitreißend schreibt Liz Kessler über das Leben der Protagonisten. Sie verzichtet darauf minutiös über die einzelnen militärischen Ereignisse dieser Zeit zu berichten und konzentriert sich hier auf die wesentlichen politischen Entwicklungen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Auswirkungen auf die Menschen im Dritten Reich. Sehr gut wird nachvollziehbar, was sich zu jener Zeit in Deutschland zugetragen hat – der Leser wird hier regelrecht in einen emotionalen Abwärtsstrudel mit hinein gerissen. Oft bleibt er dabei schockiert und emotional aufgewühlt in einer unerklärbaren Starre verharrend, da es einem nicht nachvollziehbar erscheint, wie Menschen einander solche Dinge antun können und kaum jemand einschreitet, sondern eine gewaltige Mehrheit einfach nur mit dem Strom schwimmt. Vieles davon mag der ein oder andere noch von den erinnerten Erzählungen der Eltern oder Großeltern kennen, deren Verwandten und Bekannten oftmals das gesamte Spektrum von SS-Mitgliedern bis zu Widerstandskämpfern abdeckte. Liz Kessler vermag es, kontrastreich all die unterschiedlichen Sichtweisen dem Leser zu transportieren und ihn tief in den Bann des Buches hinein zu ziehen. Nur ganz selten habe ich ein Buch gelesen, welches mich emotional so sehr mitgerissen und gleichzeitig mit seiner gesamten Tragweite so bewegt und aufgewühlt hat – vergleichbar war das für mich nur mit dem Moment, als ich damals nach dem Film „Schindlers Liste“ schockiert aus dem Kino kam und keiner mehr etwas zu sagen wusste oder sagen wollte.
Deklariert als Kinder- und Jugendbuch, würde ich es für Jugendliche unter 14-15 Jahren sicherlich nicht empfehlen wollen, dafür aber allen Erwachsenen ans Herz legen, die bereits viel über die deutsche Nazi-Ära gehört haben und die gesamte emotionale Palette an Eindrücken jener Zeit hautnah erfahren und nachvollziehen möchten. Sehr bildhaft führt die Autorin dem Leser die Geschehnisse dieser Zeitspanne vor Augen. Darüber hinaus sollte man gewarnt sein, dass das Buch nichts beschönigt und insbesondere die Verhältnisse in Theresienstadt und Auschwitz in seiner ganzen Brutalität darstellt. Das stimmige Buchcover mit Wiener Prater im Hintergrund und Jagdbombern im Anflug ist treffend gewählt und fungiert zusammen mit dem Buchtitel, fast schon als eine Art Zusammenfassung des Buches. Die Hörbuchvariante wird darüber hinaus ganz hervorragend, den jeweiligen Rollen angepasst, von Fritzi Haberlandt, Julian Greis, Walter Kreye und Friedhelm Ptok gesprochen.
Fazit: Liz Kessler ist mit „Als die Welt uns gehörte“ ein richtig großes Werk gelungen, welches Nazi-Deutschland objektiv und schonungslos beschreibt, wie man dies auf solch emotional packende Art bislang nur ganz selten erlebt hat. Jeder, ob nun jung oder alt, sollte dieses Buch gelesen haben, welches sich meines Erachtens auch sehr gut als Pflichtlektüre und Diskussionsstoff zur Aufarbeitung dieser Epoche der Deutschen Geschichte in der schulischen Mittel- bis Oberstufe eignen würde. Ganz besonders ist es all jenen zu empfehlen, die diese Zeit mit all seinem Elend am liebsten leugnen und die Existenz von Arbeits- und Konzentrationslagern bestreiten. Sehr nachdenklich und fast schon ein wenig verstört lässt es den Leser zurück, gerade dann, wenn sich die drei Freunde an das Foto und den Tag auf dem Wiener Prater zurück erinnern. Der Roman endet schließlich mit Leos Worten: »Also gut«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Hier ist meine Geschichte. Sie beginnt vor langer Zeit, auf einem Rummelplatz in Wien im Jahr 1936 ...« Ein „Chapeau“ an die Adresse der Autorin, der hier wirklich ein meisterhaftes Buch geglückt ist, das tief unter die Haut geht - ganz besonders in Zeiten, in denen einmal mehr ein zu mächtig gewordener Politiker glaubt, verlorenes Kolonialterritorium wieder erobern zu müssen und damit unser aller Frieden in Europa und der Welt aufs Spiel setzt.