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Veröffentlicht am 04.09.2020

Wichtige Zeitgeschichte

Wuhan Diary
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Dieses Buch ist allein schon deshalb spannend und lesenswert, weil es ein Stück Zeitgeschichte abbildet, in der wir uns alle, weltweit, gerade befinden. Alles ist so frisch und - da die Corona-Pandemie ...

Dieses Buch ist allein schon deshalb spannend und lesenswert, weil es ein Stück Zeitgeschichte abbildet, in der wir uns alle, weltweit, gerade befinden. Alles ist so frisch und - da die Corona-Pandemie bekanntlich in Wuhan ihren Anfang nahm und diese Stadt uns entsprechend ein paar Monate voraus ist - sind viele Fragen und Themen, die hier zur Sprache kommen nach wie vor relevant, auch für uns westliche Länder.

Mehr als zwei Monate war Wuhan im Lockdown, und die chinesische Schriftstellerin Fang Fang hat während dieser Zeit täglich ein Online-Tagebuch geführt. Alle Einträge sind in diesem Buch gesammelt, übersetzt und mit (wenigen, aber ausreichenden) hilfreichen Fußnoten versehen von Michael Kahn-Ackermann. Karten der Stadt Wuhan und China, eine Chronologie der Ereignisse, ein Vorwort (wie es zum Tagebuch kam) und Nachwort (über die Stadt Wuhan) der Autorin runden das Paket ab.

Fang Fang beschreibt das Leben im Lockdown - und wir reden hier von einem mehr als zweimonatigen striktem Ausgangsverbot. Sie schildert die Stimmung der WuhanerInnen (sie ist gut vernetzt und pflegt via Internet und Telefon zahlreiche Kontakte zu Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungs- und Berufsgruppen), ihre eigenen Ängste und Sorgen und gibt auch Antworten auf die scheinbar banalsten Fragen (z.B. wie die Lebensmittelverteilung organisiert wird, wenn man seine Wohnung nicht verlassen darf, was mit den Menschen ist, die vor dem Lockdown in Wuhan gestrandet waren usw.).

Fang Fang erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Vollständigkeit - immer und immer wieder betont sie, dass sie nur ihre Sicht der Dinge erzählt ("Alles, was wir tun können, ist, zu dokumentieren."). Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, reicht ihren KritikerInnen aber lange nicht - und davon gibt es genug. Denn Fang Fang wagt etwas, das in China nicht gerne gesehen wird: Sie übt Kritik. Und zwar berechtigte; Kritik jener Art, die wir für angebracht und relativ harmlos halten, in China aber zu Shitstorm und wiederholten Löschungen ihrer Einträge geführt hat (dank des Internets und ihrer 3,5 Millionen Follower konnten die Einträge aber immer rechtzeitig weitergeleitet werden). Ihre Kritik? Nun, z.B.: Dass den Menschen zu lange die Wahrheit vorenthalten wurde (noch am 10.1. verkündete ein Funktionär, das Virus sei nicht von Mensch zu Mensch übertragbar und eindämmbar; noch am 20.1. fanden in Wuhan große, von der Stadt organisierte Feste statt - die Geburt zahlreicher Superspreader). Dass man aus dem Umgang mit SARS wenige Jahre zuvor anscheinend nichts gelernt hat (auch in Wuhan fehlte es z.B. zu Beginn an Schutzmasken, und für die Restbestände wurden geradezu astronomische Preise aufgerufen). Dass gewisse StaatsdienerInnen einfach nur stumpf Befehle ausführen ohne auf die aktuelle Situation einzugehen usw.

Alles nachvollziehbar und legitim in meinen Augen, und dennoch: Fang Fang wird angefeindet, und das nicht zu knapp, und auch darauf geht sie hier ein. Dass ihre Quellen, darunter diverses medizinisches Personal, meist anonym auftritt - wer kann es ihnen verdenken, siehe Li Wenliang? Aber auch das nehmen die KritikerInnen natürlich dankbar an (übrigens auch hier nachzuvollziehen, siehe einige der 1-Sterne-Bewertungen für dieses Buch).

Natürlich kann ich den Wahrheitsgehalt der Einträge nicht überprüfen. Aber, und das ist der "Vorteil" an der Aktualität der Thematik: Auch wir haben mittlerweile so einiges über diese Pandemie mitbekommen. Und Fang Fang will hier letztlich auch keine "neue Wahrheit" verkaufen, sondern sie dokumentiert, was die WuhanerInnen umtreibt, was sie ärgert, was sie verstört, welche Entbehrungen sie ertragen mussten, und wie sie die Hoffnung nicht verloren haben. Bemerkenswert, auf vielen Ebenen.

P.S.: Das Buch gibt es momentan nur auf deutsch und englisch - zwar hatten auch zehn chinesische Verlage Interesse bekundet, dieses auf Druck der Regierung aber wieder zurückgezogen, nachdem die VÖ in D und USA bekannt und Fang Fang als Marionette des Westens beschimpft wurde.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Interessante, spannende China-Parabel

Alles was Sie sehen ist neu
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Ein Buch, das so ganz anders war, als ich es erwartet hatte - was in diesem Fall aber nicht schlecht war. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass das fiktive Land Kirthan, in dem diese Geschichte spielt, ...

Ein Buch, das so ganz anders war, als ich es erwartet hatte - was in diesem Fall aber nicht schlecht war. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass das fiktive Land Kirthan, in dem diese Geschichte spielt, an Nordkorea angelehnt ist - tatsächlich stellte sich aber ziemlich schnell heraus, dass hier von einem "verkleideten China" die Rede ist. Außerdem dachte ich, dass die westliche Reisegruppe, die dieses Land erkundet, im Mittelpunkt des Geschehens steht - tatsächlich ist es aber der geheimnisvolle Reiseleiter Nime, anhand dessen Biographie der Weg Kirthans von einer eher dörflich geprägten Nation zu einem Handelspartner des Westens erzählt wird.

Nichtsdestotrotz beginnt die Geschichte mit den Touristen, geschildert von einer Frau, die jährlich große Urlaubsreisen mit ihrem alten Vater unternimmt. In Kirthan gibt es viel zu sehen, und Nime führt die bunt zusammen gewürfelte Gruppe an Orte, die sowohl traditionell als auch modern sind ("Alles, was Sie sehen, ist neu"). Die anderen Touris kommen nur am Rande vor, werden teilweise - wie die Erzählerin - nicht mal namentlich vorgestellt, doch Annette Pehnt verleiht ihnen mit geschickt gesetzten Charakterzügen und Beschreibungen genug Kontur. Der Westen erkundet also Kirthan, oder zumindest den Teil des Landes, den die Touristen sehen sollen. Nime hält die Gruppe nicht nur zusammen und liefert Informationen, er ist auch ein echter "Kümmerer", löst kleine und große Probleme, hat immer ein Lächeln parat und wenn er erst anfängt zu erzählen...

Dann, nach etwas einem Drittel, verlassen wir die Gruppe und die Gegenwart. Nun wird in mehreren Kapiteln die Geschichte von Nime erzählt, und zwar immer aus wechselnden Perspektiven (die ihm mal näher, mal ferner sind) und verschiedenen Zeiten. Das gibt nicht nur weitere spannende Einblicke in das Leben des enigmatischen Mannes, sondern auch in die Geschichte, die dem Aufschwung Kirthans zugrunde liegt. Ob Landflucht der "jungen Leute", die Zersplitterung von familiären Strukturen oder die Umsiedlung alter Dörfer für Bauprojekte ("Alles, was Sie sehen, ist neu"), die "schöne neue Welt" in Kirthan hat so einige Schattenseiten.

Eine interessante, spannende China-Parabel, schön geschrieben und klug konstruiert - leider hat mir am Ende dann doch irgendwas gefehlt, eine alles zusammen fassende Folgerung, ein noch stärkerer Zusammenhalt der Einzelteile. So verhält sich das Buch wie eine von Nimes Geschichten: Sie hört einfach so auf, und auf Nachfragen gibt es nur ein höfliches Lächeln.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Schock nur um des Schockens willen

Das wirkliche Leben
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Teenie-Mädchen will ihren Bruder davor bewahren, so wie ihr gewalttätiger Vater zu werden und entdeckt dabei ihre eigene Stärke - mehr muss man inhaltlich zu diesem Buch eigentlich nicht wissen. Und ja, ...

Teenie-Mädchen will ihren Bruder davor bewahren, so wie ihr gewalttätiger Vater zu werden und entdeckt dabei ihre eigene Stärke - mehr muss man inhaltlich zu diesem Buch eigentlich nicht wissen. Und ja, das Buch ist sehr explizit, was Gewalt angeht - gegen Menschen und Tiere. Trotzdem (oder dennoch?) fand ich es über weite Strecken einfach ziemlich... langweilig. Dabei hat es richtig stark begonnen, die ersten paar Kapitel schaffen gleich eine unangenehme Unwohlfühlatmosphäre - ein Buch, das packt. Dachte ich. Leider entwickelt sich der Plot nach dem schon früh eintretenden tragischem Ereignis nur sehr langsam weiter - zu langsam für ein Buch, das mit einer solchen Wucht begonnen hat.

Die Gewaltdarstellungen - ja, das sind einige und auch recht explizit. Aber das ist nichts, womit ich grundsätzlich ein Problem habe, wenn z.B. die Gewalt die Story vorantreibt oder für die Charakterzeichnung nötig ist. Hier war es mir aber oft zu willkürlich eingesetzt, und Schock nur um des Schockens willen brauche ich nicht (da fangen meine LeserIinnenmanipulationssirenen leise an zu heulen). Dabei hat das Buch durchaus einige interessante Ansätze und Gedankengänge. Vor allem die verschiedenen Ebenen, auf denen die Protagonstin versucht, sich selbst zu ermächtigen - sei es durch Bildung, sei es durch den Umgang mit ihrem pubertierenden Körper - fand ich spannend und erforschenswert. Leider blieben mir da am Ende zu viele Fragen offen. Das alles hat letztlich dazu geführt, dass ich das Buch ohne übermäßigen Enthusiasmus gelesen habe. Auch die Sprache konnte da nicht mehr viel rausholen. Nicht, dass ich zwingend literarische Finesse brauche, gerade so ein Werk lebt ja eher von direktem, "in your face"-Sprech. Doch das hat es nicht (nur), hier und da sind Metaphern eingestreut, deren Verwendung recht, nun ja, kreativ sind. Ich war mir nicht immer sicher, ob das zur jungen Erzählerin und/oder zur hier und da durchschimmernden fantastischen bzw. Märchenthematik passen sollte. Letzlich war es mir aber auch recht egal, und diese Haltung spiegelt sich dann ja auch in meiner Bewertung wider: Joa, war okay.

Querverweisliche Randnotiz: Ich habe dieses Buch und Das Holländerhaus direkt hintereinander gelesen. Beide Bücher haben ein überraschend ähnliches Grundgerüst: Geschwister, die leiden; große Schwester, kleiner Bruder; sie beschützt ihn (und sich) gegen alles Böse; Märchenmotive en masse. Wenn euch so eine Grundlage interessiert, könnt ihr es in diesen Büchern also völlig unterschiedlich umgesetzt erlesen: Entweder als episches Familiendrama (Das Holländerhaus) oder als Coming-of-Age-Pulp (Das wirkliche Leben).

Veröffentlicht am 04.09.2020

Sattes Familienepos

Das Holländerhaus
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Ach, das hat Spaß gemacht - dieses Buch ist ein richtig "sattes" Familienepos. Erzählt wird die Geschichte zweier Geschwister über fünf Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg - ich sage doch, familiär ...

Ach, das hat Spaß gemacht - dieses Buch ist ein richtig "sattes" Familienepos. Erzählt wird die Geschichte zweier Geschwister über fünf Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg - ich sage doch, familiär richtig "satt" ;) Maeve ist zu Beginn elf Jahre alt, ihr jüngerer Bruder Danny sechs. Sie wachsen mit ihrem Vater in einem riesigen, geschichtsträchtigem Gebäude auf, eben jenem Holländerhaus. Die Mutter hat die Familie verlassen - ihr Verschwinden wird über die Jahre immer wieder beherrschendes Thema bei den Geschwistern sein (ebenso wie das Haus).

Ohne Mutter (dafür mit sehr liebevollem und schön gezeichnetem Personal) im Haus hat Maeve schon früh die Rolle der Beschützerin für ihren Bruder übernommen - eine Rolle, die sie im Laufe der Jahrzehnte immer wieder unterschiedlich interpretiert. Danny ist sich seiner Rolle und der seiner Schwester bewusst, und die enge Bindung und Loyalität der Geschwister zueinander stellt sich nicht immer als gänzlich konfliktfrei dar.

Ich habe mich sehr gerne in diesem Setting aufgehalten. Die Geschichte plätschert nett dahin, und ich meine das ausschließlich positiv! Es gibt schon einige Gimmicks: Die Geschichte wird nicht gänzlich linear erzählt sondern springt zeitlich hier und dort, das Märchen-Thema von Hänsel und Gretel ist recht offensichtlich, aber dafür auch sehr charmant umgesetzt, es ist angenehm und interessant, mit Maeve und Danny zu "altern" und das Drama, die vielen tollen emotionalen Momente, können sich durchaus sehen lassen.

Was mich bei diesem Buch letztlich besonders begeistert hat, war, dass es eine TOPP 1A herrlich hassenswerte böse Stiefmutter gibt. Hach, wie lange hatte ich keinen Charakter mehr, den ich so leidenschaftlich, mit so viel Hingabe, verachten und mental ausbuhen konnte. So was muss auch mal sein, und da hat Ann Patchett hier für mich 100% ins Schwarze getroffen.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Spannende Themenauswahl, etwas lau umgesetzt

Der Empfänger
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Das Rheinland in den späten 1920er Jahren: Die Brüder Josef und Carl träumen gemeinsam davon, nach Amerika auszuwandern. Kurz vor der Abreise geschieht ein Unfall, der Carls Traum jäh zerplatzen lässt ...

Das Rheinland in den späten 1920er Jahren: Die Brüder Josef und Carl träumen gemeinsam davon, nach Amerika auszuwandern. Kurz vor der Abreise geschieht ein Unfall, der Carls Traum jäh zerplatzen lässt - Josef wandert alleine aus, Carl bleibt in Deutschland zurück. Erst 20 Jahre, eine Diktatur und einen Krieg später treffen sich die Brüder wieder. Der Konflikt ist offensichtlich: Da der eine, der seinen Traum wahr gemacht hat, seinen Bruder aber zurücklassen musste. Da der andere, der bleiben musste und weiß, dass den Bruder eigentlich keine Schild trifft.

Als wäre dieses Dilemma nicht schon groß genug, spielt natürlich auch die Zeit eine tragische Rolle - Joseph, der sich in den USA Joe nennt, gerät als Deutscher ins Visier sowohl von dortigen deutschen Nazis, die möglicherweise interne Unruhen in den Staaten herbei führen wollen, als auch vom FBI, eben weil er mit den Nazis zu sympathisieren scheint. Doch was sind Joes, dessen Leidenschaft Amateurfunken den Plot auf mehreren Ebenen voran treibt, wirkliche Beweggründe für sein Handeln - und kann er darüber eigentlich selbst bestimmen?

Ulla Lenzes Roman hat inhaltlich jede Menge spannende Ansätze zu bieten. Die Geschichte eines deutschen Exilanten in den USA vor und während des 2. Weltkrieges erschien mir inhaltlich frisch, auch die moralischen Aspekte der Brüderbeziehung fand ich vielversprechend. Und das las sich auch alles recht flott weg - dennoch blieb mir das Buch ein wenig, hm, "unnahbar".

Möglicherweise liegt die Crux in der Authentizität: Ulla Lenze hat sich von der Geschichte ihres Großonkels inspirieren lassen, ihre Mutter kommt als Tochter des Bruders in der Erzählung vor. Möglicherweise wäre hier etwas mehr Anlehnung, also mehr Fiktion, die bessere Wahl gewesen. Mir erschien einiges zu uneindeutig, zu wenig "kantig". Mag sein, dass die Geschichte einfach nicht mehr hergegeben hat, mag sein, dass die Autorin ihren Großonkel nicht zu "intim" zeichnen wollte, mag sein, dass nur ich das so empfinde. Aber leider beschlich mich eine gewisse Gleichgültigkeit, auch wenn das Buch durchaus spannende, geradezu fesselnde Momente hatte. Mir blieb zu viel im Unklaren, und zu dem sowieso schon recht gut bestückten Grundideenfundus kamen noch diverse zeitgeschichtliche Themen, die quasi nur im Vorbeigehen angeschaut wurden (z.B. die angebliche Verschwörung über die Schriftrollen von Zion.)

Das Buch hat mich an einigen Stellen an Wintermänner erinnert: Nicht nur wegen der ähnlichen thematischen Ausgangslage (zwei deutsche Brüder, die die Nazizeit und den 2. Weltkrieg getrennt und unterschiedlich erleben), sondern auch wegen der Grundsatzfragen darüber, ob es reicht, sich einfach nur als "guten Menschen" zu deklarieren und zu fühlen, oder ob dazu nicht ein bisschen mehr eigenes Engagement nötig ist. Der große Unterschied zu beiden Büchern ist natürlich die Exilantensichtweise, die Ulla Lenze ihrem titelgebenden Empfänger mit auf den Weg gibt.

Fazit: Spannende Themenauswahl, die mir in der Umsetzung hier und da zu wenig "Fleisch am Knochen" hatte.