Wichtige Zeitgeschichte
Wuhan DiaryDieses Buch ist allein schon deshalb spannend und lesenswert, weil es ein Stück Zeitgeschichte abbildet, in der wir uns alle, weltweit, gerade befinden. Alles ist so frisch und - da die Corona-Pandemie ...
Dieses Buch ist allein schon deshalb spannend und lesenswert, weil es ein Stück Zeitgeschichte abbildet, in der wir uns alle, weltweit, gerade befinden. Alles ist so frisch und - da die Corona-Pandemie bekanntlich in Wuhan ihren Anfang nahm und diese Stadt uns entsprechend ein paar Monate voraus ist - sind viele Fragen und Themen, die hier zur Sprache kommen nach wie vor relevant, auch für uns westliche Länder.
Mehr als zwei Monate war Wuhan im Lockdown, und die chinesische Schriftstellerin Fang Fang hat während dieser Zeit täglich ein Online-Tagebuch geführt. Alle Einträge sind in diesem Buch gesammelt, übersetzt und mit (wenigen, aber ausreichenden) hilfreichen Fußnoten versehen von Michael Kahn-Ackermann. Karten der Stadt Wuhan und China, eine Chronologie der Ereignisse, ein Vorwort (wie es zum Tagebuch kam) und Nachwort (über die Stadt Wuhan) der Autorin runden das Paket ab.
Fang Fang beschreibt das Leben im Lockdown - und wir reden hier von einem mehr als zweimonatigen striktem Ausgangsverbot. Sie schildert die Stimmung der WuhanerInnen (sie ist gut vernetzt und pflegt via Internet und Telefon zahlreiche Kontakte zu Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungs- und Berufsgruppen), ihre eigenen Ängste und Sorgen und gibt auch Antworten auf die scheinbar banalsten Fragen (z.B. wie die Lebensmittelverteilung organisiert wird, wenn man seine Wohnung nicht verlassen darf, was mit den Menschen ist, die vor dem Lockdown in Wuhan gestrandet waren usw.).
Fang Fang erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Vollständigkeit - immer und immer wieder betont sie, dass sie nur ihre Sicht der Dinge erzählt ("Alles, was wir tun können, ist, zu dokumentieren."). Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, reicht ihren KritikerInnen aber lange nicht - und davon gibt es genug. Denn Fang Fang wagt etwas, das in China nicht gerne gesehen wird: Sie übt Kritik. Und zwar berechtigte; Kritik jener Art, die wir für angebracht und relativ harmlos halten, in China aber zu Shitstorm und wiederholten Löschungen ihrer Einträge geführt hat (dank des Internets und ihrer 3,5 Millionen Follower konnten die Einträge aber immer rechtzeitig weitergeleitet werden). Ihre Kritik? Nun, z.B.: Dass den Menschen zu lange die Wahrheit vorenthalten wurde (noch am 10.1. verkündete ein Funktionär, das Virus sei nicht von Mensch zu Mensch übertragbar und eindämmbar; noch am 20.1. fanden in Wuhan große, von der Stadt organisierte Feste statt - die Geburt zahlreicher Superspreader). Dass man aus dem Umgang mit SARS wenige Jahre zuvor anscheinend nichts gelernt hat (auch in Wuhan fehlte es z.B. zu Beginn an Schutzmasken, und für die Restbestände wurden geradezu astronomische Preise aufgerufen). Dass gewisse StaatsdienerInnen einfach nur stumpf Befehle ausführen ohne auf die aktuelle Situation einzugehen usw.
Alles nachvollziehbar und legitim in meinen Augen, und dennoch: Fang Fang wird angefeindet, und das nicht zu knapp, und auch darauf geht sie hier ein. Dass ihre Quellen, darunter diverses medizinisches Personal, meist anonym auftritt - wer kann es ihnen verdenken, siehe Li Wenliang? Aber auch das nehmen die KritikerInnen natürlich dankbar an (übrigens auch hier nachzuvollziehen, siehe einige der 1-Sterne-Bewertungen für dieses Buch).
Natürlich kann ich den Wahrheitsgehalt der Einträge nicht überprüfen. Aber, und das ist der "Vorteil" an der Aktualität der Thematik: Auch wir haben mittlerweile so einiges über diese Pandemie mitbekommen. Und Fang Fang will hier letztlich auch keine "neue Wahrheit" verkaufen, sondern sie dokumentiert, was die WuhanerInnen umtreibt, was sie ärgert, was sie verstört, welche Entbehrungen sie ertragen mussten, und wie sie die Hoffnung nicht verloren haben. Bemerkenswert, auf vielen Ebenen.
P.S.: Das Buch gibt es momentan nur auf deutsch und englisch - zwar hatten auch zehn chinesische Verlage Interesse bekundet, dieses auf Druck der Regierung aber wieder zurückgezogen, nachdem die VÖ in D und USA bekannt und Fang Fang als Marionette des Westens beschimpft wurde.