Profilbild von StefanieFreigericht

StefanieFreigericht

Lesejury Star
offline

StefanieFreigericht ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit StefanieFreigericht über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.09.2016

Definitiv unkonventionell und spannend!

Ich töte für dich
0

Auf dem Buchdeckel wird dieses Buch als unkonventionell bezeichnet und dem würde ich absolut zustimmen – ich habe es fast in „einem Rutsch“ gelesen.

Es ist ein Buch ohne extreme Schilderung von stundenlangen ...

Auf dem Buchdeckel wird dieses Buch als unkonventionell bezeichnet und dem würde ich absolut zustimmen – ich habe es fast in „einem Rutsch“ gelesen.

Es ist ein Buch ohne extreme Schilderung von stundenlangen Folter- oder Gewaltexzessen, was ich als angenehm empfand (falls das jedoch jemand sucht, wäre er hier falsch). Der Clou der Handlung ist, dass Teile aus der Sicht eines Profikillers beschrieben werden – dieser wurde mir, auch aufgrund seines Ehrgefühls, dabei ehrlich gesagt ziemlich sympathisch. Alles in allem eine gelungene Idee mit einem völlig anderen Ansatz als sonst üblich.

Und als Denkaufgabe für diejenigen, die gerne über Hintergründe nachdenken: Die Autorin ist auch mit Sachbüchern zum Thema Mobbing vertreten – wie verhält sich Muriel im Roman, wie typisch ist dieses Verhalten – und dessen Außenwirkung – für jemanden in ihrer Situation? Meine eigene Meinung zu dieser und der aus Google gezogene Hintergrund der Autorin hatten mich nach der Lektüre noch zum Nachdenken gebracht. Was will man mehr von einem fesselnden Nachmittag?

Veröffentlicht am 15.09.2016

Das Rumänien Ceaușescus in den Achtzigern wird nachvollziehbar gemacht in starken Sätzen

Guter Mann im Mittelfeld
0

In seinem Debütroman schildert der in Rumänien geborene und bis zur Flucht im Alter von 16 Jahren dort aufgewachsene Autor Andrei Mihailescu, wie ganz normale Durchschnittsbürger, nicht die Mächtigen und ...

In seinem Debütroman schildert der in Rumänien geborene und bis zur Flucht im Alter von 16 Jahren dort aufgewachsene Autor Andrei Mihailescu, wie ganz normale Durchschnittsbürger, nicht die Mächtigen und nicht die Ärmsten, die Diktatur unter Ceaușescu erlebten.

Seine Protagonisten Stefan und Raluca stellen zwei Seiten einer Medaille dar, die – anfänglich gut integriert, er als Journalist, sie als Architektin und Ehefrau eines aufstrebenden Parteimitglieds, mit dem System in Reibung geraten. Mihailescu arbeitet anhand der Handlung überdeutlich heraus, wie leicht es war, aufgrund der großen Willkür plötzlich unter Druck zu geraten – und wie fast unmöglich, diesem standzuhalten. Der Autor lässt seine beiden Figuren aus einer Grenzsituation eine Liebesbeziehung eingehen, von der aus sich die Handlung dann rasant fortentwickelt, spannend, aber kein Krimi. Er schafft es, viel Sachinformation leicht zugänglich als Erzählung zu verarbeiten.

Der Roman präsentiert in den ersten beiden Kapiteln das gleiche Geschehen aus zwei verschiedenen Blickwinkeln – wer sich darauf einlässt, wird mit einem tiefen Einblick in das Wesen der vollständigen Kontrolle des Systems durch eine „fiktive Abmachung“ mit den Mächtigen, eine Art Schere im Kopf. Das Buch liest sich insgesamt flüssig, dieser gerade erwähnte Rücksprung wieder zurück zum Anfang hingegen empfiehlt sich aufgrund seiner Komplexität jedoch durchaus für einen vergleichenden Rückgriff auf das bereits gelesene, eine kleine Schwäche. Wer sich jedoch auf diesen Rückgriff einlässt, wird belohnt.

Das Buch hat seine Stärken vielleicht nicht in den Metaphern, aber ganz sicher entfaltet es große Bildkraft in etlichen Kernsätzen und –absätzen, die beim Lesen zu weiteren Assoziationen geradezu zwingen und dadurch die Mentalität, die Situation überdeutlich greifbar machen. So entlarvt die Einstellung von Ralucas Ehemann, die Arbeit seiner Frau als Architektin sei zu intellektuell für das proletarische Ideal, schließlich solle sie nicht den ganzen Tag auf Baustellen mit Arbeitern verbringen, die Widersprüchlichkeit der üblichen Phrasen – die Arbeiter dürften wahrlich dem zitierten Ideal entsprechen. Und wie bemerkt Stefan zu dem verbreiteten vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Partei „Wenn du hingegen denkst, du hättest mit ihnen eine Abmachung, dann sind sie in deinem Kopf" – ja, genau das gelingt dem Autor mit diesem Debüt, er gelangt direkt in den Kopf des Lesers, er macht nachdenklich – und neugierig auf mehr davon, sowohl von ihm, als auch von seinem Land. Den teils erhobenen Zeigefinger kann ich dabei sehr gut verschmerzen, da die Botschaften der Handelnden dem Leser nie moralinsauer oder herablassend übermittelt werden.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ich bin am Ende der Lektüre teils positiv überrascht, teils gespalten

Ein sterbender Mann
0

Walser erzählt von einem geplanten Selbstmord. Vorangegangen ist der Verrat der Hauptperson durch den ehemals besten Freund - wobei nicht der Verrat als ursächlich für die Suizidabsicht geschildert wird, ...

Walser erzählt von einem geplanten Selbstmord. Vorangegangen ist der Verrat der Hauptperson durch den ehemals besten Freund - wobei nicht der Verrat als ursächlich für die Suizidabsicht geschildert wird, sondern die Tatsache, dass eine Welt, in der diese Handlung an der Hauptperson Theo Schadt möglich sei, für diesen nicht mehr lebenswert bleibe – und das, obwohl dieser Verrat nicht nur die persönliche, emotionale Ebene betrifft, sondern existentiell eine bedeutende Investition und Geschäftsgründung zum weitreichenden Totalverlust führt.

Jetzt möchte ich nicht Selbstmord an sich verteufeln - ich kann durchaus tödliche Krankheiten nachvollziehen, Depressionen, die Angst vor leidvollem Sterben - hier spielt sich jedoch der Zustand des persönlichen Affronts, des schlichten Beleidigtseins sehr in den Vordergrund. Existenzängste als Grund für einen Selbstmord werden von Theo Schadt selbst bestritten. Jedoch: Auch hier war ich noch bereit, zu folgen: ich hätte noch nachvollzogen, wenn es um ein „Leiden an der Schlechtigkeit der Welt an sich“ ginge; denn wer möchte ertragen wollen, wenn es um ihn herum nur Willkür gäbe, ohne Chance des Entkommens. Dann dachte ich mir, dass es natürlich nur immer um das gehen könne, was hier der einzelne empfindet, wolle man ihm nicht auch noch seine Individualität rauben, ihm nur eine quasi gesellschaftlich konform gehende Existenz zugestehen.


Sprachlich wurde ich in das Buch hineingezogen, zum Thema passend erschienen mir sowohl Briefroman als auch Ich-Erzähler. Walser erweitert das Thema, indem er parallel mehrere Briefromane laufen lässt, und wechselt vom Ich-Erzähler über ein sehr kurzes "Du" zum "Er". Das offen erklärte Ziel ist die Distanz, und auch wenn man sich als Leser über diesen Kunstgriff als aufgeklärt empfindet, wirkte das überraschend deutlich auf mich, ich blieb weiter am Ball. Verwundert nahm ich war, dass mich einzelne Passagen durchaus köstlich amüsierten, so die Preisverleihung an den früheren Freundes als Jahrmarkt der Eitelkeiten im Literaturbetrieb inklusive einer Lesung mit, ja, pseudo-poetischen schönen Worten ohne jeglichen erkennbaren Sinn. Ich mag nicht die einzige sein, die hier an Hape Kerkelings geniales "Hurz" dachte, Sinnfreies bierernst vorgetragen vor einer Zuhörerschaft, die unbedingt einen Sinn erkennen will; oder an Loriots "Krawehl, Krawehl".



Infolge geht das Geschehen dann doch sehr in die Meta-Ebene, wird durch die Tatsache, dass der Ich-/Er-Erzähler in einem " Thread" des Briefromans wohl mit sich selbst oder dem Autor kommuniziert quasi "Meta-Meta" - hinzukommt die ständige, fast zwanghaft wirkende dreifach-Wiederholung, zum Beispiel "ja, ja, jaaaa" sowie das Stilmittel, etwas auszusprechen, wieder zurückzuziehen, ja, eine Nicht-Beachtung durch das briefliche Gegenüber eloquent einzufordern, also "denk' nicht an einen rosa Elefanten"? Das ist sprachlich meisterhaft, als Stilmittel versiert - wirkt aber auf mich gerade im mittleren Teil zunehmend ähnlich selbstverliebt wie das vorhergetragene Leiden des "Sujets". Etwas „zu Meta“.



Und dann, gerade als ich schon fast bereit war zur Kapitulation nach einer seitenlangen Schilderung über einen Traum als Fortsetzungsgeschichte, auch aufgrund der von mir als immer anstrengender empfundenen Windungen der Sprache, deren Ziel ich dabei aus den Augen verlor, wieder Kleinode, „Ums Altsein“ ebenso wie die folgende sprachliche „Entknotung“, ja, teilweise Konkretisierung. Was am Ende der Lektüre bleibt, ist das Gefühl, sprachliche Meisterschaft ebenso erlebt zu haben, wie die Fähigkeit, im gleichen Text sowohl zu amüsieren, betroffen zu machen, den Leser hineinzuziehen – oder ihn mittendrin völlig zu verlieren, zu überfrachten mit stilistischen Mitteln. Bitte, mehr Walser – aber weniger „Walser um seines Walser-Seins willen“. Ein liebender Mann oder Ein fliehendes Pferd?

Veröffentlicht am 15.09.2016

Inspector Jury – Novel 1

Inspector Jury schläft außer Haus
0

Rezension bezieht sich auf die Original-Ausgabe
"The Man with a Load of Mischief"

While enjoying his forthieth-birthday present to himself – the lecture of a precious edition of Rimbaud - at the inn “Jack ...

Rezension bezieht sich auf die Original-Ausgabe
"The Man with a Load of Mischief"

While enjoying his forthieth-birthday present to himself – the lecture of a precious edition of Rimbaud - at the inn “Jack and Hammer”, Melrose Plant also gets presented with the body of Rufus Ainsley who had spent the night at the inn until his untimely death. Just the day before, the body of equally non-local William Small had been found at “The [namegiving] Man with a Load of Mischief”.

This brings in Inspector Jury from Scotland Yard to investigate. Were the visitors perfect strangers to Long Piddleton, its inns and inhabitants? Richard Jury is talented in questioning in a way that makes people drop their veils, AND decidedly has managed to have kept his “inner child” alive which helps him along when questioning children; lovers of the more topical-oriented “The Mentalist” – TV series should enjoy him.

The inspector begins his tour around the villagers who had all been dining at the respective inns on the evenings of the murders. He is just busy talking with Melrose Plant and enjoying the latter’s keen wits when he is informed about a third murder at a third inn. Might all of this really just be a case of window-dressing? And if so, for what? When Jury, normally melancholic, falls in love at first sight with Long Pidd’s Vivian Rivington, he not only rather loses his reins as far as she is concerned – the whole case more and more becomes a personal issue. But he still will have to face the killing to continue - and stories from the past to come to light.

Martha Grimes’ writing has something old fashioned about it, some tune quite close to Agatha Christie which indulges in descriptions of a Great Britain that has been gone for some time – I can really relish this setup, cuddled up, feeling like Melrose Plant in his Northamptonshire hometown Long Piddleton’s inn Jack and Hammer with, of course, an Old Peculiar, investigating along in my imagination, but without being challenged by some harsh description of the actual procedure of the killing itself (as the more topical type of writing seems to be needing). The author goes at great lengths to create that style, using outdated vocabulary (such as dip rather than pickpocket, char for a cleaning woman) and populating her novel with the indispensable earl, vicar, village drunkard, elderly lady and so forth, despite of a setup after World War II and a begin of publishing in 1981.

As a general, I love the series as “in between” crime stories – a pleasant read, nothing to be upset upon, they kind of “ring a tune”. I would rather not read a number of them in quick succession as the general storyline would wear off. Implausibilities? I ever wonder why nobody kills “Lady” Agatha – or at least tells her off, once and forever. And how police matters may be openly discussed with a civilian (Plant) remains a secret, but that goes in line with the genre. No offence taken.

You meet up with the villagers who reappear in the sequels – yes, they are somewhat archetypical for the genre, but this IS the specific charm – like walking through a small village and meeting up with the locals. So this particular book is pretty insightful to understand any other sequel, apart from its topical story.

Veröffentlicht am 15.09.2016

(Selbst-)Lügen im menschlichen (Mit-)einander, Walser-haft dargestellt

Ohne einander
0

Der Handlungsrahmen ist einfach erzählt: Ellen und Sylvio sind verheiratet, Sylvi ist die quasi erwachsene gemeinsame Tochter. Für einen Seitensprung von Sylvio revanchierte sich Ellen, ihr (Ex-)Liebhaber ...

Der Handlungsrahmen ist einfach erzählt: Ellen und Sylvio sind verheiratet, Sylvi ist die quasi erwachsene gemeinsame Tochter. Für einen Seitensprung von Sylvio revanchierte sich Ellen, ihr (Ex-)Liebhaber lebt jetzt mit dessen (Ex-)Geliebter zusammen.
Das Buch beschäftigt sich mit der Klärung dieser Handlung, den Motiven, Beweggründen, Motiven, Auswirkungen,…

In „Ohne einander“ schreibt Walser in drei Kapiteln aus der Sicht von drei seiner Hauptpersonen, Ellen, Syli und Sylvio, und stellt dabei die teil-überlappende Handlung aus unterschiedlichen Perspektiven dar, teils setzt er die Handlung zeitlich voranschreitend fort.
Ich hatte das Buch vor langen Jahren erworben und beiseite gelegt, ich war damals schlicht zu jung für dieses Buch – und ohne jegliche „Walser-Erfahrung“.
Mit inzwischen vier von mir gelesenen Werken empfehle ich aus ganz persönlicher Sicht den (Neu-)„Einstieg“ mit „Ein fliehendes Pferd“ – eine (naturgemäß kurze) Novelle; tatsächlich ist Walser nicht ganz einfach zu lesen, wenn man Walser nicht kennt, ihn als nicht „Walser-vorbelasteter“ Leser liest. Andere empfehlen hier „Ehen in Philippsburg“, das jedoch vorerst nur auf meiner Wunschliste steht.

Zum Schneller-Lesen für Walser-Kenner; ich stelle kurz den Vorteil der vorbereitenden Lektüre dar: Walser nutzt gerne typische Stilmittel und hat bestimmte wiederkehrende Themen, beide können sich als etwas anstrengend darstellen, wenn man quasi unvorbereitet darauf stößt (Exemplar und Zitate in alter Rechtschreibung), hier nur einige:

Freude macht mir Walser mit seiner Neigung zu Wortschöpfungen oder Wort-Neu-Zusammenstellungen: Von harmlos S. 12 „Tulpennulpen“, S. 20 „Liberalist, Bestialist“ (analog zu den vorigen Nationalist, Atheist usw.), S. 22 „Nichtnachgeben“, S. 26 „Zweitagebartgesicht“ mit „Zweitagestand“ usw. bis hin zu S. 185 „Restlosverschmolzenheitsphilosophie“.


Bei wenigen Autoren finde ich ähnlich häufig Sätze zum Anstreichen oder Herausschreiben wie bei Walser, er ist einfach genial darin, in einem einzigen Satz (manchmal mit dem gängigen Nach-Satz dazu) eine universelle Aussage zu treffen oder auch mindestens nur eine wunderschöne Universal-Aussage zu einer Handlung oder einer Person im Buch:
S. 32 „Ein Alkoholiker ist eine ungeheure Steigerung dessen, was ein Mann ohnehin schon ist.“
S. 37 „Die vollkommene Niedertracht kommt nur vor, wo eine Frau gegen eine Frau agiert.“
S. 40 „Ach, jeder Mann ist ein Monologist!“
Über Ernest, Ellens Liebhaber:
S. 39 Ellens Aussage: „Wenn er [Ernest] Ellen etwas Schönes sagen wollte, redete er ja auch nur von sich.“
S. 45 „Er [Ernest] ist nie krank, aber dauernd in Behandlung.“
Über die 19jährige Tochter Sylvi:
S. 130 Ernest zu Syvli: „Sie sind nicht zu Hause in Ihrem Körper. Noch nicht.“
oder, aus Sylvis Sicht:
S. 138f. „Sie rannte dem Leben nach. Würde es nie einholen.“

Es gibt wiederkehrende Typen von Satzbau bei Walser. Eine Version ist: Ein „klassischer“ Satzbau mit Subjekt-Prädikat-Objekt, dem folgt ein Satz, dem das Verb fehlt, der auch hätte mittels eines Komma angeschlossen werden können, teils nur ein Wort.
In „Ohne einander“
z.B. S. 12, als Ellens Liebhaber Ernest zu ihr nach Hause kommen möchte: „Nach fast vier Jahren habe er wohl das Recht, ihr Kinder kennenzulernen. Den Mann lieber nicht. Aber der sei doch ohnehin nie da. Aber Sylvi und Alf. Seit Jahren rede Ellen von Sylvi und Alf. Das meiste in diesen Jahren sei unterblieben wegen Sylvi und Alf.“
Dieses Stilmittel wirkt auf den Leser drängend, die Handlung vorantreibend, unruhig, atemlos. Da die Sätze einfach bleiben, lassen sie sich meist einfach lesen – taucht das Stilmittel gehäuft auf, kann es genauso passieren, dass man als Leser einfach daran hängen bleibt wie an einem Stolperstein. Geduld!
Demgegenüber stehen kunstvolle Satzgebilde, mäandrierend, ich füge ein Beispiel ein unter dem nächsten Punkt, Themen Walsers.

Eines der wiederkehrenden Themen ist die Ablehnung des Kulturbetriebs, die Auseinandersetzung mit der medialen Öffentlichkeit (man möge nachlesen zu den Auseinandersetzungen mit Hans Magnus Enzensberger oder gar mit Marcel Reich-Ranicki):
S. 62/63: „Nur der Schwächling braucht Macht. Nur der Schwächling strebt nach Macht. …
Und er vertraue darauf, daß einer Ellen … nach mehr als zwanzig Jahren Kulturbetriebserfahrung der tobende, der auftrumpfende, der alle anderen niedermachende Schwächling nicht ganz fremd sei, denn reiner als im Kulturbetrieb manifestiere es sich nirgends, daß Schwäche, also Machtgier, also ethische Entkräftung den Psychofilz jedes Agierenden liefern. Das Allererstaunlichste: daß eine zuschauende Öffentlichkeit so tut, als glaube sie, diesem Betrieb gehe es um etwas anderes als um sich selbst.“
Die Gründe liefert er nach:
S. 74 „Einfach so böse, wie jeder andauernd gern wäre, aber er kann es sich nicht leisten, ist ja verheiratet, fest angestellt, muß sich rentenwürdig benehmen. Das hält er nur aus, wenn er die täglich in ihm produzierte Wut in den Bosheitsquanten ablassen kann, die ihm DAS [Anm. d. Verfasserin: Das Magazin, für das Ellen schreibt …oder vermutlich jegliches andere Medium] verordnet.“
Das Thema bleibt präsent im Roman, auch als die Perspektive zum Ehemann, zu Sylvio, wechselt:
S. 176 „Hielt er [Sylvio] doch die kritische Grundhaltung der Produzenten öffentlicher Meinung für Heuchelei. Selbstgerechtigkeit und Heuchelei, das war das Fundament der Meinungsproduktion. Je heuchlerischer, um so krasser kritisch beziehungsweise je krasser kritisch, um so heuchlerischer. Das sei ein unauflöslicher Interdependenzknoten zur Verhinderung einer Einsicht ins eigene Tun. Denn: je krasser kritisch, desto besser das eigene Gewissen, desto weniger Anlaß, Neigung, Fähigkeit zur Selbstüberprüfung. Die öffentliche Meinung als die neueste Kirche, der letzte Gott“.

Definitiv ist Walser ein Meister der Worte, ihres Gebrauchs, des Spracheinsatzes – das gestehen ihm gemeinhin auch alle Kritiker zu. Kritik erfolgt hier zumeist bezüglich seiner eindeutig vorhandenen Tendenz zum Überbordenden hierbei, wodurch dann die eigentliche Erzählung auch durchaus in den Hintergrund treten kann (die Empfehlung zum Einstieg über „Ein fliehendes Pferd“ rührt aus einer Zurückhaltung Walsers in dieser Novelle bei genau diesem möglichen Kritikpunkt, wohingegen die typischen Stilmittel und Themen brillieren dürfen. Ich hatte die Novelle eingeschoben, als ich zur Halbzeit der Lektüre von „Ein sterbender Mann“ verwirrt und zweigeteilt zu meiner Einschätzung war).

Die Walserschen Protagonisten erweisen sich (auch in diesem Roman) als zutiefst verunsichert, ihre auf das Gegenüber gerichteten Handlungen haben selten etwas zu tun mit der Person ihres Gegenüber, vielmehr mit der eigenen Wahrnehmung, der Illusion, die diese Person bei ihnen hervorruft.
S. 41 „Er [Ellens Liebhaber Ernest] rede nur soviel, weil er nicht aufhören könne, ihr ihre [Ellens] Wirkung auf ihn zu schildern. Er gebe zu, daß er sie dadurch mitreißen wolle. Da er schon nicht im Stande sei, sie zu begeistern, sie hinzureißen, wolle er eben dadurch, daß er sie ihre Wirkung auf ihn erleben lasse, sie von sich selber hinreißen lassen.
Obwohl sie Angst hatte und vorsichtig sein wollte, war sie dann doch hingerissen gewesen. Von ihm. Vielleicht doch von ihrer Wirkung auf ihn.“
S. 83 (aus Sicht Ellens) „Er [ihr Liebhaber Ernest] ist eine Aussicht. Die einzige. Nur weil er eine Aussicht ist, liebst du ihn. Nur ein Mann kann auf die Idee verfallen, man liebe ihn um seinetwillen.“
S. 119 (im Kapitel Sylvi; über ihren Vater) „ Dieser Schwätzer! Dieser Dekorateur! Dieser Schaumschläger, Wortkonditor, Lügenbold!“

Mein Fazit? Gewappnet mit einem rudimentären Vorwissen über Walser lässt sich dieser Roman schlicht und einfach genießen, sowohl hinsichtlich des Sprachgebrauchs als der Bonmots. Faszinierend, dass sich eine Rezension samt Inhaltsüberblick an diesen entlanghangeln kann! Ausschweifender als „Ein fliehendes Pferd“, dafür mit mehr Sprachschätzen, jedoch deutlich zielstrebiger und am Leser orientierter als „Ein sterbender Mann“, darf man sich als Leser durchaus verstören lassen von Erkenntnissen darüber, wie furchtbar verlogen - auch gegenüber sich selbst Menschen in beruflichen und privaten Beziehungen interagieren – und kommt dabei vielleicht auch auf die eine oder andere unangenehme Gemeinsamkeit mit sich selbst.