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Veröffentlicht am 17.02.2018

Ungeschönt, real und berührend!

Traumsammler
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Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the ...

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the Mountains Echoed
Preis: 9,99€ (Kindle-Edition)
12€ (Gebundene Ausgabe)
10,95€ (Taschenbuch)


Inhalt:

"Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht."


In ›Traumsammler‹ erzählt Khaled Hosseini die bewegende Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf. Pari ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies, sondern die herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt führt und in seiner emotionalen Intensität und Erzählkunst neue Maßstäbe setzt. Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor.


Bewertung:

"Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht."

Das ist mein erstes Buch von Khaled Hosseini und nach diesem werde ich unbedingt alle vorhergegangen und zukünftigen Lesen! Ich habe es noch nie erlebt, wie ein Autor auf so sensible und einfühlsame Art und Weise ein solch komplexes Konstrukt aus Handlungssträngen unter Kontrolle halten kann. Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt von der Intensität mit der Lebenssinnsuche, Familiengeschichte und afghanischer Realität hier rübergebracht werden.


"Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen."
-Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert -


Streng genommen sind das nicht wirklich die ersten Worte dieses Romans sondern nur ein vorangestelltes Zitat eines Gedichts von Rumi, dem wohl bedeutendsten arabischen Dichters, dieses Zitat passt aber so unwahrscheinlich gut auf diese Geschichte, dass ich es unbedingt anführen musste. Die wirklichen ersten Sätze stammen von Vater Saboor, der seinen zwei Kinder Abdullah und Pari in seinem ärmlichen Haus in Shadbagh eine Geschichte erzählt. Dass dieses Märchen, in dem der arme Bauer Baba Ayub, einem Dämonen einen Sohn opfern muss, den Jüngsten, Quais, um seine restliche Familie zu retten und erst Jahre später erfährt, dass er ihm damit ein wohlhabendes und glückliches Leben ermöglicht hat, Fabel für die herzzerreißenden Trennung der beiden Geschwister wird, ist dem aufmerksamen Leser schon bald klar, bei Einschlafen wissen die beiden Geschwister aber noch nicht, auf welch einschneidende Weise diese Gutenachtgeschichte ihr Schicksal spiegelt. Nach dem "Einen Finger abschneiden, um die ganze Hand zu retten"-Motto, welches auch in dem alten Märchen dargestellt wurde, bringt Saboor seine kleine Tochter Pari gleich am nächsten Tag zu reichen Pflegeeltern nach Kabul, wo diese gegen Geld aufwachsen soll. Ob sich die beiden Geschwister jemals wieder sehen werden, bleibt unklar, während sich die Geschichte erstmal einigen Rückblenden und anderen Figuren widmet, bevor sie wieder zu dem getrennten Geschwisterpaar zurückkehrt, welches zwar nicht wie im Klapptext angekündigt Haupthandlungsstrang aber wohl der rote Faden wird.


"Bis wir alt sind.
"Uralt."
"Für immer."
"Ja, für immer."
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. "Versprichst du mir das, Abollah?"
"Für immer und ewig."


Die in 1952 beginnende Geschichte über das politisch geschundene, unterdrückte und geknebelte Afghanistan erstreckt sich über 9 Kapitel, nahezu 50 Jahren bis ins moderne 2010 und entführt ungeschönt, real und berührend zu einer Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Das Besondere, Mitreißende und zugleich Komplizierte der Geschichte sind die vielen Handlungsstränge, die kunstvoll über einige Jahrzehnte gespannt und feinfühlig miteinander verknüpft werden. Dabei erzählt das Buch weniger eine zusammenhängende Geschichte sondern präsentiert stattdessen eine Art Kurzgeschichtenreihe mit Protagonisten, deren Lebenswege sich mal mehr, mal weniger mit den Wegen anderer Protagonisten kreuzen.


"Wenn man nicht weiß, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat, kommt einem das Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat."


Auch wenn es durch die vielen Zeitsprünge, Erzähllücken und Charakterwechsel sehr schwer ist, der Geschichte zu folgen und ich deshalb gerade zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Plot einzusteigen, was Kritiker Hosseini immer wieder vorwerfen, habe ich sehr schnell daran Gefallen gefunden, zeitweiliger Beobachter vieler verschiedenen Schicksale zu sein und die Genialität hinter dieser Puzzle-Methode des literarischen Kennenlernens entdeckt. Durch die vielen Lücken, die man sich als Leser selbst füllen muss oder eher darf, erhält die Geschichte etwas Wahrhaftiges und jedes Mal wenn sich ein gezogener Kreis schließt und der Erzählteppich, den der Autor aus dem roten Faden webt, ein Stücken größer und stabiler wird ging mein Herz ein wenig mehr auf. Genauso sollte eine Geschichte sein!


"Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt haben. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt."


Das Setting ist dabei ebenso abwechslungsreich und bunt wie die Charaktere. Khaled Hosseini führt uns aus dem kleinen afghanischen Dorf Shadbagh in die größere Stadt Kabul, nach Paris, auf die kleine griechische Insel Tinos, nach Indien und letztendlich in die USA. Doch auch wenn der Handlungsort auch noch so weit weg von Afghanistan zu sein scheint, eine feste Verbindung zu diesem gebeutelten Land gibt es immer. An jeder Kleinigkeit, Feinheit, scheinbaren Belanglosigkeit und in jedem Nebensatz, den der Autor über dieses Land schreibt, kann man seine Liebe und Faszination für die Kultur und Landschaft und die Menschen dort ablesen. Es werden gleichsam die schönsten und hässlichsten Seiten des Heimatlandes des Autoren präsentiert, die dunkle Zeit der Invasionen der Sowjets, der Amerikaner und der Taliban findet unkommentiert und objektiv einen Platz genau wie starke Frauenfiguren, der Nationalstolz und Traditionen. Doch das Land ist mehr als nur Kulisse, es ist Ursprung und Herzstück dieser Geschichte und das konnte selbst ich spüren, die mit der arabischen Welt keinerlei Verbindung habe.


“Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das eben so langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben."


Neben der Erzählform ist vor allem noch die Erzählweise bemerkenswert. Husseini schafft es, gleichzeitig sehr still und eindringlich; distanziert und emotional; dramatisch und ruhig zu sein und sich in jeder erdenklichen Situation an die Protagonisten anzupassen. Dabei zwingt er den Leser niemals in eine bestimmte Richtung oder beantwortet wertende Fragen nach Unterlassung, Schuld, Preis oder Sühne. Stattdessen erlebt er, beobachtet, fühlt, erkennt und beschreibt, überlässt es aber dem Leser, über das Erfahrene nachzudenken und zu urteilen. Immer wieder stößt man auf kluge Dialoge und liest Sätze, die einen noch lange beschäftigen, während man dieser Geschichte folgt, die zeitweise fast ungemütlich und teilweise schwer zu ertragen ist, so viel Schmerz und Wahrheit, wie sie enthält.


"Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte. "Bruder", sagte sie, ohne sic dessen bewusst zu sein."


Vor allem jedoch die vielen Charaktere sind das Herzstück des Buches. Grade weil ich nicht genau ausmachen konnte, wer nun Protagonist und wer Nebencharakter ist, muss man jedem genau gleich viel Aufmerksamkeit schenken. Manche Lebensgeschichten werden gänzlich erzählt, andere nur ausschnitthaft, manche werden später noch einmal aufgenommen, andere tauchen auf und verschwinden wieder. Als Leser muss man den ständigen Fluss über sich ergehen lassen, auch wenn es manchmal schwer ist, sich von liebgewonnen Charakteren zu verabschieden.
Dass immer mal wieder jemand anders aus der Ich-Perspektive, als personaler Erzähler, in einem Rückblick oder als Erinnerungs- oder Briefform berichtet, ist natürlich Großteils etwas verwirrend, wenn man aber aufmerksam dabei bleibt, erhascht man immer wieder liebevolle Details und Anspielungen.


"Jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was und verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer. Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond. "Alles wird mich an dich erinnern."


Vor allem der Handlungsstrang des treuen Dieners Nabi, der dem still verliebten, introvertierten Suleiman Wahdati und seiner dramatisch modernen, wunderschönen aber rebellische Frau Nila Wahdati dient, die die sanftmütige Pari adoptiert haben und großziehen, ist mir sehr ans Herz gegangen. Unter dem Dach dieser Familie, der es nur sehr kurz vergönnt ist, in dieser Konstellation zusammen zu leben, sammelt sich im Laufe der Geschichte so viel unerwiderte Liebe, Trauer, Angst und Erinnerung an, dass ich gerne noch viel mehr über diesen Teil der Geschichte gelesen hätte. Aber das wäre natürlich schade gewesen, denn dann hätte ich weder den selbst darstellerischen Timur, den feigen Arzt Idris, die verletzte Roshi, die entstellte Thalia, den aufrechten Markos noch die selbstsüchtige Madaline kennengelernt, welche alle eigentlich viel zu tiefe Charakter sind, als dass ich sie hier mit einem mehr schlecht als recht passenden Adjektiv abfertigen könnte. Es ist ganz wundersam, wie viel Seele Hosseini seinen Figuren zuspricht und auf welche tiefgründige Art er es versteht, uns ihr Innersten darzubringen, ihre Ecken und Kanten, Runzeln und Falten wenn sie menschloch, grausam oder bemitleidenswert handeln und sie zutiefst verstanden darstellt. Leider kamen mir der verlassenen Abdullah, die gepeinigte Parwana und die hübsche aber behinderte Masooma ein wenig zu kurz.


"Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gerne nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift."


Hosseinis Schreibstil ist wie seine Erzählweise einem Chamäleon gleich: er passt sich an. Mal leuchtend poetisch, mal sparsamer und farblich gedeckt, mal ausschweifend, mal aufs Wesentliche reduziert, aber immer sehr inhaltlich direkt und sprachlich dabei wundervoll verschachtelt und durchdacht. Dabei schafft er es die Geschichte auf eine Art und Weise zu erzählen, die klar macht, dass man einem Leben lauscht, welches genauso gelebt werden muss und auch bei schwierigem Inhalt ein gutes Gefühl zu vermitteln. Vor allem das Ende rührte mich zu Tränen, auch wenn uns hier kein typisches Happy End erwartet.


"Sie war in dem Schweigen das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. (...) Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
Hoffte er."



So, jetzt bin ich endlich alles los, was mir auf dem Herzen lag und kann noch schnell das Cover besprechen Jenes gefällt mir sehr gut, da viel Gefühl darin liegt, es könnte aber meiner Meinung nach als ein wenig kitschig interpretiert werden. Die Silhouetten der beiden Kindern vor einer flachen Graslandschaft im Sonnenuntergang, von dem sich Berge abheben sind aber eigentlich das perfekte Motiv und auch die Farbgebung, die von dunkel nach orange oben in ein warmes blau übergeht, passt super. Was mich an der Gestaltung jedoch wirklich zu 100 Prozent überzeugt hat, ist der Titel "Traumsammler". Auch wenn der amerikanische Originaltitel auch schön klingt finde ich, dass der der deutschen Aufgabe noch einmal ein i-Pünktchen obendrauf setzt! Denn das Buch ist wirklich eine Ansammlung von kurzen Episoden, von Träumen, die Khaled Hosseini wunderbar hier eingesammelt und in Buchform verpackt hat, sowie es im Buch Pari mit den Träume ihres Vaters tut.

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat:

"Pari", sagte sie. "Ja?" Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. "Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat?", fragte sie."


Fazit:

Einfach nur wow! Eine intensive, emotionale, mitreißende Geschichte über Afghanistan und eine Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen.

Veröffentlicht am 17.02.2018

Ungeschönt, real und berührend!

Traumsammler
0

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the ...

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the Mountains Echoed
Preis: 9,99€ (Kindle-Edition)
12€ (Gebundene Ausgabe)
10,95€ (Taschenbuch)


Inhalt:

"Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht."


In ›Traumsammler‹ erzählt Khaled Hosseini die bewegende Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf. Pari ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies, sondern die herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt führt und in seiner emotionalen Intensität und Erzählkunst neue Maßstäbe setzt. Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor.


Bewertung:

"Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht."

Das ist mein erstes Buch von Khaled Hosseini und nach diesem werde ich unbedingt alle vorhergegangen und zukünftigen Lesen! Ich habe es noch nie erlebt, wie ein Autor auf so sensible und einfühlsame Art und Weise ein solch komplexes Konstrukt aus Handlungssträngen unter Kontrolle halten kann. Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt von der Intensität mit der Lebenssinnsuche, Familiengeschichte und afghanischer Realität hier rübergebracht werden.


"Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen."
-Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert -


Streng genommen sind das nicht wirklich die ersten Worte dieses Romans sondern nur ein vorangestelltes Zitat eines Gedichts von Rumi, dem wohl bedeutendsten arabischen Dichters, dieses Zitat passt aber so unwahrscheinlich gut auf diese Geschichte, dass ich es unbedingt anführen musste. Die wirklichen ersten Sätze stammen von Vater Saboor, der seinen zwei Kinder Abdullah und Pari in seinem ärmlichen Haus in Shadbagh eine Geschichte erzählt. Dass dieses Märchen, in dem der arme Bauer Baba Ayub, einem Dämonen einen Sohn opfern muss, den Jüngsten, Quais, um seine restliche Familie zu retten und erst Jahre später erfährt, dass er ihm damit ein wohlhabendes und glückliches Leben ermöglicht hat, Fabel für die herzzerreißenden Trennung der beiden Geschwister wird, ist dem aufmerksamen Leser schon bald klar, bei Einschlafen wissen die beiden Geschwister aber noch nicht, auf welch einschneidende Weise diese Gutenachtgeschichte ihr Schicksal spiegelt. Nach dem "Einen Finger abschneiden, um die ganze Hand zu retten"-Motto, welches auch in dem alten Märchen dargestellt wurde, bringt Saboor seine kleine Tochter Pari gleich am nächsten Tag zu reichen Pflegeeltern nach Kabul, wo diese gegen Geld aufwachsen soll. Ob sich die beiden Geschwister jemals wieder sehen werden, bleibt unklar, während sich die Geschichte erstmal einigen Rückblenden und anderen Figuren widmet, bevor sie wieder zu dem getrennten Geschwisterpaar zurückkehrt, welches zwar nicht wie im Klapptext angekündigt Haupthandlungsstrang aber wohl der rote Faden wird.


"Bis wir alt sind.
"Uralt."
"Für immer."
"Ja, für immer."
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. "Versprichst du mir das, Abollah?"
"Für immer und ewig."


Die in 1952 beginnende Geschichte über das politisch geschundene, unterdrückte und geknebelte Afghanistan erstreckt sich über 9 Kapitel, nahezu 50 Jahren bis ins moderne 2010 und entführt ungeschönt, real und berührend zu einer Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Das Besondere, Mitreißende und zugleich Komplizierte der Geschichte sind die vielen Handlungsstränge, die kunstvoll über einige Jahrzehnte gespannt und feinfühlig miteinander verknüpft werden. Dabei erzählt das Buch weniger eine zusammenhängende Geschichte sondern präsentiert stattdessen eine Art Kurzgeschichtenreihe mit Protagonisten, deren Lebenswege sich mal mehr, mal weniger mit den Wegen anderer Protagonisten kreuzen.


"Wenn man nicht weiß, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat, kommt einem das Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat."


Auch wenn es durch die vielen Zeitsprünge, Erzähllücken und Charakterwechsel sehr schwer ist, der Geschichte zu folgen und ich deshalb gerade zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Plot einzusteigen, was Kritiker Hosseini immer wieder vorwerfen, habe ich sehr schnell daran Gefallen gefunden, zeitweiliger Beobachter vieler verschiedenen Schicksale zu sein und die Genialität hinter dieser Puzzle-Methode des literarischen Kennenlernens entdeckt. Durch die vielen Lücken, die man sich als Leser selbst füllen muss oder eher darf, erhält die Geschichte etwas Wahrhaftiges und jedes Mal wenn sich ein gezogener Kreis schließt und der Erzählteppich, den der Autor aus dem roten Faden webt, ein Stücken größer und stabiler wird ging mein Herz ein wenig mehr auf. Genauso sollte eine Geschichte sein!


"Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt haben. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt."


Das Setting ist dabei ebenso abwechslungsreich und bunt wie die Charaktere. Khaled Hosseini führt uns aus dem kleinen afghanischen Dorf Shadbagh in die größere Stadt Kabul, nach Paris, auf die kleine griechische Insel Tinos, nach Indien und letztendlich in die USA. Doch auch wenn der Handlungsort auch noch so weit weg von Afghanistan zu sein scheint, eine feste Verbindung zu diesem gebeutelten Land gibt es immer. An jeder Kleinigkeit, Feinheit, scheinbaren Belanglosigkeit und in jedem Nebensatz, den der Autor über dieses Land schreibt, kann man seine Liebe und Faszination für die Kultur und Landschaft und die Menschen dort ablesen. Es werden gleichsam die schönsten und hässlichsten Seiten des Heimatlandes des Autoren präsentiert, die dunkle Zeit der Invasionen der Sowjets, der Amerikaner und der Taliban findet unkommentiert und objektiv einen Platz genau wie starke Frauenfiguren, der Nationalstolz und Traditionen. Doch das Land ist mehr als nur Kulisse, es ist Ursprung und Herzstück dieser Geschichte und das konnte selbst ich spüren, die mit der arabischen Welt keinerlei Verbindung habe.


“Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das eben so langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben."


Neben der Erzählform ist vor allem noch die Erzählweise bemerkenswert. Husseini schafft es, gleichzeitig sehr still und eindringlich; distanziert und emotional; dramatisch und ruhig zu sein und sich in jeder erdenklichen Situation an die Protagonisten anzupassen. Dabei zwingt er den Leser niemals in eine bestimmte Richtung oder beantwortet wertende Fragen nach Unterlassung, Schuld, Preis oder Sühne. Stattdessen erlebt er, beobachtet, fühlt, erkennt und beschreibt, überlässt es aber dem Leser, über das Erfahrene nachzudenken und zu urteilen. Immer wieder stößt man auf kluge Dialoge und liest Sätze, die einen noch lange beschäftigen, während man dieser Geschichte folgt, die zeitweise fast ungemütlich und teilweise schwer zu ertragen ist, so viel Schmerz und Wahrheit, wie sie enthält.


"Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte. "Bruder", sagte sie, ohne sic dessen bewusst zu sein."


Vor allem jedoch die vielen Charaktere sind das Herzstück des Buches. Grade weil ich nicht genau ausmachen konnte, wer nun Protagonist und wer Nebencharakter ist, muss man jedem genau gleich viel Aufmerksamkeit schenken. Manche Lebensgeschichten werden gänzlich erzählt, andere nur ausschnitthaft, manche werden später noch einmal aufgenommen, andere tauchen auf und verschwinden wieder. Als Leser muss man den ständigen Fluss über sich ergehen lassen, auch wenn es manchmal schwer ist, sich von liebgewonnen Charakteren zu verabschieden.
Dass immer mal wieder jemand anders aus der Ich-Perspektive, als personaler Erzähler, in einem Rückblick oder als Erinnerungs- oder Briefform berichtet, ist natürlich Großteils etwas verwirrend, wenn man aber aufmerksam dabei bleibt, erhascht man immer wieder liebevolle Details und Anspielungen.


"Jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was und verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer. Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond. "Alles wird mich an dich erinnern."


Vor allem der Handlungsstrang des treuen Dieners Nabi, der dem still verliebten, introvertierten Suleiman Wahdati und seiner dramatisch modernen, wunderschönen aber rebellische Frau Nila Wahdati dient, die die sanftmütige Pari adoptiert haben und großziehen, ist mir sehr ans Herz gegangen. Unter dem Dach dieser Familie, der es nur sehr kurz vergönnt ist, in dieser Konstellation zusammen zu leben, sammelt sich im Laufe der Geschichte so viel unerwiderte Liebe, Trauer, Angst und Erinnerung an, dass ich gerne noch viel mehr über diesen Teil der Geschichte gelesen hätte. Aber das wäre natürlich schade gewesen, denn dann hätte ich weder den selbst darstellerischen Timur, den feigen Arzt Idris, die verletzte Roshi, die entstellte Thalia, den aufrechten Markos noch die selbstsüchtige Madaline kennengelernt, welche alle eigentlich viel zu tiefe Charakter sind, als dass ich sie hier mit einem mehr schlecht als recht passenden Adjektiv abfertigen könnte. Es ist ganz wundersam, wie viel Seele Hosseini seinen Figuren zuspricht und auf welche tiefgründige Art er es versteht, uns ihr Innersten darzubringen, ihre Ecken und Kanten, Runzeln und Falten wenn sie menschloch, grausam oder bemitleidenswert handeln und sie zutiefst verstanden darstellt. Leider kamen mir der verlassenen Abdullah, die gepeinigte Parwana und die hübsche aber behinderte Masooma ein wenig zu kurz.


"Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gerne nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift."


Hosseinis Schreibstil ist wie seine Erzählweise einem Chamäleon gleich: er passt sich an. Mal leuchtend poetisch, mal sparsamer und farblich gedeckt, mal ausschweifend, mal aufs Wesentliche reduziert, aber immer sehr inhaltlich direkt und sprachlich dabei wundervoll verschachtelt und durchdacht. Dabei schafft er es die Geschichte auf eine Art und Weise zu erzählen, die klar macht, dass man einem Leben lauscht, welches genauso gelebt werden muss und auch bei schwierigem Inhalt ein gutes Gefühl zu vermitteln. Vor allem das Ende rührte mich zu Tränen, auch wenn uns hier kein typisches Happy End erwartet.


"Sie war in dem Schweigen das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. (...) Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
Hoffte er."



So, jetzt bin ich endlich alles los, was mir auf dem Herzen lag und kann noch schnell das Cover besprechen Jenes gefällt mir sehr gut, da viel Gefühl darin liegt, es könnte aber meiner Meinung nach als ein wenig kitschig interpretiert werden. Die Silhouetten der beiden Kindern vor einer flachen Graslandschaft im Sonnenuntergang, von dem sich Berge abheben sind aber eigentlich das perfekte Motiv und auch die Farbgebung, die von dunkel nach orange oben in ein warmes blau übergeht, passt super. Was mich an der Gestaltung jedoch wirklich zu 100 Prozent überzeugt hat, ist der Titel "Traumsammler". Auch wenn der amerikanische Originaltitel auch schön klingt finde ich, dass der der deutschen Aufgabe noch einmal ein i-Pünktchen obendrauf setzt! Denn das Buch ist wirklich eine Ansammlung von kurzen Episoden, von Träumen, die Khaled Hosseini wunderbar hier eingesammelt und in Buchform verpackt hat, sowie es im Buch Pari mit den Träume ihres Vaters tut.

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat:

"Pari", sagte sie. "Ja?" Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. "Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat?", fragte sie."


Fazit:

Einfach nur wow! Eine intensive, emotionale, mitreißende Geschichte über Afghanistan und eine Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Ungeschönt, real und berührend!

Veröffentlicht am 17.02.2018

Ungeschönt, real und berührend!

Traumsammler
0

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the ...

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the Mountains Echoed
Preis: 9,99€ (Kindle-Edition)
12€ (Gebundene Ausgabe)
10,95€ (Taschenbuch)


Inhalt:

"Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht."


In ›Traumsammler‹ erzählt Khaled Hosseini die bewegende Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf. Pari ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies, sondern die herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt führt und in seiner emotionalen Intensität und Erzählkunst neue Maßstäbe setzt. Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor.


Bewertung:

"Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht."

Das ist mein erstes Buch von Khaled Hosseini und nach diesem werde ich unbedingt alle vorhergegangen und zukünftigen Lesen! Ich habe es noch nie erlebt, wie ein Autor auf so sensible und einfühlsame Art und Weise ein solch komplexes Konstrukt aus Handlungssträngen unter Kontrolle halten kann. Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt von der Intensität mit der Lebenssinnsuche, Familiengeschichte und afghanischer Realität hier rübergebracht werden.


"Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen."
-Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert -


Streng genommen sind das nicht wirklich die ersten Worte dieses Romans sondern nur ein vorangestelltes Zitat eines Gedichts von Rumi, dem wohl bedeutendsten arabischen Dichters, dieses Zitat passt aber so unwahrscheinlich gut auf diese Geschichte, dass ich es unbedingt anführen musste. Die wirklichen ersten Sätze stammen von Vater Saboor, der seinen zwei Kinder Abdullah und Pari in seinem ärmlichen Haus in Shadbagh eine Geschichte erzählt. Dass dieses Märchen, in dem der arme Bauer Baba Ayub, einem Dämonen einen Sohn opfern muss, den Jüngsten, Quais, um seine restliche Familie zu retten und erst Jahre später erfährt, dass er ihm damit ein wohlhabendes und glückliches Leben ermöglicht hat, Fabel für die herzzerreißenden Trennung der beiden Geschwister wird, ist dem aufmerksamen Leser schon bald klar, bei Einschlafen wissen die beiden Geschwister aber noch nicht, auf welch einschneidende Weise diese Gutenachtgeschichte ihr Schicksal spiegelt. Nach dem "Einen Finger abschneiden, um die ganze Hand zu retten"-Motto, welches auch in dem alten Märchen dargestellt wurde, bringt Saboor seine kleine Tochter Pari gleich am nächsten Tag zu reichen Pflegeeltern nach Kabul, wo diese gegen Geld aufwachsen soll. Ob sich die beiden Geschwister jemals wieder sehen werden, bleibt unklar, während sich die Geschichte erstmal einigen Rückblenden und anderen Figuren widmet, bevor sie wieder zu dem getrennten Geschwisterpaar zurückkehrt, welches zwar nicht wie im Klapptext angekündigt Haupthandlungsstrang aber wohl der rote Faden wird.


"Bis wir alt sind.
"Uralt."
"Für immer."
"Ja, für immer."
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. "Versprichst du mir das, Abollah?"
"Für immer und ewig."


Die in 1952 beginnende Geschichte über das politisch geschundene, unterdrückte und geknebelte Afghanistan erstreckt sich über 9 Kapitel, nahezu 50 Jahren bis ins moderne 2010 und entführt ungeschönt, real und berührend zu einer Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Das Besondere, Mitreißende und zugleich Komplizierte der Geschichte sind die vielen Handlungsstränge, die kunstvoll über einige Jahrzehnte gespannt und feinfühlig miteinander verknüpft werden. Dabei erzählt das Buch weniger eine zusammenhängende Geschichte sondern präsentiert stattdessen eine Art Kurzgeschichtenreihe mit Protagonisten, deren Lebenswege sich mal mehr, mal weniger mit den Wegen anderer Protagonisten kreuzen.


"Wenn man nicht weiß, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat, kommt einem das Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat."


Auch wenn es durch die vielen Zeitsprünge, Erzähllücken und Charakterwechsel sehr schwer ist, der Geschichte zu folgen und ich deshalb gerade zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Plot einzusteigen, was Kritiker Hosseini immer wieder vorwerfen, habe ich sehr schnell daran Gefallen gefunden, zeitweiliger Beobachter vieler verschiedenen Schicksale zu sein und die Genialität hinter dieser Puzzle-Methode des literarischen Kennenlernens entdeckt. Durch die vielen Lücken, die man sich als Leser selbst füllen muss oder eher darf, erhält die Geschichte etwas Wahrhaftiges und jedes Mal wenn sich ein gezogener Kreis schließt und der Erzählteppich, den der Autor aus dem roten Faden webt, ein Stücken größer und stabiler wird ging mein Herz ein wenig mehr auf. Genauso sollte eine Geschichte sein!


"Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt haben. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt."


Das Setting ist dabei ebenso abwechslungsreich und bunt wie die Charaktere. Khaled Hosseini führt uns aus dem kleinen afghanischen Dorf Shadbagh in die größere Stadt Kabul, nach Paris, auf die kleine griechische Insel Tinos, nach Indien und letztendlich in die USA. Doch auch wenn der Handlungsort auch noch so weit weg von Afghanistan zu sein scheint, eine feste Verbindung zu diesem gebeutelten Land gibt es immer. An jeder Kleinigkeit, Feinheit, scheinbaren Belanglosigkeit und in jedem Nebensatz, den der Autor über dieses Land schreibt, kann man seine Liebe und Faszination für die Kultur und Landschaft und die Menschen dort ablesen. Es werden gleichsam die schönsten und hässlichsten Seiten des Heimatlandes des Autoren präsentiert, die dunkle Zeit der Invasionen der Sowjets, der Amerikaner und der Taliban findet unkommentiert und objektiv einen Platz genau wie starke Frauenfiguren, der Nationalstolz und Traditionen. Doch das Land ist mehr als nur Kulisse, es ist Ursprung und Herzstück dieser Geschichte und das konnte selbst ich spüren, die mit der arabischen Welt keinerlei Verbindung habe.


“Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das eben so langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben."


Neben der Erzählform ist vor allem noch die Erzählweise bemerkenswert. Husseini schafft es, gleichzeitig sehr still und eindringlich; distanziert und emotional; dramatisch und ruhig zu sein und sich in jeder erdenklichen Situation an die Protagonisten anzupassen. Dabei zwingt er den Leser niemals in eine bestimmte Richtung oder beantwortet wertende Fragen nach Unterlassung, Schuld, Preis oder Sühne. Stattdessen erlebt er, beobachtet, fühlt, erkennt und beschreibt, überlässt es aber dem Leser, über das Erfahrene nachzudenken und zu urteilen. Immer wieder stößt man auf kluge Dialoge und liest Sätze, die einen noch lange beschäftigen, während man dieser Geschichte folgt, die zeitweise fast ungemütlich und teilweise schwer zu ertragen ist, so viel Schmerz und Wahrheit, wie sie enthält.


"Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte. "Bruder", sagte sie, ohne sic dessen bewusst zu sein."


Vor allem jedoch die vielen Charaktere sind das Herzstück des Buches. Grade weil ich nicht genau ausmachen konnte, wer nun Protagonist und wer Nebencharakter ist, muss man jedem genau gleich viel Aufmerksamkeit schenken. Manche Lebensgeschichten werden gänzlich erzählt, andere nur ausschnitthaft, manche werden später noch einmal aufgenommen, andere tauchen auf und verschwinden wieder. Als Leser muss man den ständigen Fluss über sich ergehen lassen, auch wenn es manchmal schwer ist, sich von liebgewonnen Charakteren zu verabschieden.
Dass immer mal wieder jemand anders aus der Ich-Perspektive, als personaler Erzähler, in einem Rückblick oder als Erinnerungs- oder Briefform berichtet, ist natürlich Großteils etwas verwirrend, wenn man aber aufmerksam dabei bleibt, erhascht man immer wieder liebevolle Details und Anspielungen.


"Jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was und verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer. Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond. "Alles wird mich an dich erinnern."


Vor allem der Handlungsstrang des treuen Dieners Nabi, der dem still verliebten, introvertierten Suleiman Wahdati und seiner dramatisch modernen, wunderschönen aber rebellische Frau Nila Wahdati dient, die die sanftmütige Pari adoptiert haben und großziehen, ist mir sehr ans Herz gegangen. Unter dem Dach dieser Familie, der es nur sehr kurz vergönnt ist, in dieser Konstellation zusammen zu leben, sammelt sich im Laufe der Geschichte so viel unerwiderte Liebe, Trauer, Angst und Erinnerung an, dass ich gerne noch viel mehr über diesen Teil der Geschichte gelesen hätte. Aber das wäre natürlich schade gewesen, denn dann hätte ich weder den selbst darstellerischen Timur, den feigen Arzt Idris, die verletzte Roshi, die entstellte Thalia, den aufrechten Markos noch die selbstsüchtige Madaline kennengelernt, welche alle eigentlich viel zu tiefe Charakter sind, als dass ich sie hier mit einem mehr schlecht als recht passenden Adjektiv abfertigen könnte. Es ist ganz wundersam, wie viel Seele Hosseini seinen Figuren zuspricht und auf welche tiefgründige Art er es versteht, uns ihr Innersten darzubringen, ihre Ecken und Kanten, Runzeln und Falten wenn sie menschloch, grausam oder bemitleidenswert handeln und sie zutiefst verstanden darstellt. Leider kamen mir der verlassenen Abdullah, die gepeinigte Parwana und die hübsche aber behinderte Masooma ein wenig zu kurz.


"Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gerne nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift."


Hosseinis Schreibstil ist wie seine Erzählweise einem Chamäleon gleich: er passt sich an. Mal leuchtend poetisch, mal sparsamer und farblich gedeckt, mal ausschweifend, mal aufs Wesentliche reduziert, aber immer sehr inhaltlich direkt und sprachlich dabei wundervoll verschachtelt und durchdacht. Dabei schafft er es die Geschichte auf eine Art und Weise zu erzählen, die klar macht, dass man einem Leben lauscht, welches genauso gelebt werden muss und auch bei schwierigem Inhalt ein gutes Gefühl zu vermitteln. Vor allem das Ende rührte mich zu Tränen, auch wenn uns hier kein typisches Happy End erwartet.


"Sie war in dem Schweigen das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. (...) Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
Hoffte er."



So, jetzt bin ich endlich alles los, was mir auf dem Herzen lag und kann noch schnell das Cover besprechen Jenes gefällt mir sehr gut, da viel Gefühl darin liegt, es könnte aber meiner Meinung nach als ein wenig kitschig interpretiert werden. Die Silhouetten der beiden Kindern vor einer flachen Graslandschaft im Sonnenuntergang, von dem sich Berge abheben sind aber eigentlich das perfekte Motiv und auch die Farbgebung, die von dunkel nach orange oben in ein warmes blau übergeht, passt super. Was mich an der Gestaltung jedoch wirklich zu 100 Prozent überzeugt hat, ist der Titel "Traumsammler". Auch wenn der amerikanische Originaltitel auch schön klingt finde ich, dass der der deutschen Aufgabe noch einmal ein i-Pünktchen obendrauf setzt! Denn das Buch ist wirklich eine Ansammlung von kurzen Episoden, von Träumen, die Khaled Hosseini wunderbar hier eingesammelt und in Buchform verpackt hat, sowie es im Buch Pari mit den Träume ihres Vaters tut.

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat:

"Pari", sagte sie. "Ja?" Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. "Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat?", fragte sie."


Fazit:

Einfach nur wow! Eine intensive, emotionale, mitreißende Geschichte über Afghanistan und eine Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Ungeschönt, real und berührend!

Veröffentlicht am 17.02.2018

Ungeschönt, real und berührend!

Traumsammler
0

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the ...

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the Mountains Echoed
Preis: 9,99€ (Kindle-Edition)
12€ (Gebundene Ausgabe)
10,95€ (Taschenbuch)


Inhalt:

"Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht."


In ›Traumsammler‹ erzählt Khaled Hosseini die bewegende Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf. Pari ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies, sondern die herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt führt und in seiner emotionalen Intensität und Erzählkunst neue Maßstäbe setzt. Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor.


Bewertung:

"Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht."

Das ist mein erstes Buch von Khaled Hosseini und nach diesem werde ich unbedingt alle vorhergegangen und zukünftigen Lesen! Ich habe es noch nie erlebt, wie ein Autor auf so sensible und einfühlsame Art und Weise ein solch komplexes Konstrukt aus Handlungssträngen unter Kontrolle halten kann. Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt von der Intensität mit der Lebenssinnsuche, Familiengeschichte und afghanischer Realität hier rübergebracht werden.


"Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen."
-Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert -


Streng genommen sind das nicht wirklich die ersten Worte dieses Romans sondern nur ein vorangestelltes Zitat eines Gedichts von Rumi, dem wohl bedeutendsten arabischen Dichters, dieses Zitat passt aber so unwahrscheinlich gut auf diese Geschichte, dass ich es unbedingt anführen musste. Die wirklichen ersten Sätze stammen von Vater Saboor, der seinen zwei Kinder Abdullah und Pari in seinem ärmlichen Haus in Shadbagh eine Geschichte erzählt. Dass dieses Märchen, in dem der arme Bauer Baba Ayub, einem Dämonen einen Sohn opfern muss, den Jüngsten, Quais, um seine restliche Familie zu retten und erst Jahre später erfährt, dass er ihm damit ein wohlhabendes und glückliches Leben ermöglicht hat, Fabel für die herzzerreißenden Trennung der beiden Geschwister wird, ist dem aufmerksamen Leser schon bald klar, bei Einschlafen wissen die beiden Geschwister aber noch nicht, auf welch einschneidende Weise diese Gutenachtgeschichte ihr Schicksal spiegelt. Nach dem "Einen Finger abschneiden, um die ganze Hand zu retten"-Motto, welches auch in dem alten Märchen dargestellt wurde, bringt Saboor seine kleine Tochter Pari gleich am nächsten Tag zu reichen Pflegeeltern nach Kabul, wo diese gegen Geld aufwachsen soll. Ob sich die beiden Geschwister jemals wieder sehen werden, bleibt unklar, während sich die Geschichte erstmal einigen Rückblenden und anderen Figuren widmet, bevor sie wieder zu dem getrennten Geschwisterpaar zurückkehrt, welches zwar nicht wie im Klapptext angekündigt Haupthandlungsstrang aber wohl der rote Faden wird.


"Bis wir alt sind.
"Uralt."
"Für immer."
"Ja, für immer."
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. "Versprichst du mir das, Abollah?"
"Für immer und ewig."


Die in 1952 beginnende Geschichte über das politisch geschundene, unterdrückte und geknebelte Afghanistan erstreckt sich über 9 Kapitel, nahezu 50 Jahren bis ins moderne 2010 und entführt ungeschönt, real und berührend zu einer Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Das Besondere, Mitreißende und zugleich Komplizierte der Geschichte sind die vielen Handlungsstränge, die kunstvoll über einige Jahrzehnte gespannt und feinfühlig miteinander verknüpft werden. Dabei erzählt das Buch weniger eine zusammenhängende Geschichte sondern präsentiert stattdessen eine Art Kurzgeschichtenreihe mit Protagonisten, deren Lebenswege sich mal mehr, mal weniger mit den Wegen anderer Protagonisten kreuzen.


"Wenn man nicht weiß, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat, kommt einem das Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat."


Auch wenn es durch die vielen Zeitsprünge, Erzähllücken und Charakterwechsel sehr schwer ist, der Geschichte zu folgen und ich deshalb gerade zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Plot einzusteigen, was Kritiker Hosseini immer wieder vorwerfen, habe ich sehr schnell daran Gefallen gefunden, zeitweiliger Beobachter vieler verschiedenen Schicksale zu sein und die Genialität hinter dieser Puzzle-Methode des literarischen Kennenlernens entdeckt. Durch die vielen Lücken, die man sich als Leser selbst füllen muss oder eher darf, erhält die Geschichte etwas Wahrhaftiges und jedes Mal wenn sich ein gezogener Kreis schließt und der Erzählteppich, den der Autor aus dem roten Faden webt, ein Stücken größer und stabiler wird ging mein Herz ein wenig mehr auf. Genauso sollte eine Geschichte sein!


"Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt haben. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt."


Das Setting ist dabei ebenso abwechslungsreich und bunt wie die Charaktere. Khaled Hosseini führt uns aus dem kleinen afghanischen Dorf Shadbagh in die größere Stadt Kabul, nach Paris, auf die kleine griechische Insel Tinos, nach Indien und letztendlich in die USA. Doch auch wenn der Handlungsort auch noch so weit weg von Afghanistan zu sein scheint, eine feste Verbindung zu diesem gebeutelten Land gibt es immer. An jeder Kleinigkeit, Feinheit, scheinbaren Belanglosigkeit und in jedem Nebensatz, den der Autor über dieses Land schreibt, kann man seine Liebe und Faszination für die Kultur und Landschaft und die Menschen dort ablesen. Es werden gleichsam die schönsten und hässlichsten Seiten des Heimatlandes des Autoren präsentiert, die dunkle Zeit der Invasionen der Sowjets, der Amerikaner und der Taliban findet unkommentiert und objektiv einen Platz genau wie starke Frauenfiguren, der Nationalstolz und Traditionen. Doch das Land ist mehr als nur Kulisse, es ist Ursprung und Herzstück dieser Geschichte und das konnte selbst ich spüren, die mit der arabischen Welt keinerlei Verbindung habe.


“Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das eben so langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben."


Neben der Erzählform ist vor allem noch die Erzählweise bemerkenswert. Husseini schafft es, gleichzeitig sehr still und eindringlich; distanziert und emotional; dramatisch und ruhig zu sein und sich in jeder erdenklichen Situation an die Protagonisten anzupassen. Dabei zwingt er den Leser niemals in eine bestimmte Richtung oder beantwortet wertende Fragen nach Unterlassung, Schuld, Preis oder Sühne. Stattdessen erlebt er, beobachtet, fühlt, erkennt und beschreibt, überlässt es aber dem Leser, über das Erfahrene nachzudenken und zu urteilen. Immer wieder stößt man auf kluge Dialoge und liest Sätze, die einen noch lange beschäftigen, während man dieser Geschichte folgt, die zeitweise fast ungemütlich und teilweise schwer zu ertragen ist, so viel Schmerz und Wahrheit, wie sie enthält.


"Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte. "Bruder", sagte sie, ohne sic dessen bewusst zu sein."


Vor allem jedoch die vielen Charaktere sind das Herzstück des Buches. Grade weil ich nicht genau ausmachen konnte, wer nun Protagonist und wer Nebencharakter ist, muss man jedem genau gleich viel Aufmerksamkeit schenken. Manche Lebensgeschichten werden gänzlich erzählt, andere nur ausschnitthaft, manche werden später noch einmal aufgenommen, andere tauchen auf und verschwinden wieder. Als Leser muss man den ständigen Fluss über sich ergehen lassen, auch wenn es manchmal schwer ist, sich von liebgewonnen Charakteren zu verabschieden.
Dass immer mal wieder jemand anders aus der Ich-Perspektive, als personaler Erzähler, in einem Rückblick oder als Erinnerungs- oder Briefform berichtet, ist natürlich Großteils etwas verwirrend, wenn man aber aufmerksam dabei bleibt, erhascht man immer wieder liebevolle Details und Anspielungen.


"Jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was und verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer. Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond. "Alles wird mich an dich erinnern."


Vor allem der Handlungsstrang des treuen Dieners Nabi, der dem still verliebten, introvertierten Suleiman Wahdati und seiner dramatisch modernen, wunderschönen aber rebellische Frau Nila Wahdati dient, die die sanftmütige Pari adoptiert haben und großziehen, ist mir sehr ans Herz gegangen. Unter dem Dach dieser Familie, der es nur sehr kurz vergönnt ist, in dieser Konstellation zusammen zu leben, sammelt sich im Laufe der Geschichte so viel unerwiderte Liebe, Trauer, Angst und Erinnerung an, dass ich gerne noch viel mehr über diesen Teil der Geschichte gelesen hätte. Aber das wäre natürlich schade gewesen, denn dann hätte ich weder den selbst darstellerischen Timur, den feigen Arzt Idris, die verletzte Roshi, die entstellte Thalia, den aufrechten Markos noch die selbstsüchtige Madaline kennengelernt, welche alle eigentlich viel zu tiefe Charakter sind, als dass ich sie hier mit einem mehr schlecht als recht passenden Adjektiv abfertigen könnte. Es ist ganz wundersam, wie viel Seele Hosseini seinen Figuren zuspricht und auf welche tiefgründige Art er es versteht, uns ihr Innersten darzubringen, ihre Ecken und Kanten, Runzeln und Falten wenn sie menschloch, grausam oder bemitleidenswert handeln und sie zutiefst verstanden darstellt. Leider kamen mir der verlassenen Abdullah, die gepeinigte Parwana und die hübsche aber behinderte Masooma ein wenig zu kurz.


"Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gerne nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift."


Hosseinis Schreibstil ist wie seine Erzählweise einem Chamäleon gleich: er passt sich an. Mal leuchtend poetisch, mal sparsamer und farblich gedeckt, mal ausschweifend, mal aufs Wesentliche reduziert, aber immer sehr inhaltlich direkt und sprachlich dabei wundervoll verschachtelt und durchdacht. Dabei schafft er es die Geschichte auf eine Art und Weise zu erzählen, die klar macht, dass man einem Leben lauscht, welches genauso gelebt werden muss und auch bei schwierigem Inhalt ein gutes Gefühl zu vermitteln. Vor allem das Ende rührte mich zu Tränen, auch wenn uns hier kein typisches Happy End erwartet.


"Sie war in dem Schweigen das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. (...) Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
Hoffte er."



So, jetzt bin ich endlich alles los, was mir auf dem Herzen lag und kann noch schnell das Cover besprechen Jenes gefällt mir sehr gut, da viel Gefühl darin liegt, es könnte aber meiner Meinung nach als ein wenig kitschig interpretiert werden. Die Silhouetten der beiden Kindern vor einer flachen Graslandschaft im Sonnenuntergang, von dem sich Berge abheben sind aber eigentlich das perfekte Motiv und auch die Farbgebung, die von dunkel nach orange oben in ein warmes blau übergeht, passt super. Was mich an der Gestaltung jedoch wirklich zu 100 Prozent überzeugt hat, ist der Titel "Traumsammler". Auch wenn der amerikanische Originaltitel auch schön klingt finde ich, dass der der deutschen Aufgabe noch einmal ein i-Pünktchen obendrauf setzt! Denn das Buch ist wirklich eine Ansammlung von kurzen Episoden, von Träumen, die Khaled Hosseini wunderbar hier eingesammelt und in Buchform verpackt hat, sowie es im Buch Pari mit den Träume ihres Vaters tut.

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat:

"Pari", sagte sie. "Ja?" Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. "Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat?", fragte sie."


Fazit:

Einfach nur wow! Eine intensive, emotionale, mitreißende Geschichte über Afghanistan und eine Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Ungeschönt, real und berührend!

Veröffentlicht am 14.02.2018

"Wir waren etwas Besonderes. Wir waren auserwählt. Wir würden die Überlebenden sein"

Gated - Die letzten 12 Tage
0

Allgemeines:

Titel: Gated - die letzten 12 Tage
Autor: Amy Christine Parker
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (1. September 2014)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3423760982
ISBN-13: 978-3423760980
ASIN: B00K0NE2BK
Vom ...

Allgemeines:

Titel: Gated - die letzten 12 Tage
Autor: Amy Christine Parker
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (1. September 2014)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3423760982
ISBN-13: 978-3423760980
ASIN: B00K0NE2BK
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 16 Jahre
Originaltitel: Gated
Seitenzahl: 336 Seiten
Preis: 14,99€ (Kindle-Edition)
16,95€ (Gebundene Ausgabe)
Weitere Bände: Gated - Sie sind überall



Inhalt:

"Wir waren etwas Besonderes. Wir waren auserwählt. Wir würden die Überlebenden sein."

Bis vor Kurzem glaubte die siebzehnjährige Lyla, die Gemeinschaft von Mandrodage Meadows, in der sie mit ihrer Familie lebt, bewahre sie vor dem Bösen in der Welt und dem bevorstehenden Weltuntergang. Dann trifft sie Cody, einen Jungen von außerhalb, und stellt fest, dass sie in Wahrheit in einem perfiden Unterdrückungssystem gefangen ist. Doch Lylas Versuch, gegen Pioneer, den ebenso charismatischen wie gefährlichen Führer der Gemeinschaft, zu rebellieren, führt zum Kampf.
Furchterregend, bedrohlich und erschreckend wahr


Bewertung:

Erster Satz: „Diesmal schießt du, um zu töten, okay?“

Mit diesem Satz beginnt "Gated", welches schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf meinem SuB liegt und von dem ich eigentlich dachte, einen düsteren Endzeit-Thriller vor mir zu haben. Gerade weil das wirkliche Thema ein wenig an meinen Apokalypsen-Erwartungen vorbeiging, konnte mich der Roman aber auf eine ganz hartnäckige Weise fesseln. Der Roman ist eine einzige klare Warnung und schildert das langsame Aufwachen eines jungen Mädchens in einer Sekte, das beginnt an den Worten ihres Anführers zu zweifeln, ihr Leben in der Gemeinschaft zu hinterfragen und versucht aus einem Leben zu entfliehen, dem sie sich nicht gewachsen fühlt.


„Sie sind meine Leute. Meine Gemeinde. Meine Familie. Ich kann mir nicht länger um den Rest der Welt Gedanken machen. Ihr Schicksal wurde vor langer Zeit entschieden – genau wie meins.“


Das Cover lässt mit der düsteren Grundstimmung und dem übernatürlich anmutenden Licht am Ende der Dunkelheit eher an ein Weltuntergangsszenario denken, als an einen Thriller um eine außer Kontrolle geratene Sekte, trotzdem finde ich, passt es ganz gut. Das dunkle Braun mit dem mysteriösen Vignetten-Effekt verbreitet eine packende, geheimnisvolle Stimmung und auch die Silhouette des Mädchens, das auf ein helles Licht zuhält stimmt den Betrachter auf die Geschichte ein. Trotz der mystischen Ausstrahlung und der interessanten Machart gefällt mir aber einfach der Farbton nicht und um ein wirklicher Eye-Catcher zu sein. Die englische Originalversion (links) hingegen ist in wahrhaftiger Horrormanier gehalten. Das Mädchen mit dem gelben Kleid und dem von Haaren verdeckten Gesicht ist in Zusammenhang mit dem weitläufigen braunen Feld und dem aufdringlichen Titel eine perfekte Kombination. Der Titel "Gated" ist ebenfalls eine perfekte Wahl, wobei ich den deutschen Untertitel, welcher ganz eindeutig einen doppelten Boden hat also gleichzeitig auf die Apokalypse hindeutet, aber in Zusammengang mit dem Haupttitel in eine ganz andere Richtung deutet, etwas zu verwirrend finde. Positiv erwähnen möchte ich noch das praktische braune Lesebändchen, das in der gebundenen Ausgabe zu finden ist.


"Ich dachte, wir wären hierhergekommen, um dem Bösen auf der Welt zu entfliehen. Das hier sollte unsere Zuflucht werden. Hier sollte es besser sein. Wir wollten besser sein. Aber das hier ist das Schlimmste, was ich je im Leben gesehen habe."


"Gated", also eingeschlossen, eingesperrt, so fühlt sich Lyla recht bald. Das 17 jährige Mädchen lebt in einer von der Außenwelt abgeschotteten Gemeinde in den USA, die von einem Mann geführt wird, der sich Pioneer nennt. 20 Familien bilden die Gemeinschaft von Mandrodage Meadows, in der weder so einfache Dinge wie Zeitschriften, Cola, oder Fernsehen erlaubt sind, noch Regelbruch oder etwas anderes als bedingungsloser Gehorsam dankbar wäre. Ihr Leben liegt schon wie in Stein gemeißelt vor ihr: dem gleichaltrigen Will versprochen wird sie ihn heiraten, sobald sie 18 Jahre alt geworden ist und sobald die Apokalypse startet wird die ganze Gemeinde in einen Bunker, dem Silo, unter der Erde ziehen. So hat es zumindest Pioneer in seinen Visionen hervorgesehen. Seine Eingebungen erhält dieser von den "Brüdern", welche er an seine Gemeinde weitergibt und ihnen klar macht, sie seien die wenigen Auserwählten, die das Armageddon überleben sollen. Auch wenn in Lyla ein wenig Unmut über der Entscheidungsmacht Pioneers und ihrer bevorstehenden Partnerschaft mit Will besteht, würde sie nicht im Traum darauf kommen, irgendwelche Grundsätze ihrer Gemeinde in Frage zu stellen. Doch dann lernt sie durch einen Zufall Cody kennen, einen gutaussehenden Jungen von außerhalb, bei dem ihre Gefühle Achterbahn fahren und alle klaren Gedanken verschwinden. Doch ist er wirklich so böse, wie es immer von den Menschen wie ihm behauptet wird, hat er es verdient, im Weltuntergang zu sterben? Mit seiner Hilfe kommt sie einigen Geheimnissen auf die Spur, und bald kommen ihr Zweifel an Pioneers Mission, doch wie soll sie es schaffen seinem wohlüberlegten Netz aus Lügen und vermeintlicher Sicherheit zu entkommen, bevor es zu spät ist...?


"Ich bin gefangen und allein.
Begraben. Das Silo war nie als Zuflucht gedacht. Das begreife ich jetzt. Es sollte von Anfang an ein Sarg werden."


Das Thema Sekte ist für mich buchiges Neuland. Ich habe bis jetzt noch nie ein Roman gelesen, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzt und habe bis jetzt immer zu der Gruppe Mensch gehört, die kopfschüttelnd abwinkt, wenn sie von solchen Gruppierungen hören und nicht verstehen, wie Leute in solch fantastische Gefilde rutschen können. Diese Geschichte wird es mir in Zukunft einfacher machen, die Gefühle von Leuten in solchen Gruppierung verständlicher zu machen. Die Geschichte beginnt relativ ruhig mit moderaten Beschreibungen Lylas Alltagslebens. Wir lernen die Gemeinde als nette, kleine Zusammenkunft an verschiedenen Familien kennen, die friedlich im hübsches, idyllisches Setting Mandrodage Meadows vor sich hin leben und abgeschottet vom Rest der Welt eine heile Welt leben. Positive Kindheitserinnerungen an Spiele im hohen Gras der Sierra, Reitausflüge auf Lylas geliebtem Pferd Indy und farbenfrohen Landschaftsbilder unterstreichen die scheinbar heile Welt der kleinen Kolonie und räumen dem Leser ein behagliches Gefühl ein.
Da ich zu Beginn angesichts des wirklichen Themas des Buches noch ein wenig im Dunklen tappte, nahm ich sogar wirklich an, dass die Gruppe an Menschen, die wir in Mandrodage Meadows präsentiert bekommen, Auserwählte sind und die Welt bald am untergehen sein wird. Für ganze 20 Seiten habe ich jedes Wort über die Apokalypse für bahre Münze genommen, weshalb es für mich noch viel realistischer und erschreckender erschien, als Lyla langsam begann aufzuwachen.


„Ich sollte mich hier nicht gefangen fühlen, aber jetzt, in diesem Augenblick – und wenn ich ehrlich bin, immer häufiger, empfinde ich es so, ich kann es nicht ändern.“


Die erzählerische Herangehensweise, die Amy Christine Parker hier gewählt hat, passt wunderbar. Sie lässt Lyla selbst aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählen, schiebt jedoch für die Hälfte des Buches jedes zweite Kapitel Rückblicke in die Vergangenheit zum Beispiel zu Karens Verschwinden oder ihre Ankunft in Mandrodage Meadows ein, was es leichter macht, den Hintergrund der Familie nachzuvollziehen. Dadurch dass Lyla selbst erzählt, sind wir näher am Geschehen und erleben ihre Gefühle aus erster Hand, wissen aber auf der anderen Seite nur was sie weiß, wodurch die Spannung weiter aufgebaut werden kann. Daneben ist Amy Parkers Schreibstil recht einfach, nüchtern und kühl ohne emotionale Ausuferungen, dafür umso rasanter und schonungsloser am Ende.


"Es gibt nur noch die Stille. Einen ganzen Ozean davon. Und ich ertrinke darin. Ich weine, bis ich keine Tränen mehr habe. Jetzt ist alles aus. Das hier ist das Ende."


Das Leben in der abgeschotteten Gemeinde wird sehr glaubwürdig und authentisch dargestellt.
Immer wieder tauchen Details auf, die etwas aus dem logischen Rahmen fallen, harte Bestrafungen durch Pioneer, die schon fast an Folter grenzen, monotone Einheitskleidung, Redeverbote mit Außenstehenden, viele kleine Puzzleteile, die die Gemeinschaft schon bald als das outet, was sie wirklich ist: ein von Gewalt und Gehorsam geprägtes Regime, geführt von einem selbstherrlichen Wahnsinnigen. Als das auch langsam zum Rest der Außenwelt durchsickert und ein neugieriger Cherif zusammen mit seinem Sohn vorbeischneit und in Lyla langsam Zweifel zu keimen starten, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen und es bildet sich eine äußerst beklemmende Sogwirkung aus. Gerade im letzten Drittel steigert sich die Spannung immer weiter und eine Actionszene jagt die nächste. Man leidet mit, hofft mit und fürchtet mit, als Lyla immer verzweifelter versucht, Pioneer und der Gemeinde zu entkommen, alles in allem wird aber gerade im letzten Drittel einiges an Potential zugunsten der Action verschenkt, was zwar unterhaltend ist, noch ein wenig mehr in Lylas Innere zu blicken und verfolgen zu können, was es mit ihr macht, dass ihr Weltbild auseinanderbricht wäre aber fast besser gewesen.


"Ich mag es, wo und wie ich lebe. Weißt du, je kleiner die eigene Welt ist, desto sicherer ist sie auch. Ich kenne vielleicht nicht sämtliche Arten von Junkfood, nicht jeden Film oder jedes Buch, aber dafür muss ich mir auch keine Sorgen machen, dass jemand kommt und einen Menschen wegholt, den ich liebe, oder dass ich etwas esse, was mich irgendwann umbringt, oder mich jeden Morgen fragen, ob heute jemand mit einem Gewehr in meine Schule stürmt und mich oder meine Freunde erschießt oder ob ein Haufen Terroristen das Gebäude in die Luft jagt, in dem meine Eltern arbeiten."


Denn gerade das macht dieses Buch so fesselnd: die junge Protagonistin hängt zwischen zwei Welten, immer knapp an der Grenze zum freien Fall. Ihr Zwiespalt und ihre Entwicklung sind das Kernstück der Geschichte. Auf der einen Seite ist sie naiv, unentschlossen und hat Angst davor, der Wahrheit ins Auge zu blicken, auf der anderen Seite kann man ihr das auf keinen Fall verübeln und muss sie vielmehr für ihre Stärke bewundern, gegen diese Gefühle in sich selbst anzukämpfen und sich gegen alles zu stellen, was sie jemals gekannt und an was sie jemals geglaubt hatte. Anders als ihren Eltern ist ihr keine Blindheit oder Verblendung vorzuwerfen, sie kennt es nicht anders und wächst in dem festen Glauben auf, dass die Welt endet und nur sie und ihre Gruppe überleben können weil sie gut sind; im Herzen rein, im Gegensatz zum Rest der Menschheit, der nur aus Mördern, Dieben und Lügnern besteht.


"Ich bin so froh über euren Eifer. Haltet an ihm fest. Bewahrt ihn in eurem Herzen. Lasst euch von dieser Welt und ihren Menschen nicht in die Irre führen. Nicht jetzt und niemals wieder. Geht in euch. Meditiert weiter darüber, warum wir das alles tun. Wir müssen überleben. Wir sind beauftragt zu überleben. Und wenn das Überleben von uns verlangt, Opfer zu bringen, dann ist es eben so. Lasst den Countdown beginnen.“


Ihr wird ein klares Weltbild vorgegeben, eins von schwarz und weiß, gut und böse und sie gehört zu den Guten in dieser Welt. Warum daran zweifeln, alles in Frage stellen, was man denkt und sich selbst vom moralisch hohen Ross herunterholen? Weil es falsch ist und das ganze Ross aus Lügen besteht, klar, doch das muss man sich erst einmal eingestehen. Und genau hier setzt die Geschichte an. Es ist faszinierend, berührend und erschreckend zu gleich, in welche Dilemmas Lyla hineinrutscht und welche Gräuel und Grausamkeiten sie erdulden muss, bis sie endlich versteht, dass das eigentliche Übel mitten unter ihnen sitzt und seinen Namen trägt: Pioneer.


"Gib einem Kind das, was es sich am meisten wünscht, und es legt dir sein Herz in die Hände."
-Pioneer, Gemeindeführer-


Er ist die zweite Säule, auf dem dieser Roman gebaut ist, ein wahrlich genialer Antagonist, den ich -wäre er nicht so unfassbar abstoßend gewesen- aus tiefstem Herzen gemocht hätte. Er ist der Inbegriff eines religiösen Fanatikers mit Visionen, die zwar keiner vorhandenen Sekte der Welt gleicht, der jedoch ziemlich dieselben Methoden benutzt, um seine Leute gefügig zu machen. Er weiß ganz genau, welche Knöpfe er drücken muss, um die Menschen unter ihm gekonnt zu manipulieren. Mit profanen, teilweise sehr schlichten Mitteln schafft er es, sich auf charmante Art und Weise in das Herz von Menschen in Notsituationen oder Schwächeperioden zu schleichen und sich dann zu einer Art Erlöser aufzuspielen und sie in sein Netz aus Lügen und vermeintlicher Sicherheit einzuwickeln, dem keiner entfliehen kann. Es ist wirklich erschreckend, wie schnell er es geschafft hat, ganz normale, rational denkende Bürger dazu zu bringen, ihr ganzes bisheriges Leben einfach hinter sich zu lassen und sich einen hirnrissigen Glauben einreden zu lassen, nur um sie von ihren Problemen und Schicksalsschlägen abzulenken. Von den anderen Familien erfährt man leider nicht besonders viel, Lylas Familie floh aber vor der Trauer um Karen, die als Kind entführt und nie gefunden wurde. Wenn man einfach der Realität entfliehen kann, die Welt ausblenden will, dann haben Leute wie Pioneer leichtes Spiel.


"Zwölf Tage ist nicht lange genug. Ich merke, wie ich insgeheim bete und hoffe, dass sie mich erhören. Ich flehe um mehr Zeit, um mehr Mut... um ein Wunder."


Das ist es, wonach sich die Gemeindemitglieder sehnen: Sicherheit. In diesem Roman schwingt eine ganze Menge Kritik an allem mit, was in der Welt nicht optimal läuft: "Keine Welt kann weiter existieren, in der Kinder von der eigenen Türschwelle weggeholt werden, aus Familien, die sie lieben. Terrorosten jagen Flugzeuge in Gebäude; Männer schlagen Frauen; Kinder, Teenager erschießen ihre Klassenkameraden und Länder führen gegeneinander Krieg."
Doch auch wenn die Welt voller "Bösem" ist, wie Lylas Mutter Pioneer nur zu gerne nachplappert nachdem ihre Tochter entführt wurde und seitdem nicht mehr auffindbar ist, zeigt dieser Roman auch auf, was man neben Junkfood und Promiklatsch noch alles vermissen würde, wenn man sich ganz der Sicherheit verschreibt: Freiheit. So wird wieder die altbekannte Diskussion ausgelöst, was denn nun wichtiger ist, frei zu sein oder sich sicher zu fühlen. Im besten Falle schließen sich diese zwei Optionen nicht aus, doch hier in der Geschichte würde Lyla wohl die Freiheit wählen während ihre Eltern die Sicherheit vorziehen. Und sie liefert auch die Antwort, wieso: "Weil es leichter ist aufzugeben, als wieder in diese Welt hinauszumüssen." Deshalb lässt sie sich nur zu gerne anlügen und einsperren, ganz in eine andere Realität entführen, was mich wirklich berührt und verstört hat.


"Grenzen sind gut für Menschen; sie geben ihnen Sicherheit. Wenn ihnen die Welt zu offen steht, ziehen sie womöglich los und kommen auf dumme Ideen."
-Pioneer, Gemeindeführer-


Besonders beklemmend sind die Zitate Pioneers, die die Kapitelanfänge zieren, bis sie irgendwann schleichend, dann aber immer häufiger von realen Personen wie Jim Jones, dem ehemaligen Sektenführer des Peoples Temple, Charles Mansons oder David Koresh, dem Anführer der Branch Davidians, abgelöst werden. Wer die Geschichte der Peoples Temple kennt, wird sehen, dass hier klare Parallelen gezogen werden, die der Geschichte einen weiteren eindrücklichen Ernst verleihen. Denn so abgedreht und verrückt die Handlung manchmal auch wirken mag, sie ist nicht weit von der Realität vieler Menschen entfernt. Gerade in den USA gibt es etliche Sekten, es gibt also in der Tat einige Menschen für die der dargestellte Thriller bittere Realität ist.


"Wenn man jemanden wirklich liebt muss man bereit sein, alles zu tun, was nötig ist, damit er lernt und wächst, selbst wenn es für beide schmerzhaft ist."
-Pioneer, Gemeindeführer-


Cody, der Love Interest dieser Geschichte bleibt sehr blass, was mir hier sehr gut gefallen hat. Seine Präsenz ist genau so dosiert, dass er zwar den Stein ins Rollen bringt, aber nicht die Geschichte ins Klischeehafte abstürzen lässt und Aufmerksamkeit von Lyla auf die Liebesgeschichte verschiebt. Im Gegenteil: er bleibt dezent im Hintergrund und vielmehr die Verwandlung von Lyla und die Vorbereitungen der Gemeinde auf den Untergang der Welt stehen im Fokus des Lesers.


"Es ist Cody, den ich will, und egal wie sehr ich das wegzurationalisieren versuche, es wird nichts daran ändern. Was immer das hier sein mag, es ist alles andere als rational - es ist verrückt, dumm, rücksichtslos ... und irgendwie absolut richtig. (...) Er ist mein Cheeto - nicht gut für mich, aber jetzt, wo ich auf den Geschmack gekommen bin, kann ich nicht mehr von ihm lassen."


Das Ende ist nach dem schonungslosen Showdown eigentlich recht abgeschlossen, ich werde aber auf jeden Fall in naher Zukunft zum zweiten Teil "Gated - Sie sind überall" greifen, welches die Geschichte um Lyla und Pioneer noch weiterführt.


"In der Gemeinde erschien das Leben perfekt. Ich dachte, das Böse lebe außerhalb unserer Mauern - ich habe mich geirrt."
-Lyla Hamilton, Mitglied der Gemeinde-




Fazit:

Ein fesselnder Jugendroman über die gefährlichen Verstrickungen einer Sekte und die Selbstfindung eines jungen Mädchens: aufkratzend, authentisch, hartnäckig und hochspannend