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Veröffentlicht am 04.10.2021

A kind of Magic

The Stranger Times
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Nichts und niemand hat Hannah Willis für eine journalistische Laufbahn ausgebildet. Die einst poshe Londonerin, deren Leben bisher eher darin bestand, Tochter oder Ehefrau zu sein, musste überhaupt noch ...

Nichts und niemand hat Hannah Willis für eine journalistische Laufbahn ausgebildet. Die einst poshe Londonerin, deren Leben bisher eher darin bestand, Tochter oder Ehefrau zu sein, musste überhaupt noch nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten oder eine Ausbildung planen, mit der sie in irgendeiner Weise Geld verdienen könnte. Nicht die besten Voraussetzungen also, als sie eher zufällig und planlos in eine Vorstellungsgespräch der Zeitung "The Stranger Times" stolpert.

Der Chefredakteur, einst eine Legende der Fleet Street, ist mittlerweile ein Alkoholiker, dessen Flüche nur dank der ebenso resoluten wie gottesfürchtigen Büroverwalterin Grace auf ein Minimum gestutzt werden und auch sonst sind die Kollegen ein wenig exzentrisch. Nicht so exzentrisch allerdings wie die Zeitung, in der Hannah als "die neue Tina" eingestellt wird - später erfährt sie, dass sie stellvertretende Chefredakteurin eines Blattes ist, das sich vor allem um Außerirdische, Geister, Inkarnationen und anderes Übersinnliches dregt. Hannahs vornehmste Aufgabe ist der Kontakt zu den "Irren", sprich den Menschen, deren Berichte und Beobachtungen die Grundlage für Recherchen sind.

Mit "The Stranger Times" hat der irische Comedian C.K. McDonnell einen buchstäblich fantastischen Roman ebenso viel schwarzem Humor wie dunkler Magie geschrieben. Gewiss, das Buch hat einige Längen und es dauert eine Weile, bis die Erzählfäden sortiert sind und die Handlung zusammenfließt. Dennoch ist es unterhaltsam, Hannah auf ihrer Reise durch den täglichen Wahnsinn zu folgen und zu der unwahrscheinlichen Erkenntnis, dass es zwischen Himmel und Erde noch ganz andere Dinge gibt, als der normale Menschenverstand ahnt.

Rotäugige Ungeheuer, Blutzauber und magische Abkommen - all dies findet sich auf gut 460 Buchseiten, die schließlich zu einem brachialen Finale führen. McDonnells urban fantasy spielt in der Industriemetropole Manchester, zwischen Niedergang und Gentrifizierung,dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse und erstaunlicherweise dann doch noch journalistischer Wahrheitssuche. Das Ende, so deutet sich an, könnte auch ein neuer Anfang sein. Ein weiteres Buch zu "The Stranger Times" ist jedenfalls schon angekündigt.

Wer den speziell britischen Humor mag und ein Faible für Exzentrik, Skurriles und Übersinnliches hat, wird "The Stranger Times" mögen, auch wenn es ein bißchen dauert, bis das Geschehen in Fahrt kommt. Dann allerdings bekommt die Handlung ein deutliches Tempo. Ein Mix aus Spannung, Humor und Magie sorgt jedenfalls für einen unterhaltsamen Lese-Dreiklang.

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Ahnen, Wassergötter und prekäres Diplomatenleben

Mai bedeutet Wasser
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Familiendynamik. jugendliche Rebellion, Missbrauchsgefahr und Eltern-Kind-Konflikte, aber auch Mythen und Erzählungen im Rahmen einer afrikanischen Familiengeschichte - all das kommt in "Mai bedeutet ...

Familiendynamik. jugendliche Rebellion, Missbrauchsgefahr und Eltern-Kind-Konflikte, aber auch Mythen und Erzählungen im Rahmen einer afrikanischen Familiengeschichte - all das kommt in "Mai bedeutet Wasser" zusammen. Die schwedische Autorin Kayo Mpoyi wurde im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo geboren und wuchs in einer Diplomatenfamilie in Tansania auf, ehe sie mit ihrer Familie im Alter von zehn Jahren nach Schweden zog. Herkunft und Kindheit in Ostafrika hat sie auch mit der Ich-Erzählerin Adi gemeinsam, kein Wunder also, dass sie das Buch ihrem sechsjährigen Ich widmete.

Das Leben Adis im Diplomatenviertel hat allerdings nicht den Glamour, den man im allgemeinen damit verbindet. Zum einen ist ihr Vater wohl eher keiner der Top-Beamten der Botschaft, zum anderen wirkt sich die politisch instabile Lage in der Heimat auch auf die diplomatische Community aus - das Gehalt bleibt mal wochenlang, mal mehrere Monate aus, die botschaftseigenen Häuser kommen allmählich herunter, Geld für die Instandhaltung hat es schon länger nicht mehr gegeben. Adis Familie gehört so eher zum diplomatischen Prekariat.

Liegt es an dieser mangelnden Stabilität, liegt es an eigenen Kindheitserfahrungen? Adis Vater führt ein strenges Regiment, ist sehr religiös, verlangt vor allem von seinen Töchtern Unterordnung und anständiges Betragen. Vor allem Dina, Adis ältere Schwester, bekommt das häufig zu spüren. Ihre Tanzbegeisterung ist dem Vater höchst unlieb, vor allem, da Dina sich für Lingala begeistert. Dazu müsste man vielleicht wissen, dass Lingala-Lieder einerseits ziemlich anzüglich sein können und die Bewegungen durchaus als getanzter Sex zu beschreiben sind.

Doch auch Adi muss in der Schule auf harte Weise lernen, wie sehr ein Mädchen von der Gemeinschaft ausgestoßen wird, falls es als "gefallene Frau" gesehen wird. Sie ahnt, dass einige ihrer Erlebnisse und Erfahrungen sie zur Ausgestoßenen machen können.

"Mai bedeutet Wasser" zeigt uns das Leben und die Konflikte in Adis Familie aus der Perspektive eines sechs- bis zehnjährigen Mädchens, zwischen der Eifersucht auf die kleine, immer kranke Schwester Mai und dem Wunsch, von den Großen, sprich Dina und ihren Altersgenossen akzeptiert zu werden. Mit der Ankunft der ätesten, bisher in Zaire lebenden Geschwister, die Adi kaum konnte, kommt eine ganz neue Dynamik in die Familie - die älteste Schwester, die sich nichts gefallen lässt, der ältere Bruder, dessen Konflikte die kleine Adi noch nicht verstehen kann und die schließlich angesichts auseinanderklaffenden Wertvorstellungen aus der Familie fliehen.

Das Zerbrechen der Familie geht einher mit dem Auseinanderbrechen der politischen Stabilität, wobei die Entwicklung in der Heimat nur angedeutet bleibt. Oder ist alles letztlich die Konsequenz eines Fluchs der Urgroßmutter, der eine glückliche Zukunft der Nachkommen unmöglich macht? Die Rolle der Ahnen und die Verbindung zu ihnen, der Glauben an Wassergöttinnen und Geister, der neben evangelikal geprägtem Christentum besteht, die ethnisch-sozialen Spaltungen, die es auch in Tansania gibt - all das wird aus dem Blick des aufgeweckten, fragenden Mädchen erzählt.

Es ist nur konsequent, dass die großen politischen Veränderungen irgendwo am Rand verlaufen, während der Fokus auf der viel kleineren und engeren Welt Adis liegt, die sich bemüht, die Puzzleteile des Ungesagten in ihrer Familie zusammensetzen und in Gesprächen mit Gott - für sie ein Junge mit Brille und Aktentasche - um Klarblick und Verstehen ringt. Dabei kommt beim Blick auf die Vergangenheit der Familie immer auch das koloniale Erbe und die Besonderheiten des Kongo zur Sprache.So erhalten die Leser einen Blick in den Mikrokosmos von Adis Leben in Tansania, aber auch dem Bezug zu Zaire und den Traditionen zwischen Zentral- und Ostafrika.

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Der Preis der billigen Pflegekräfte

Wenn ich wiederkomme
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Die EU-Osterweiterung brachte für viele Menschen Hoffnungen auf mehr Wohlstand, Geld für eine bessere Zukunft, für Bildungschancen für ihre Kinder, für Träume von einem Morgen, die die Opfer von heute ...

Die EU-Osterweiterung brachte für viele Menschen Hoffnungen auf mehr Wohlstand, Geld für eine bessere Zukunft, für Bildungschancen für ihre Kinder, für Träume von einem Morgen, die die Opfer von heute erträglich machten. Doch vor allem im Fall der Elternpaare und Frauen, die ihre Kinder bei Verwandten zurückließen, hatte die Erfüllung dieses Traums einen hohen Preis. Von "Euro-Waisen" war die Rede. In seinem Buch "Wenn ich wiederkomme", beschreibt der italienische Autor Marco Balzano eine rumänische Familie und die Härten, die die Arbeit der Mutter als Pflegekraft in Italien für alle bedeutet.

Daniela geht heimlich nach Mailand. Ihr Mann, der wenig Unterstützung leistete, bleibt ebenso zurück wie die beiden Kinder, die 16-jährige Tochter, fleißig und zuverlässig, die unversehens in die Rolle der Ersatzmutter geschubst wird, und den zehnjährigen Sohn, der die Mutter für den als Verrat empfundenen Aufbruch mit Liebesentzug und immer größer werdenden materiellen Forderungen straft. Stabilisierender Faktor sind die Großeltern, die sich um die Kinder zu kümmern versuchen, aber aus Alters- und Gesundheisgründen nur begrenzt dazu in der Lage sind.

In dei Abschnitten erzählt Balzano aus der Perspektive von Sohn, Tochter und Mutter und gibt Einblick in die Herausforderungen der Situation für jeden von ihnen,: Der Sohn, der in der Dorfschule Bestnoten hatte, fällt im städtischen Privatgymnasium rapide ab, kapselt sich ein. Als die ältere Schwester ein Studium beginnt und die strenge Aufsicht zu Hause wegfällt, fängt er an zu trinken und zu kiffen. Dann stirbt auch noch der Großvater, die männliche Identifikationsfigur und das Vorbild des Jungen, der am liebsten Bauer werden und das aufgrund der Emigration sterbende Dorf retten will. Die Schwester dagegen will raus aus dem Dorf, hofft auf ein bißchen Freiheit, fühlt sich überfordert mit der Verantwortung, die ihr in jungen Jahren aufgeschultert wird.

Die Mutter wiederum macht als Fremde demütigende Erfahungen, muss sich durchbeißen, kämpft mit Einsamkeit und Heimweh. Die Videogespräche mit der Familie werden zum Symbol der Entfremdung und auch die Heimatbesuche können die wachsende Distanz schwer überbrücken. Als der Sohn nach einem Motorradunfall im Koma liegt. zwingt die neue Krise zu Entscheidungen und Neuorientierungen.

Im Nachwort schreibt Balzano, er habe vor dem Schreiben ausführlich zur Situation der Migrantinnen recherchiert, Experten zu den Problemen der zurückbleibenden Familien, gerade auch der Kinder und Jugendlichen befragt. Durch die verschiedenen Perspektiven gelingt es ihm, die jeweiligen Probleme und Sichtweisen auszuleuchten. Die Menschen, die sonst unter dem Begriff "ausländische Pflegekraft" gesichtslos und anonym bleiben, werden so greifbar, wobei Balzano auf Sozialkitsch verzichtet. Mit Sympathie, aber respektvollem Abstand gibt er gar nicht vor, alles über seine Protagonisten zu wissen. Eher am Rande skizziert sind diejenigen, die von den billigen Arbeiterinnen aus Ost- und Südosteuropa profitieren.

Balzano schreibt mit Empathie und offenem Blick von Träumen, Aufbruch und Scheitern. Es wäre schön, wenn sein Buch auch bei solchen Lesern landet. die sich gerne über Wirtschaftsflüchtlinge ereifern. Und es zeigt, was Migration nicht nur für die bedeutet, die aufbrechen, sondern auch für diejenigen, die zurückbleiben.

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Ein klassiker kommt als Hörspiel zurück

Krabat
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Ich vermute, jeder von uns hat ein paar Bücher, die ihn oder sie von Kindheit an durchs Leben begleiten, immer wieder mal erneut aufgenommen oder an die eigenen Kinder weitergereicht werden in der Hoffnung, ...

Ich vermute, jeder von uns hat ein paar Bücher, die ihn oder sie von Kindheit an durchs Leben begleiten, immer wieder mal erneut aufgenommen oder an die eigenen Kinder weitergereicht werden in der Hoffnung, dass sie dieses Buch genauso lieben werden. Und/oder sie sind so zeitlos, dass sie auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter noch Freude bereiten, weil sie so alterslos gut sind. Eines dieser Bücher ist für mich "Der kleine Prinz" von Antoune de Saint-Exupery, das andere Ottfried Preußlers "Krabat"

zum 50. Jahr der Ersterscheinung (ist Krabat tatsächlich schon so alt???) ist nun ein Hörbuch erschienen. Für mich war ganz klar, ungeachtet des existierenden Bücherstapels und noch nicht gehörter Hörbücher muss das gleich gehört werden. Mit einer Länge von 181 Minuten handelt es sich ohnehin um eine kompakte Angelegenheit. Tatsächlich wurde wohl einiges gestrafft, aber die Geschichte über den sorbischen Müllerburschen Krabat, der bei einem geheimnisvollen Meister nicht nur sein Handwerk lernt sondern auch in einer "schwarzen Schule" in die Zauberei eingeführt wurde, entfaltet immer noch ihre Magie.

Jahrzehnte bevor Harry Potter Zauberfans in aller Welt inspirierte, geht es auch in der alten Legende bereits um den Kampf zwischen Gut und Böse, um den Preis, der ganz faustisch für Wissen und die Möglichkeit von Macht gezahlt werden muss. Der Waisenjunge Krabat, dem erst nach und nach und beinahe viel zu spät klar wird, dass er als Musterschüler des Meisters in tödlicher Gefahr schwebt, kann nur auf die Liebe der Kantorka vertrauen, deren Stimme ihn bereits verzauberte, ehe er den Versuch machte, die Vorsängerin der jungen Frauen des nahen Dorfes kennenzulernen.

Max Mauff gibt als Ich-Erzähler Krabat die Stimme, lässt ihn zweifeln und wundern, innere wie äußere Kämpfe ausfechten und vollzieht die Wandlung vom Jungen zum Mann glaubwürdig. Michael Mendl spricht den Meister mit einem aggressiven Timbre, das klar macht, das von diesem Mann nichts Gutes zu erwarten ist und Wanja Mues bringt als Altgesellse Tonda sowohl die Ruhe zu Ausdruck, die Tonda Krabat in der schweren Anfangszeit in der Mühle vermittelt, als auch den traurigen Ernst, dessen Grund Krabat erst spät klar wird.

Da es sich um ein Hörspiel und nicht um ein klassisches Hörbuch hamdelt, dürfte diese Krabat-Version wohl auch mit Blick auf die neueste Generation von Preußler-Lesern und Hörern erarbeitet worden sein. Aber auch für mich war es eine angenehme Erinnerung an das erste Lese-Erlebnis mit Krabat. Mit 50 Jahren kann man sicher sagen: ein moderner Klassiker

Veröffentlicht am 23.09.2021

Starke Frauen und ihr Kampf

Der Schattenkönig
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Bei militärischen Konflikten aus den 1930-er und 40-er Jahren denken die meisten von uns vermutlich als erstes an den Zweiten Weltkrieg. Nicht so Maaza Mengiste, die Autorin des historischen Romans "Der ...

Bei militärischen Konflikten aus den 1930-er und 40-er Jahren denken die meisten von uns vermutlich als erstes an den Zweiten Weltkrieg. Nicht so Maaza Mengiste, die Autorin des historischen Romans "Der Schattenkönig". Kein Wunder - die Invasion von Truppen aus dem faschistischen Italien in Äthiopien, dem einzigen nicht von Kolonialismus betroffenen Landes in Afrika, stellte eine Zäsur in dem Land am Horn von Afrika dar.

Mengiste war noch ein Kind im Vorschulalter, als ihre Familie aus Äthiopien floh vor dem damaligen Regime, heute lebt sie in New York. Beim Lesen des Romans, an dem Mengiste zehn Jahre lang arbeitete, wird klar, dass die Geschichte ihres Heimatlandes sie auch im Exil beschäftigte. Doch "der Schattenkönig" ist mehr als ein Roman über einen Krieg, denn vor allem verdeutlicht er Sozialstrukturen und Genderrollen, eine Welt, in der Männer Herrscher sind und starke Frauen sich eine Nische erkämpfen müssen, wenn sie sich nicht mit der zugeschriebenen Rolle begnügen wollen.

Die beiden Protagonistinnen Aster und Hirut verkörpern das auf unterschiedliche Weise. Denn in der Feudalgesellschaft des alten Äthiopien steht Aster zur Aristokratie, hat Bildung genossen, ist stolz auf ihren sozialen Status. Doch die Geburt in eine sozial hoch stehende Familie hat sie nicht davor bewahrt, schon als junges Mädchen standesgemäß verheiratet zu werden, ihre Ehe begann mit einer Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht. Doch Aster ist nicht mehr das verängstigte Mädchen von damals.

Das Dienstmädchen Hirut wiederum, früh verwaist, ist in die Armut hineingeboren, konnte nicht zur Schule gehen und wird von Aster wie eine Leibeigene behandelt. Dennoch zeigt Hirut Selbstbewusstsein, wenn sie immer wieder die Herausgabe des alten Gewehr fordert, dass das einzige Erbe ist, das sie von ihrem Vater hat, und das Asters Mann ihr weggenommen hat, um die äthiopischen Truppen zu bewaffnen.

Während der Kaiser Haile Selassie angesichts militärischer Erfolge der Italiener ins Exil geht, wird der Krieg für Aster zu einem Akt der Selbstbefreiung und der Selbstermächtigung. Denn Aster zieht Männerkleidung an und beginnt, Frauen für den Kampf zu rekrutieren - gegen den Widerstand der Männer. Auch Hirut will unter Beweis stellen, dass sie den Männern an Mut und Kampfgeist nicht nachsteht. Ironischerweise ist auch der wichtigste Spion der Äthiopier eine Frau. Doch es ist ausgerechnet Hirut, die den Mut der nach der Flucht Haile Selassies verzagten Äthiopier wieder anzufachen, indem sie einen einfachen Bauern überzeugt, angesichts seiner überraschenden Ähnlichkeit mit dem Kaiser den "Schattenkönig" zu mimen.

Als Gegenspieler der kämpfenden Äthiopier zeichnet Mengiste einen italienischen Offizier, der mit dem Beinamen "Schlächter von Bengasi" nach Äthiopien kommt und auch dort durch Gräueltaten und Kriegsverbrechen berüchtigt word. Verständnisvoll zeigt er sich nur im Umgang mit dem Offizier, der als Fotograf den Krieg dokumentieren soll. Seine Fotos sind für den Offizier Kriegstrophäen, die er mit den Statuen der alten Römer vergleicht.

Die Kriegsschilderungen sind nichts für zarte Gemüter. Als Aster und Hirut nach einem riskanten Einsatz in Gefangenschaft geraten, sind sie vor allem als Frauen und nicht als Kombattantinnen Misshandlungen ausgeliefert. Zugleich muss sich der Fotograf mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass seine Eltern, die nie über Religion oder Herkunft gesprochen haben, Juden sind - ein Umstand, der selbst im fernen Afrika seine Existenz bedroht. Der Übergang von Tätern und Opfern ist mitunter fließend.

Faschismus, Sexismus, Feudalismus - Mengiste vereint in ihrem Buch den großen historischen Wurf mit berührenden Geschichten über einfache Menschem und ihren Schicksalen. Es sind vor allem die Frauenfiguren, die ihr Buch nachhaltig prägen, aber auch die Bauern, die von ihren Feldern in den Krieg ziehen müssen. Eingebettet ist die während der italienischen Invasion spielende Kernhandlung in eine Rahmenhandlung während der "roten Revolution" in Äthiopien, in der die alt gewordene Hirut noch einmal die Begegnung mit einem einstigen Gegner hinter sich bringen muss, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen.

Auch wenn "der Schattenkönig" für die meisten Leser viel Unbekanntes beinhalten mag, lohnt sich die Annäherung an ein schwieriges Thema. Denn Mengiste beeindruckt mit diesem Buch, das Fragen aufwirft nach denjenigen, die keinen Platz in den Geschichtsbüchern finden und die doch zu den Gestaltern des eigenen Schicksals werden wollen. Sie habe die Leerstellen des offiziellen Narrativs füllen wollen, sagte sie, als ich kürzlich Gelegenheit hatte, mit ihr über das Buch zu sprechen. Denn die Geschichten über den Krieg, den sie etwa aus den Erzählungen der Frauen ihrer Familie kannte, hatten in den offiziellen Darstellungen bisher keinen Platz. Mit ihrem Buch, das sich zu Recht auf der Shortlist des Booker-Preises befand, will sie das ändern.

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