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Veröffentlicht am 13.05.2021

Großartig!

Der ehemalige Sohn
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„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir - wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und wirst sofort eingesperrt oder ...

„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir - wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und wirst sofort eingesperrt oder zusammengeschlagen vor dem Hauseingang. Etwas anderes gibt es nicht in diesem Land. Entweder du hältst die Klappe, oder du kriegst eine auf den Deckel. Das ganze Land schläft, also schlaf auch du ruhig weiter. So beschissen ging's uns noch nie.“ (S. 155f)

Warum zu Hause sitzen und Tonleitern und Partituren üben, wenn man auch draußen das Leben genießen kann? Der 16-jährige Franzisk Lukitsch sollte eigentlich für seine Abschlussprüfungen am Konservatorium lernen, seine Handfertigkeit und Leichtigkeit am Cello verbessern, doch die Aussicht, gemeinsam mit seinen besten Freunden auf ein Festival zu gehen – und dort das Mädchen zu treffen, in das er verliebt ist –, ist um einiges verlockender. Doch als ein unvorhergesehener Wolkenbruch die Menschen in Aufruhr versetzt, entbricht eine Massenpanik, bei der Zisk schwer verletzt wird und schließlich ins Koma versetzt wird. Seine Mutter, seine Freunde, die Ärzte, alle haben ihn von Beginn an aufgegeben, er sei nicht mehr als ein lebloses Stück Gemüse; einzig seine Großmutter ist davon überzeugt, dass er eines Tages aufwache würde und kämpft dafür, dass die ärztliche Versorgung fortgeführt wird. Sie weicht keine Sekunde von seinem Krankenbett, spielt ihm Partituren vor, guckt mit ihm Fußballspiele im Fernsehen, schmückt sein Zimmer mit Fotos und Erinnerungen. Nach zehn Jahren schließlich passiert es wirklich: Franzisk macht die Augen auf und erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint.

In seinem Roman „Der ehemalige Sohn“, von Ruth Altenhofer aus dem Russischen übersetzt, erzählt Sasha Filipenko unter dem Deckmantel des ergreifenden Schicksals eines jungen Mannes von einem politisch gezeichneten Land, das von Aufständen, Gewalt und Unterdrückung betroffen ist. Symbolisch für den Stillstand, für die scheinbare Ausweglosigkeit steht Franzisk, der zehn Jahre im Koma lag, und in dieser Zeit von all dem – zu seinem großen Glück, wie die Großmutter meinte – nichts mitbekommen hat:

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Sehr besonders

Mars
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„Der Tod ist ein Traum, in den man kopflos rennt: Du hast keine Zeit, stehenzubleiben und nachzudenken, da das bedeuten würde, dass du aufwachst.“ (S. 11)

Schonmal darüber nachgedacht, dass es ein Paralleluniversum ...

„Der Tod ist ein Traum, in den man kopflos rennt: Du hast keine Zeit, stehenzubleiben und nachzudenken, da das bedeuten würde, dass du aufwachst.“ (S. 11)

Schonmal darüber nachgedacht, dass es ein Paralleluniversum geben könnte, in dem nichts unmöglich ist? Oder auf dem Mars zu leben, niemals wieder zurück zur Erde zu können, wo es eh nichts mehr gibt, was ein Gefühl von Heimat auslösen könnte?

In „Mars“, einer Sammlung von zehn kurzen Erzählungen, entwirft Asja Bakić neue Realitäten, Welten und Universen, die scheinbar keinen Bezug zur Realität haben, doch im Kern eine bodenständige Moral in sich zu tragen scheinen. Ihre Heldinnen stehen vor Aufgaben, die sie aus ihrer misslichen Lage befreien sollen, der Lüftung eines Geheimnisses näherbringen, oder ihrer wahren Identität auf die Spur verhelfen.

Jeder Geschichte ist eine geheimnisvolle Art inne, eine Mischung aus fantastischen, abscheulichen und Science-Fiction-Elementen. Was zunächst plausibel und natürlich erscheint, erfährt im Verlauf einen abstrusen Plot Twist, der überrascht und aufmerken lässt. Die Leichtigkeit, mit der Asja Bakić intensive Eindrücke in Worte fasst und ihnen das gewisse Etwas verleiht, hat mich gleichermaßen beeindruckt und teilweise auch verschreckt. So erhält jede Heldinnengeschichte eine ganz unterschiedliche Färbung, strahlt Hoffnung aus, Frust oder Verzückung, Aufbruchsstimmung und Handlungsbereitschaft. Besonders gut gefallen haben mir „Reise zum Durmitor“, in der eine junge Frau einen Ausweg aus der Vorhölle sucht, indem sie eine literarische Aufgabe erfüllen muss; „Abby“, die Geschichte einer Frau, die scheinbar ihr Gedächtnis verloren hat; und „Asja 5.0“.

Nicht alle Geschichten konnten mich überzeugen, aber gerade das ist ja das schöne an Kurzgeschichten-Sammlungen: Für jede*n ist etwas dabei! Unbedingt hervorgehoben werden muss aber die sprachliche Qualität der Texte, die sensible Wortwahl, die eindrucksvolle Konstruktion von inhaltlich anspruchsvollen Geschichten auf wenige Seiten beschränkt. Gerne mehr solcher Fantastereien und kurioser Wortreisen! Übersetzt aus dem Kroatischen von Alida Bremer.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Traumhaft schön!

Die Unschärfe der Welt
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„Man kann die Liebe überschätzen, ihr zu viel zu muten. Zuallererst ihr. (...) Wenn du dir also etwas wünschst, sag es. Verlass dich nicht darauf, dass es zu dir kommt, oder bei dir bleibt.“ (S. 213)

Alles ...

„Man kann die Liebe überschätzen, ihr zu viel zu muten. Zuallererst ihr. (...) Wenn du dir also etwas wünschst, sag es. Verlass dich nicht darauf, dass es zu dir kommt, oder bei dir bleibt.“ (S. 213)

Alles ist miteinander verbunden, Menschen und ihre Geschichte, ihre Ängste und Wünsche, und sei es über Jahrzehnte, Generationen hinweg und noch zu unscheinbar.

In „Die Unschärfe der Welt“ erzählt Iris Wolff die Geschichte einer Familie in Banat, die Geschichte von Florentine, Hannes und ihrem Sohn Samuel. Doch sie sind nur Teil eines großen Ganzen, verflochten mit ihren Eltern und Großeltern, mit den Nachbarn, den künftigen Enkelkindern. All diese Menschen aus vier Generationen eint, wie sie trotz räumlicher Distanz, trotz Schicksalsschlägen und Glücksmomenten im Leben stehen, zu einander stehen und zusammenhalten, sich miteinander und aufeinander zu bewegen.

Von einer leicht schwermütigen, melancholischen Atmosphäre ummantelt, entwirft Iris Wolff eine zutiefst beeindruckende, bewegende Geschichte von einer Familie in Banat im 20. Jahrhundert, die von der Vergangenheit geprägt und dem Kommenden gegenüber ehrfürchtig ist. Mit leichtfüßiger, poetischer Sprache, intensiven Bildern und Eindrücken mäandert sie zwischen den Perspektiven von sieben Protagonisten, zwischen den Generationen, zwischen dem was ist und dem was sein soll. Eine jede Figur erhält eine ganz besondere Sprache, eine ihr eigene Färbung, die sie einzigartig und bedeutsam macht, denn auch scheinbar nebensächliche Charaktere sollen früher oder später einen großen Einfluss auf ihr aller Leben haben. Sensibel stellt sie ihre Gefühle und Ängste, die Trauer, die sie fühlen, die Freude, die sie aufleben lässt, in den Vordergrund, und erzeugt mehr als nur Gänsehaut. Mir gefällt sehr, wie undurchschaubar, wie wenig vorhersehbar sie Anknüpfungspunkte schafft, ohne viel Auflebens einen berauschenden, stimmungsvollen Faden spannt, der mich um den kleinen Finger gewickelt hat – und mein Herz mitsamt.

„Die Unschärfe der Welt“ ist zu einem meiner liebsten Romane avanciert, die ich jemals lesen durfte, und hält einen großen Teil meines Herzens gefangen.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Besonders und tierisch gut

Ein Beitrag zur Geschichte der Freude
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„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist ...

„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist tot, an einem Seil erhängt, Zeichen einer Strangulation zeichnen den Hals. Der scheinbare Selbstmord eines reichen Geschäftsmanns zieht einen namenlosen Ermittler auf den Plan, der von dessen Witwe davon überzeugt wird, dass ein Suizid ausgeschlossen ist. Daraufhin begibt er sich auf die Suche nach Verbindungen, nach den Menschen, die zuletzt mit ihm in Kontakt standen und stößt dabei auf ein orangefarbenes Haus, das im Prager Petřín-Hügel verbaut ist. Es wird von drei älteren Damen bewohnt: der Körpergedächtnis- und Yoga-Instruktorin Diana Adler, der Filmemacherin Erika Eis und der Schreiberin Birgit Stadtherrová. Sie führen in Prag eine Art Archiv, in dem jegliche Gewalt an Frauen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart dokumentiert ist. Als die drei Damen nicht zugegen sind, verschafft er sich Zugang zu den Gemäuern und versucht, eine Verbindung zwischen dem Mordfall, dem Gewalt-Archiv und den Machenschaften der Frauen herzustellen.

In ihrem vierten Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ (OT: „Prispevek k dejinam radosti“, aus dem Tschechischen von Eva Profousová) verwebt Radka Denemarková bildgewaltig intensive, erschütternde Berichte vergangener und gegenwärtige Gewaltverbrechen gegen Frauen mit eher seichten Elementen eines Kriminalromans, die hier aber eher eine hintergründige Rolle spielen. Von Beginn an ist die Geschichte begleitet vom Zwitschern der Schwalben, vom Flügelschlag eines Adlers, dem Balztanz eines Rotkehlchens – sie scheinen das verbindende, das prägende Element zu sein, das den Ton und die Atmosphäre des Romans begleitet. Denn das ist es, womit sich die drei geheimnisvollen Damen beschäftigen: Einst zu viert anzutreffen, haben sie es sich zur Aufgab gemacht, Gerechtigkeit in der patriarchalisch geprägten Welt zu schaffen, in der Frauen Menschen zweiter Klasse sind, erniedrigt werden, misshandelt werden; [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Experimentell und interessant

Der Himmel vor hundert Jahren
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„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein ...

„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein in der Zukunft (...).“ (S. 105)

Geschrieben steht das Jahr 1918. An einem Fluss in Russland liegt ein Dorf; so weit abgelegen, dass es von dem laufenden Bürgerkrieg, von allem, was außerhalb des Marktplatzes geschieht, noch nichts erfahren hat. Ist auch gar nicht so schlimm, denn die Ereignisse im Dorf halten die Bewohner:innen in Atem, in Aufregung und Erwartung. Während Ilja, der Dorfälteste, mithilfe eines mysteriösen Glasröhrchens, das eine silbrige Flüssigkeit umschließt, das Wetter vorherzusagen vermag, spricht Piotr, der graubärtige Greis, mit dem Fluss und seinen Geistern, hält ein ums andere Mal den befeuchteten Zeigefinger in den Wind zum Wetterbericht – die Geister scheiden sich in ihrer Kunst.
Doch als Inna Nikolajewna, der Frau von Ilja, eines Tages ein Messer herunterfällt, kommt ein Fremder, ein junger Mann in Uniform, aber ohne Stiefel, in ihr kleines Dorf – und bleibt. Er redet nicht viel, doch wenn er das Wort ergreift, verfolgt er jedes Mal einen anderen Faden. Jeder beobachtet ihn, versucht, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, doch sie scheitern alle, selbst Iljas Enkelin Annuschka. Als schließlich auch noch zwei Männer, die „Realitäten“, das Dorf aufsuchen, gerät das Dorf in Umbruch.

In ihrem Debütroman „Der Himmel vor hundert Jahren“ entspinnt Yulia Marfutova ein poetisches, sprachliches Feuerwerk, das die seichte Monotonie der eigentlichen Handlung strahlen lässt. Zarte Charaktere erhalten eine eigensinnige, wundersame Stärke, die nicht handhabbar ist, aber doch irgendwie da. Die elliptischen, kurzen Sätze, wie zufällig eingeworfenen Wörter und dann wieder verschachtelten, hypotaktischen bestimmen das Tempo, das insgesamt eher langsam ist, nachdenklich – und dadurch die wunderschöne Sprache nur noch mehr zur Geltung bringen.

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