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Veröffentlicht am 14.11.2020

Intensiv und kunstvoll

Wie Dinge sind
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Eine Sequenz. Ein Augenblick. Ein Gefühl der Sehnsucht und Schuld.

Die kanadische Comiczeichnerin gg begleitet eine junge Frau, deren Eltern in ein neues Land migriert sind, um ihrer Tochter ein besseres ...

Eine Sequenz. Ein Augenblick. Ein Gefühl der Sehnsucht und Schuld.

Die kanadische Comiczeichnerin gg begleitet eine junge Frau, deren Eltern in ein neues Land migriert sind, um ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, auf der Suche nach ihrem Selbst. Sie sammelt Eindrücke, hält fotografisch fest, wie Dinge sind. Während sie auf einem Markt das Angebot begutachtet, sieht sie in der Ferne eine Frau, die ihr ähnlich sieht und folgt ihr. Durch eine zufällige Verwechslung findet sie sich plötzlich in ihrer Wohnung wieder – ein Reisepass mit vielen Stempeln, Fotos anderer Städte, ein Anrufbeantworter mit einer Nachricht ihrer Mutter. In der Protagonistin wird eine Sehnsucht nach familiärer Nähe, Geborgenheit, nach Freiheit entfacht, die sie dazu veranlasst, in der Wohnung zu bleiben. Erschöpft schläft sie ein und träumt von prägenden Eindrücken ihrer Kindheit, der Bürde ihrer arbeitenden Mutter, die ihre eigene Zukunft im fremden Land zum Wohle der Tochter aufgegeben hat.

Ohne viele Worte lässt gg Bilder sprechen: Mit gedeckten, monochromen Farbtönen, hohen Kontrasten und großen Bildpanels zeigt sie aus Sicht eines externen Beobachters detailliert die Eindrücke, die die junge Frau sammelt, die sie bewegen. Die minimalistische Art und die Freiheiten, die die Autorin dem Leser dadurch zur Interpretation und Entwicklung einer emotionalen Bindung gibt, waren herausfordernd, haben mir aber ungemein gefallen. Die Zeichnungen sind liebevoll und weich, stehen im krassen Gegensatz zur tiefgründigen Thematik, und rücken durch die fehlende verbale Unterstützung in den Vordergrund.

Eine kurzweilige, aber intensive Graphic Novel, die im Gedächtnis bleibt. Herzlichen Dank an den @avant_verlag für das #Rezensionsexemplar.

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Veröffentlicht am 10.11.2020

Beeindruckende Bilder

Tiger
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Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen. (S. 24)

Für die englischen Doktorandin Frieda ist die Arbeit mit Bonobos und das Verstehen ihres Wesens in vielerlei ...

Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen. (S. 24)

Für die englischen Doktorandin Frieda ist die Arbeit mit Bonobos und das Verstehen ihres Wesens in vielerlei Hinsicht eine willkommene Flucht vom Alltag. Doch nach einem schweren Vergehen wird ihr gekündigt, und sie verfällt wieder ihrer Depressionen, die sie seit einem lebensbedrohlichen Überfall begleiten. Als sie in einem kleinen Zoo in Devon eine neue Anstellung findet, wird sie den Tigern zugeteilt; sie soll sich um die neue Tigerdame Luna kümmern, die aus schlechten Verhältnissen gerettet wurde. Tiger waren für Frieda nie mehr als rohe Aggression, blutrünstige Gier – aber je mehr sie das elegante Wildtier kennenlernt, desto mehr begeistert sie sich für ihre eindrucksvolle, sensible Erscheinung – und erkennt einen Teil von sich selbst in ihm.

Auf den Spuren von Lunas Herkunft springt die Handlung zurück in den Osten Russlands, wo Ivan und sein Sohn Tomas ein Tigerreservat betreiben, wo Edith mit ihrer Tochter Sina im Wald lebt und sie das Überleben lehrt, wo die Gräfin auf verzweifelter Jagd nach Essen für sich und ihre Jungen durch ihr Gebiet streift. Und alle Fäden verbinden sich schließlich wieder bei Frieda in der Gegenwart.

Polly Clark erzählt mit einer ungeheuren Sprachgewalt und imposanten Bildern die Geschichte einer gebrochenen Frau, eines einsamen Mannes und eines zähen Kindes, die alle durch ihre Verbindung zu den eleganten Wildkatzen verbunden sind. Die Art und Weise, den Ursprüngen Lunas zu begegnen, hat sie großartig umgesetzt, voller Gefühl und Empathie, fesselnd und mitreißend. Der Einstieg rund um Frieda ist bei weitem mein liebster Teil des Romans und entsprechend ernüchtert war ich vom weiteren Verlauf: Ich konnte mich immer weniger mit den Protagonisten identifizieren, die Geschichte verlor phasenweise von ihrer einnehmenden Kraft, war langatmig, und gerade das Ende war dann sehr plötzlich und abrupt. Doch die Bilder, die Faszination, die die Autorin geweckt hat, sowie ihr Schreibstil beeindruckten mich, und so ist "Tiger" eine eindrucksvolle Komposition verschiedenster Charaktere vor dem Hintergrund einer fesselnden Handlung, die im Gedächtnis bleibt.

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Veröffentlicht am 05.11.2020

Leider enttäuschend

Jesolo
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Ich weiß nicht, liegt es an mir, liegt es am Adrenalin, oder bin ich tatsächlich glücklich. Vielleicht gibt es im Leben nur wenige Momente, in denen man’s spürt. (S. 20)

Andreas Leben ist okay; ihr Job, ...

Ich weiß nicht, liegt es an mir, liegt es am Adrenalin, oder bin ich tatsächlich glücklich. Vielleicht gibt es im Leben nur wenige Momente, in denen man’s spürt. (S. 20)

Andreas Leben ist okay; ihr Job, ihre Beziehung mit Georg, alles okay. Bis sie im alljährlichen Urlaub in Jesolo aus den ihr aufgezeigten Wegen bricht: Sie will ihre Zukunft noch nicht manifestieren, doch Georg möchte ein sicheres Fundament für ihr gemeinsames Leben, eine Familie, zwei Autos, ein Haus. Hin- und hergerissen findet sich Andrea zwischen den Fronten wieder, aus dem Dilemma scheint es keinen Ausweg zu geben. Als sie aus dem Urlaub wiederkommen, ändert sich jedoch alles – sie ist schwanger. Getrieben von den Erwartungen ihrer Freunde und Bekannten entscheidet sie sich für das Kind – und für eine gemeinsame Zukunft mit Georg, geht dafür einen Kompromiss nach dem anderen ein. Sie zieht ins Haus ihrer Schwiegereltern auf dem Dorf, obwohl sie immer in der Stadt wohnen wollte; sie nimmt einen Kredit auf, obwohl sie das nie wollte. Von allen Seiten prasseln Ratschläge auf Andrea nieder, und sie wird in eine Mutterrolle gedrängt, mit der sie sich nicht identifizieren kann.
Mit prägnanter Wortwahl und lakonischem Stil begleitet Tanja Raich in ihrem Debütroman eine junge Frau in den zehn Monaten ihrer Schwangerschaft, und erzählt von den Ambivalenzen von Beziehung, Schwangerschaft und Familie sowie gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen. Andrea leidet darunter, fügt sich unverständlicherweise jedoch allen Plänen der Familie ihres Freundes, trifft selbst keine bewussten Entscheidungen. Ihre scheinbar willenlose Art und ihre Unfähigkeit, ihre Bedenken zu kommunizieren, hat mir das Lesen sehr anstrengend gemacht. Bis zuletzt nimmt sie einfach alles hin, fügt sich ein, ohne auch nur ansatzweise querzuschlagen. Diese passive Art setzt die Autorin sprachlich jedoch wunderbar um: Der Roman lebt von seiner depressiven Stimmung, kurzen Sätzen und Monologen sowie der Erzählperspektive aus der zweiten Person. Zweifelsohne versucht Tanja Raich ein wichtiges Thema aufzubereiten, und so hat die Botschaft des Romans mich durchaus erreicht, doch insgesamt bin ich enttäuscht von dem Roman.

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Veröffentlicht am 02.11.2020

Nette Geschichte mit Ausbaupotenzial

Der Unvollendete
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Man ändert sein Leben nicht, um glücklich zu sein. (…) Es geht darum, nicht mehr im Widerspruch mit sich selber zu stehen. (S. 242)
Was ist dieses „Glück“ und wo kann man es finden? Anatol jedenfalls kennt ...

Man ändert sein Leben nicht, um glücklich zu sein. (…) Es geht darum, nicht mehr im Widerspruch mit sich selber zu stehen. (S. 242)
Was ist dieses „Glück“ und wo kann man es finden? Anatol jedenfalls kennt es nur vom Hörensagen, doch er sucht es weiterhin unermüdlich. Dabei muss er feststellen: Das Leben ist das, was man statt seiner Träume bekommt. Eigentlich wollte er als Schriftsteller den großen Durchbruch schaffen, wie es seinem Freund Max durch Zufall gelungen ist, doch nun schlägt er sich als Allrounder im Altenheim durchs Leben. Und auch mit der Liebe hapert es an allen Ecken und Enden: Seine Herzensdame erweist sich als Querulantin und quartiert in kurzerhand aus seiner eigenen Wohnung aus, sodass Anatol bei seinem Vater einziehen muss. Als sich ihm die Gelegenheit bietet, in Polen ein neues Leben als Wissenschaftler zu beginnen, wagt er sich nach kurzerhand ins Unbekannte, möchte er nicht länger ein „Unvollendeter“ sein – und muss schon bald erkennen, wie schwierig es ist, plötzlich ein anderer sein zu wollen.
Lukas Linder hat mit Anatol den typischen Antihelden erschaffen. Trotz steter Bemühungen und nur mäßigen Erfolgen lebt er besonnen sein Leben, allzeit bereit, den großen Coup zu landen. Er handelt oftmals naiv, wirkt unbedacht, was durch trotzige Metaphorik und teils starke Überzeichnung betont wird. Was phasenweise wirklich sehr unterhaltsam war, wirkte an vielen Stellen für meinen Geschmack zu unnatürlich, die Pointen zu gezwungen. Nichtsdestotrotz hat die Geschichte das gewisse Etwas, das mich doch unbewusst packte, aber nicht in Worte fassen kann. Vielleicht ist es die Neugier, ob dem armen Protagonisten letztlich auch etwas Gutes widerfahren würde, welche Wege die Handlung noch einschlagen könnte. Insgesamt eine solide Geschichte mit Potenzial!
Danke an den @keinundaberverlag!

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Veröffentlicht am 01.11.2020

Beeindruckend reflektiert!

Das Buch eines Sommers
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Was wäre ein Augenblick wert, würde das Leben ewig währen? Entspringt nicht die Kostbarkeit des Lebens unmittelbar aus seiner Endlichkeit? (S. 149)

Wie man wird, wer man im Innersten ist, unbedarft und ...

Was wäre ein Augenblick wert, würde das Leben ewig währen? Entspringt nicht die Kostbarkeit des Lebens unmittelbar aus seiner Endlichkeit? (S. 149)

Wie man wird, wer man im Innersten ist, unbedarft und glücklich – das soll Nicolas, der Protagonist von Bas Kasts Romandebüt „Das Buch eines Sommers“ ergründen. Er wollte immer Schriftsteller wie sein Onkel Valentin werden, doch das Leben kam dazwischen. Von Terminen und Aufträgen eingenommen, leitet er das Pharmaunternehmen seines verstorbenen Vaters, deren großes Projekt die Entdeckung des ewigen, beschwerdefreien Lebens ist. Darüber vergisst er, was im Leben wirklich zählt, bis er durch den Tod seines Onkels zurück auf den Boden geholt wird und beginnt zu verstehen.

Mit empathischen, einfachen Worten hat Bas Kast einen Roman geschrieben, der mehr ist als nur die seichte Geschichte eines überarbeiteten Mannes. Vielmehr fordert er den Leser mit scheinbar nebensächlichen Kindergeschichten und Bildern aus dem vergänglichen Leben eines Workaholics dazu auf, sein Leben zu reflektieren, seine Handlungen und Routinen zu hinterfragen, sich seinem Ursprung zu nähern. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir der Gedanke, wie sehr uns unsere Erziehung, unsere Kindheit in unserem späten Handeln und Leben beeinflussen, wie wir Halt an Vertrautem suchen; was würde sich für uns ändern, würden wir aus den gelegten Schienen ausbrächen, Dinge anders gemacht hätten? Entgegen der scheinbar schweren Kost ist das Buch erfrischend und von fesselndem Grundtempo, hätte aber gut und gerne noch viel länger sein können, um einige wichtige Gedanken noch weiter auszuführen. Auf den Punkt gebracht: ein intensives, erkenntnisreiches Buch, das mich nachhaltig beeindruckt hat.

Danke an den @diogenesverlag für das #Rezensionsexemplar!

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