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Veröffentlicht am 09.09.2024

Zähe Zeiten

Winterwölfe
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Dan Jones Essex Dogs-Trilogie scheint vor allem eines zu sein: klassisch. Der erste Teil lässt es erst einmal krachen, führt die Helden ein und am Ende gibt es noch einmal Lärm. Der zweite Teil lässt es ...

Dan Jones Essex Dogs-Trilogie scheint vor allem eines zu sein: klassisch. Der erste Teil lässt es erst einmal krachen, führt die Helden ein und am Ende gibt es noch einmal Lärm. Der zweite Teil lässt es ruhiger angehen und legt mehr Fokus auf einzelne Figuren. Der dritte Teil ist gespickt von Drama, von Abschieden und Entscheidungen.

Im ersten Band sind die Essex Dogs, eine Handvoll britischer Söldner, im Hundertjährigen Krieg in Frankreich gelandet, haben Städte erobert und Freunde verloren. Es ist das Jahr 1346, die Truppen von King Edward III haben die des französischen Königs in der verlustreichen Schlacht um Crecy geschlagen. Während die Dogs hoffen, endlich zurück nach England zu kommen, nehmen die Truppen Kurs auf Calais.

So viel zur Vorgeschichte. Kann man „Winterwölfe“ lesen, ohne „Essex Dogs“ gelesen zu haben? Eher nein. Das Thema des Historienromans ist zwar die Belagerung von Calais von 1346 bis 1347, aber Jones nimmt häufig Bezug auf den ersten Teil, auf bereits gestorbene Figuren und vergangene Schlachten. Aufgrund der Fülle der Figuren dürfte es schwer sein, der Geschichte in Gänze folgen zu können.

Drei Figuren stehen im Zentrum von „Winterwölfe“: Der Anführer der Dogs, Lovejoy, der junge Bogenschütze Romford und die mystische Squelette, die Rache an Prinz Edward für den Tod ihrer Familie und ihrer Vergewaltigung im Lager der Engländer nehmen will. Abwechselnd wird aus ihrer Sicht der Feldzug der Engländer in Richtung Calais, der Aufbau einer improvisierten Stadt und die fast einjährige Belagerung und das Aushungern der Bevölkerung erzählt.

Und es ist, wie erwähnt, der klassische zweite Teil: Es gibt nur wenige Schlachten (wem das ersten Band zu viel war, dürfte sich freuen), Jones legt den Fokus auf das Leben in Calais und direkt davor, das zähe Warten auf beiden Seiten der Mauer. Leider ist das Buch selbst dadurch auch zäher, zumindest phasenweise.

Mit der Flämin Hircent wird eine extrem unangenehme Figur eingeführt, die weder den Dogs noch den Leser:innen viel Freude bereitet. Und in Romfords manischen Visionen taucht der ehemalige Essex Dog Father wieder auf, im ersten Band verstorben, damals schon unangenehm und jetzt nicht besser. Und auch Lovejoy sind die Kriegstage und Lebensjahre anzumerken, er ist deutlich weniger energiegeladen, was den Ton von „Winterwölfe“ durchaus mitbestimmt. Ein bisschen schade ist, dass nur wenige Kapitel die Französin Squelette behandeln, die sich hungernd und frierende im Wald versteckt, auf Rache lauert und dann, möglicherweise, ein relativ schnelles Ende findet.

Aber: Es ist Jammern auf recht hohem Niveau. Jones beschreibt kleinere Episoden rund um die Belagerung von Calais durchaus unterhaltsam, zeigt anschaulich, wie eine kleine Kriegsstadt entstehen kann, was die Soldaten erleben und erdulden müssen, dass der Krieg nicht immer Unterschied einen zwischen Fußsoldaten und Rittern macht, wie neue Waffen wie die Kanone eingeführt werden. Und welche Leiden die belagerte Bevölkerung zu erleiden hat, welche Gräueltaten ihnen angetan werden. Wer sich für Geschichte interessiert, wer unkitschige Historienromane schätzt, der kommt hier sicherlich auf seine Kosten. Wer den Bezug auf das reale, aktuelle Zeitgeschehen macht, wird schwer schlucken müssen.

Bleibt offen, welchen Teil des Krieges das Finale der Trilogie behandelt – ob es einen Zeitsprung zur Landung in Bordeaux gibt oder Jones die verbliebenen Dogs einen unbekannteren Teil des Hundertjährigen Kriegs direkt nach Calais erleben lässt. Und ob es für Lovejoy eine Heimkehr nach England oder ein Grab in Frankreich geben wird. Recht sicher ist: Wenn Dan Jones bei seiner klassischen Komposition einer Trilogie bleibt, wird es am Ende noch einmal richtig krachen.

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Veröffentlicht am 30.08.2024

Dazwischenleben

Taumeln
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Beklemmend ist „Taumeln“ über weite Strecken. Beklemmend, aber furchtbar gut dabei. Denn in Sina Scherzants zweitem Roman treffen in einem kleinen Ort ganz viele Leute aufeinander, die irgendwie dazwischen ...

Beklemmend ist „Taumeln“ über weite Strecken. Beklemmend, aber furchtbar gut dabei. Denn in Sina Scherzants zweitem Roman treffen in einem kleinen Ort ganz viele Leute aufeinander, die irgendwie dazwischen leben, denen das Leben nicht gut oder sogar grausam mitgespielt hat. Das zu lesen ist kein Voyeurismus. Es ist eher Empathie – oder vielleicht sogar ein Hilfsmittel, Selbsterlebtes zu verarbeiten.

Das vermutlich schlimmste Schicksal haben Luisa und ihre Eltern erlitten. Luisas Schwester Hannah ist verschwunden. Seit zwei Jahren fehlt jegliche Spur von ihr. Luisa hat ihr Studium unterbrochen und wohnt wieder zuhause. Allein mit ihrem Vater, ihre Mutter ist traumatisiert, Broken Heart Syndrome, und in stationärer Behandlung.

Jedes Wochenende trifft sich Luisa mit einer Handvoll Menschen in Wanderkleidung und durchsucht den Wald nach einem Hinweis, nach einer Wahrheit zum Verbleib von Hannah. Ans Licht kommen aber nur die Versehrtheiten der anderen Gruppenmitglieder. Inge wurde erst von ihrem Mann, dann von ihrem Sohn geschlagen. Emma in Pflegefamilien und Jugendhilfeeinrichtungen aufgewachsen. Frank hat das Ende seiner ersten richtigen Beziehung und den frühen Tod seines Vaters nie verarbeitet. Und auch dem Rest geht’s irgendwie nur so halbwegs gut. Immerhin: Während sie über Wochen und Monate Hannah suchen und nichts finden, finden sie, zumindest zum Teil, sich selbst.

„Taumeln“ ist ein schmerzhaftes Buch. Ein trauriger Roman, dem die Leichtigkeit und der Witz von Scherzants auch nicht undramatischen Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ zwar fehlt, aber aufgrund seines Themas und seiner Stärke nicht vermissen lässt. Dabei muss man das von den Figuren Erlebte gar nicht selbst erlebt haben, nicht mal jemanden kennen, der da durchmusste (was fast unwahrscheinlich ist, aber hey, good for you).

Und so ist „Taumeln“ ein Buch, das Empathie fördert, zu Tage bringt, Leser:innen schlucken, Tränen verdrücken oder zumindest wissend nickend lässt. Sprachlich wundervoll in Szene gesetzt, nur an wenigen Stellen zu lang. Und manche Versehrtheit wird zumindest ein bisschen geheilt. Denn auch wenn der Roman – halber Spoiler-Alert – kein klassisches Happy End hat, so scheint sich das Leben einzelner Figuren doch zu einem besseren zu ändern. Mehr kann man nicht erwarten, von ehrlicher Literatur und vom Leben an sich.

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Veröffentlicht am 29.07.2024

Spätes Auflodern

Verbrannte Gnade
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Ein Krimi über einen Feuerteufel – und der Funke springt erstmal nicht über. Was eigentlich schade ist, denn seine Hauptfigur, Schwester Melody, ist großartig gezeichnet. Leider schafft Margot Douaihy ...

Ein Krimi über einen Feuerteufel – und der Funke springt erstmal nicht über. Was eigentlich schade ist, denn seine Hauptfigur, Schwester Melody, ist großartig gezeichnet. Leider schafft Margot Douaihy es trotz aller Bemühen nicht, New Orleans als Kulisse aufzubauen. Macht aber nichts, denn hinten raus wird das Buch spannend und macht Lust auf mehr.

Ein Feuer bricht an der Saint Sebastian Klosterschule aus, Hausmeister Jack stürzt tot aus einem Fenster, zwei Schüler werden in letzter Sekunde von Schwester Holiday lebensgefährlich verletzt aus dem brennenden Gebäude gerettet. Während die Nonne selbst unter Verdacht gerät, macht sie sich auf die Suche nach den Schuldigen. Und auf ihrer Verdachtsliste stehen so manche Personen – von einer missmutigen Nonne über eine Physiklehrerin bis zu einem Krawallschüler. Aber so richtig scheint nichts zu passen, während Sachen aus ihrem eigenen Fundus verschwinden und in der Nähe weiterer Tatort auftauchen.

Ich bin kein ausgemachter Krimileser, daher fehlt mir ein bisschen der Quervergleich zu verwandten Büchern. Aber der Fall ist durchaus spannend, manchmal scheinen ein paar Logiklöcher eher mühevoll gestopft zu sein und mein erster Täterverdacht sollte sich als richtig erweisen. Dennoch ist es ein Buch mit zwei Geschichten, denn neben des Kriminalfalls geht es vor allem um Holiday Walsh, frühere Punkrock-Sängerin, die ihre Tattoos im Klosterleben abdecken und ihre Vergangenheit verstecken muss. Immer mehr Details werden verraten, von ihrer großen Liebe Nina, von ihrer Familientragödie. Und tatsächlich macht es sehr viel Freude (und auch Leid), in Holidays Leben einzutauchen und mehr über ihren Weg von New Yorker Konzertbühnen in das Kloster in The Big Easy zu erfahren.

Der Einstieg ist dennoch etwas zäh, die am Anfang recht langen Kapitel – am Ende erhöht sich die Schlagzahl deutlich, die Abschnitte sind oft nur noch wenige Seiten lang – machten mir den Beginn, trotz des ersten Feuers auf den ersten Seiten, etwas mühevoll. Fast klischeemäßig beschreibt Douaihy die Schwüle von New Orleans, den Jazz, alles irgendwie zu bekannt und ohne, dass ich persönlich in die Welt Nahe des Missisippi-Deltas hineingezogen wurde.

Aber die Stärken des Buch sind andere, vor allem die Figuren, die noch viel Potenzial für die Folgebände bieten. Vom zweiten Hausmeister Bernand über die Antagonistin und potenzielle neue Love Interest in Form der Physiklehrerin Rosemary Flynn, den Geschichtslehrer John mit seiner an ALS-erkrankten Frau, den Ermittlern und natürlich die Mitschwestern im Kloster Saint Sebastian. Und nein, nicht alles ist perfekt, vielleicht fehlt an manchen Stellen auch die Tiefe, aber irgendwann, nach so 100, vielleicht 150 der etwas über 350 Seiten, wird „Verbrannte Gnade“ zu einem durchaus charmanten, sehr lesenswerten Pageturner.

Auch wenn ich es am Anfang nicht erwartet hätte, ein sehr lesenswerter Krimi mit einem brandheißen Fall, einer tollen Hauptfigur und spannenden Nebencharaketeren und ein guter Einstieg in eine neue Serie. Und falls das jemand befürchtet oder erhofft: Nein, das Buch ist kein Stück blasphemisch. Trotz Punkrock und Queerness. Oder vielleicht sogar genau deswegen.

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Veröffentlicht am 19.07.2024

Mutmacher für Pflanzenanfänger:innen

Zimmerpflanzenliebe
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In meiner Wunschvorstellung ist mein Daumen grün, mein Wohnzimmer voller lebendiger Pflanzen und mein Badezimmer ein kleiner Dschungel mit ein paar LEGO Papageien als Deko. In der Realität: Daumen braun, ...

In meiner Wunschvorstellung ist mein Daumen grün, mein Wohnzimmer voller lebendiger Pflanzen und mein Badezimmer ein kleiner Dschungel mit ein paar LEGO Papageien als Deko. In der Realität: Daumen braun, Pflanzen halbtot – oder robuste Kakteenarten, denen nicht mal ich etwas anhaben kann, sei es durch zu viel oder zu wenig Wasser. Meine letzte Hoffnung heißt also „Zimmerpflanzenliebe“, das Buch von Antonia Hartwich. No pressure, @tonidendron!

Direkt mal zum Schönsten: Die Haptik. Das Buch fühlt sich gut an, das matte Papier sieht gut aus und – ja, klingt vielleicht komisch – es riecht auch gut. Hat man auch nicht alle Tage, dass man ein Buch mit fast allen Sinnen genießen kann. Schmecken muss man ja nicht unbedingt probieren.

Jetzt aber, Zimmerpflanzenliebe – wir gehen rein! Die Basics gehen schon einmal auf die wichtigen Themen Licht, Standort, Wuchs und Luftfeuchtigkeit ein. Meistens hat man ja maximal einen kleinen Zettel an der Pflanze, der Sonne oder Halbschatten anzeigt und damit wenig genug Informationen, um die Pflanze innerhalb von zwei Wochen auf den Kompost umziehen zu lassen. Megaspannend persönlich für mich: das Kapitel #soilmatters. Vermutlich eine Tatsache, die ich bei meinen verblichenen Zimmerpflanzen zu wenig beachtet habe und auch mit einem kleinen Erdmix-Rezept versehen, das ausprobiert wird. Aber kommen wir zu den Pflanzen.

Was ich wirklich liebe, ist die Aufbereitung der Seiten. Schöne Fotos, ja, sind das eine, aber: Der Quick Care zu jeder Pflanze ist Gold wert. Was mag die Pflanze, was mag sie nicht, was braucht sie, kann ich sie vermehren? Einfach kurz zusammengefasst, nicht zu lang, nicht zu kurz. Mag ich. Und selbst die kleinen Übersichtsseiten mit verwandten oder ähnlichen Pflanzen sind auf den Punkt, um sich an den Einzug und die Pflege der Blattträger vorzubereiten.

Persönlich habe ich nach dem Buch auch schon eine Wunschliste, um Haus und vor allem Bad zu begrünen. Natürlich noch mal die Monstera – in der Vergangenheit bestimmt einfach zu wenig gedüngt -, Sagopalmfarn, Leuchterblumen, Flamingoblume und Zwergpfeffer – kommt in meine Arme! Und irgendwann, wenn ich mich rantraue, auch eine Mondsamenpflanze.

Zimmerpflanzenliebe ist ein tolles Buch. Ein super Geschenk für alle, die neidisch auf die Grünpflanzen von Kolleg:innen im Video-Call schauen oder sich am liebsten schon mal bei Freund:innen einen Steckling mit nach Hause genommen hätten, aber Angst hatten, ihn sofort in Kompost zu verwandeln. Richtige Pflanzenexpert:innen können aber sicher auch noch etwas mitnehmen, neue Pflanzen kennenlernen oder ihre dokumentieren. Ich bin jedenfalls Fan – und frohen Mutes, hier mehr als LEGO Blumen züchten zu können.

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Veröffentlicht am 18.07.2024

Albtraumreise

Solito
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Die erste Nacht nach dem letzten Kapitel von Solito habe ich schlecht geschlafen. Immer wieder schweiften meine Gedanken und Traumfetzen in die Wüste zwischen Mexiko und den USA, die Hitze der Tage, zu ...

Die erste Nacht nach dem letzten Kapitel von Solito habe ich schlecht geschlafen. Immer wieder schweiften meine Gedanken und Traumfetzen in die Wüste zwischen Mexiko und den USA, die Hitze der Tage, zu leeren Wasserflaschen und trockenen Kakteen. „Solito“ ist ein trauriges, gnadenloses Buch und noch trauriger und gnadenloser muss es für den Autor gewesen sein – denn es ist seine Geschichte.

Mit neun Jahren wird Javier Zamora auf die Reise geschickt. Klingt nach Ferien, bedeutet Flucht und ist in Wahrheit ein Horrortrip durch Mittelamerika. Seine Eltern sind schon vor Jahren in die Vereinigten Staaten geflüchtet, jetzt soll ihr Sohn groß genug und das Budget da sein, ihn mithilfe von Kojoten, Schleppern, über die Grenzen zu sich zu holen. Während er sein Großvater ihn auf dem ersten Weg nach Guatemala begleitet, ist Javier anschließend auf sich allein gestellt – und überlebt nur dank Chino, Patricia und Carla, die eine Art Ersatzfamilie für ihn werden.

In den vergangenen Jahren hat man, wenn man wollte, viel über Flüchtlingsbewegungen lesen können. Meist über europäische, aber auch die mexikanisch-amerikanische Grenze war unter Trump immer mal wieder ein Thema. Häufig ging es da aber nur um Steine für die Mauer, nicht um Menschenleben. Schaut man mal genauer hin, liest man erschreckende Zahlen: Zwischen 1998 und 2016, also auch während der Zeit, in der Solito spielt – 1999 – starben mehr als 6.500 Menschen auf dem Fluchtweg in die USA. Die meisten von ihnen an Hitze und Wassermangel.

Auch Javier Zamora wäre fast eine Zahl in dieser Statistik geworden, die entsprechenden Kapitel sind schwer zu lesen und noch schwerer zu ertragen. Aber: Es gibt auch Gutes und Güte. Da sind Patricia, ihre Tochter Carla und Chino, die Teil von Javiers Fluchtgruppe sind, und den Neunjährigen in den Arm nehmen, mit Wasser versorgen, ihn tragen. Da ist die von Nonnen geführte Herberge, die Flüchtlingen ein Bett und Mahlzeiten bietet, die von den USA zurück nach Mexiko gebracht werden. Da ist der Polizist mit mexikanischen Wurzeln, der mehr als nur ein Auge zudrückt, als es für die kleine Gruppe brenzlig wird.

Eine Stärke des Autors ist es, die Lesegeschwindigkeit extrem zu beeinflussen. Der Anfang ist stotternd, während Javier auf den Beginn der Flucht wartet. Und auch die zwei Wochen in einer dunklen Wohnung sind so zäh, wie es für die Gruppe gewesen sein muss. Doch geht es über das Wasser, durch die Wüste, zu Fuß oder in Reisebussen, steigt der Adrenalinpegel und man fliegt nur so durch die Seiten. Kleine Stolperfallen sind maximal die vielen spanischen Begriffe und Sätze, die im Glossar übersetzt werden. Hier sind ein bisschen die Leser:innen für sich selbst gefragt: Blättere ich hin und her? Versuche ich mir den Kontext zu erschließen? Spreche ich selbst genug Spanisch, um alles zu verstehen? Störend ist es vermutlich nicht.

Was mit den Wegbegleitern Zamoras passiert ist, bleibt übrigens größtenteils im Dunkeln. Kontakt zu seiner Fluchtfamilie hat er nicht mehr, sie hat sich – Stand Februar 2024, vermutlich auch aktuell – noch nicht bei ihm gemeldet, sofern sie sein Buch gelesen hat oder noch am Leben sind. Für den Autoren übrigens nachvollziehbar: Er weiß nicht, ob sie sich komplett wohl mit seiner Erzählung fühlen. Für ihn war es in jedem Fall wichtig, um die traumatische Albtraumreise im Alter von neun Jahren, die statt zwei fast acht Wochen dauerte, zu verarbeiten. Denn der Dank zu diesem Buch, gilt auch seiner Therapeutin. Und man mag kaum vermuten, wie viel Arbeit es ist, über so ein Erlebnis hinwegzukommen.

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