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Veröffentlicht am 22.04.2024

Was für eine (Wieder-)Entdeckung!

Nachbarn
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Warum ich diesen Kurzgeschichtenband so mag? Um es mit Tayari Jones Worten zu sagen (Nachwort, Ü: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg): "Oliver zeigt ein beeindruckend vielschichtiges Verständnis für ...

Warum ich diesen Kurzgeschichtenband so mag? Um es mit Tayari Jones Worten zu sagen (Nachwort, Ü: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg): "Oliver zeigt ein beeindruckend vielschichtiges Verständnis für die Bandbreite Schwarzen Lebens in den Südstaaten. Sie gewährt Einblick in das Leben einer Frau in prekären Umständen, die viele Meilen zu Fuß geht, um ihre Kinder zum Arzt zu bringen. Sie kann sich in ein Paar einfühlen, das vom Rassismus zu einem Leben im Wald getrieben und dann von mörderischer Wut erfasst wird. Sie weiß, warum notleidende Familien alles verkaufen, um sich Zugfahrkarten in den Norden leisten zu können, auch wenn sie nicht wissen, was sie dort erwartet. Sie kann aber auch das Innenleben einer Arztgattin schildern, die gezwungen ist, eine missmutige Stieftochter zu beherbergen, gerade als das Zusammenleben von Schwarz und Weiß überall neue Formen annimmt." Und diese Vielschichtigkeit ist es dann unter anderem auch, die diese Kurzgeschichtensammlung oder besser gesagt den Nachlass von Diane Oliver für mich so faszinierend macht. Zuerst hatte ich beim Lesen noch Bilder des Filmes "The Help" vor Augen, betrübte Szenen einer sehr deutlichen, harten Klassengesellschaft, die auf Äußerlichkeiten, Herkunft und Abstammung beruht, aber umso mehr ich von Olivers Worten, den beschriebenen Charakteren und Lebensverhältnissen eingenommen wurde, umso mehr vergaß ich die äußerlichen Gegebenheiten und Zuschreibungen und fühlte diese Tiefe, die so viel Trauer, Angst, Sorgen, Hoffnung und ein Leben(-skampf) offenbart, das(den) man sich als toleranter, weißer Mensch so gar nicht vorstellen mag. Es ist hart zu lesen, obwohl man bei diesen kurzen Szenen und Einblicken in die verschiedensten Lebensverhältnisse Schwarzer nie so wirklich den Ausgang ihrer Geschichte erfährt... aber vielleicht muss man das auch gar nicht, denn viele der beschriebenen Probleme existieren auch heute noch, mehr als 60 Jahre später. Und das obwohl man eigentlich denkt, es hätte sich auf der Welt im Laufe der Zeit viel getan, aber Rassismus, Ausgrenzungen, Ver- und Beurteilungen, unterschiedliche Behandlungen und und und sind auch heute noch allgegenwärtig.

Ich kann gar nicht sagen, welche der vierzehn Kurzgeschichten meine liebste ist, denn auch wenn sie alle ihren eigenen Rahmen und Charaktere haben, so gehen sie doch an einigen Stellen nahtlos ineinander über. In der titelgebenden Geschichte "Nachbarn" beleuchtet Oliver z.B. die Sorgen der Nachbarn, Freunde und Familie eines Kindes, das nach Aufhebung der Rassentrennung an eine weiße Schule gehen soll und schon im Vorfeld große Widerstände zu spüren bekommt. Und selbst wenn dieses 'Vorhaben' gelingt und als Fortschritt gesehen werden kann, so ist es Winifred, die gleich in der darauf folgenden Geschichte, die einzige Schwarze am College ist und sehr unter ihren Mitschülerinnen leidet, von ihnen fast schon als Ausstellungobjekt angesehen wird, bis sie "nicht [mehr] genug für ihr College" ist und abreist. Es sind so diese kleinen Szenen und ihre Folgen, die doch von so viel mehr erzählen, die eigentlichen Held*innengeschichten bereithaltenden und dabei den Druck der (weißen) Gesellschaft nie aus den Augen verlieren.
Sehr klug, weniger erklärend und doch so allumfassend, politisch, gesellschaftlich, wie menschlich... ein wirklich rundum großes Leseereignis, das mich noch lange beschäftigen wird, meine nun mal sehr weiß geprägte Sicht auf die Welt erneut bereichert hat, mich getroffen hat. Ich möchte nun eigentlich nicht "großes Kino" sagen, denn dafür sind die beschriebenen Lebensumstände viel zu real und doch ist das beim Lesen entstehende, imaginäre Bild so ergreifend, mitreißend und intensiv, dass es die beste Umschreibung wäre, die mir dazu einfällt. Schade nur, dass Diane Oliver das selbst nun alles nicht mehr miterleben kann und ein Unfall sie so früh aus dem Leben riss... was hätte da noch alles folgen können. "Nachbarn" von Diane Oliver - eine überraschend große Empfehlung!

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Veröffentlicht am 25.03.2024

Nur einzelne Lichtungen in all der Dunkelheit

Lichtungen
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Für Iris Wolffs Roman "Lichtungen" habe ich mich mal wieder viel zu schnell von anderen begeistern und beeinflussen lassen, denn eigentlich merkte ich bereits bei "Die Unschärfe der Welt" dass ihr Schreibstil ...

Für Iris Wolffs Roman "Lichtungen" habe ich mich mal wieder viel zu schnell von anderen begeistern und beeinflussen lassen, denn eigentlich merkte ich bereits bei "Die Unschärfe der Welt" dass ihr Schreibstil und die Aneinanderreihung von Gedanken bei mir nicht das auslösen, was andere dabei empfinden. Und so hatte ich dann auch recht schnell mit "Lichtungen" so meine Probleme. Die vordergründig thematisierte Freundschaft zwischen Lev und Keto, die seit Kindertagen besteht und sie nun über die Grenzen hinaus durch Europa begleitet, die Straßenkunst und die Begeisterung füreinander hatten es mir gerade in den ersten Kapiteln besonders angetan. Doch durch Wolffs Aufbau und die Art der Rückwärtserzählung, musste ich bald feststellen, dass eben jene Szenen die ersten und letzten ihrer Art sein werden.

"In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine."

... sind vielleicht die treffendsten Zeilen die diesen Roman beschreiben. Diese Geschichte lebt von den gemeinsamen Erinnerungen, von den Lichtblicken und Gedankensplittern, von kurz aufblitzenden Ereignissen der Geschichte, wie das Unglück in Tschernobyl, die beim Lesen weitere Erinnerungen hervorrufen und eine zeitliche Einordnung ermöglichen.
Gerne denke ich an diesen Moment zurück, als Kato, begleitet von einem goldfarbenen Pantomimen, ein Bild auf die Straße malt und Lev sie dabei beobachtet und die Kunst eine ganz neue Perspektive gewinnt, fast schon eine Verbindung zwischen Künstlerin, Straße und dem normalen Leben eingeht. Alles andere drum herum verwischt, bis auf ein paar Postkartenmomente und Umschreibungen. Die Rückwärtserzählung machte es noch zusätzlich schwieriger für mich einen gewissen Lesefluss aufrecht zu erhalten. Nach jedem Kapitel ein Neuanfang, ein weiterer losgelöster Moment, wenn man so will, in ihrer beider Geschichte.

"Die Kunst war ein Spiel zwischen Zeigen und Verbergen. Das Leben auch? Es gab das Sichtbare und das Unsichtbare, und nur das Wenigste kam überhaupt ans Licht. Manches konnte man in sich verstecken, bis man vergaß, dass es einmal gewesen war. Anderes nicht."

Und diese Kunst beherrscht Wolff wirklich gut. Viele wohlklingende Sätze und 'Lichtungen' reihen sich aneinander und doch hatte ich stets das Gefühl die Geschichte kaum greifen zu können, Wesentliches nicht zu wissen bzw. dieses Wesentliche mir erst mühsam erarbeiten zu müssen. Und da verlor sich meine Begeisterung. Auch der große Aha-Moment blieb für mich aus, einzig ein irgendwie wärmendes Gefühl zwischen all dem Beschriebenen blieb zurück. Man frage mich nicht, was genau ich gelesen habe oder ob ich die Geschichte wirklich verstanden habe. Ich würde sagen, einzelne Erinnerungen sind noch da, alles andere liegt schon wieder im Dunkeln verborgen und das finde ich dann sehr schade, zumindest hatte ich mir mehr erhofft.

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Veröffentlicht am 12.02.2024

Wiederkehr mit Folgen...

Krummes Holz
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Vor fünf Jahren hat Jirka den Hof im Krummen Holz verlassen, das Drängen seiner älteren Schwester Malene und vor Monaten die Bitte ihr gegen den Vater beizustehen ignoriert. Doch ausgerechnet jetzt, wo ...

Vor fünf Jahren hat Jirka den Hof im Krummen Holz verlassen, das Drängen seiner älteren Schwester Malene und vor Monaten die Bitte ihr gegen den Vater beizustehen ignoriert. Doch ausgerechnet jetzt, wo alles zu spät scheint, der Hof sehr heruntergekommen ist und seinen ehemaligen Glanz verloren hat, nur noch Leander, Malene und die demente Großmutter vor Ort sind, der Vater seit Tagen verschwunden... ausgerechnet jetzt kehrt Jirka zurück. Den 19-Jährigen erwartet eine Wand aus Schweigen, Enttäuschung, Feindseligkeit und Wut. Er fühlt sich als Fremdkörper in der einstigen Heimat und sieht erneut mit den Erinnerungen an seine Kindheit konfrontiert. Mit der Zeit gelangt viel Unausgesprochenes an die Oberfläche, doch ob es zwischen ihnen jemals so wie früher wird, er wieder geht oder bleibt und wie es mit ihnen und dem Hof weitergehen wird, steht noch lange in den Sternen...

"Malenes größte Angst war es, den Hof zu verlieren. Ich verstehe das erst jetzt. In der Rückschau. Und ich kann meine Angst darüberlegen und sie vergleichen.
Ich hab richtig Muffe. Wenn ich gehe, dann werde ich für immer gehen. Der Hof ist mir dabei fast egal. Aber Malene, die ist so verwachsen mit diesem Ort, dass es auch zu ihr kein Zurück geben wird."

Was zunächst nach einer sehr intensiven Auseinandersetzung, einem etwas ländlich-karg-geprägten Roman klingt, der zwischen rauen Momenten, Szenen vom Leben auf einem Gutshof, Gedanken über die mit der Zeit/Abwesenheit entwickelte Veränderung und des Heimkommens tangiert, entwickelte sich für mich leider zu einer sehr fraglichen Geschichte. Ich möchte nun nicht zu viel verraten, aber hätte ich vorher gewusst, dass es hier nicht nur um das Durchbrechen des Schweigens und die erneute Annäherung zwischen den beiden Geschwistern geht und "Krummes Holz" von Julja Linhof teilweise eher in die Richtung Gayfantasy abdriftet, hätte ich wahrscheinlich nicht zu diesem Buch gegriffen. Auch das Schweigen und die Suche nach dem Vater haben es mir im weiteren Verlauf sehr schwer gemacht überhaupt eine Freude an diesem Roman zu entwickeln... vieles war mir zu bemüht, zu abwegig, zu viel angerissen und nicht wirklich ausgeführt. So konnte ich dann leider auch keinem der Protagonist*innen wirklich nahe gekommen oder begeisternd davon berichten. Es ist ein netter Roman zur Berieselung und Unterhaltung, aber sobald man selbst Fragen stellt, unter atmosphärisch mehr erwartet als Bäume im Wind, deren Brandung durchs geöffnete Autofenster schlägt oder der/die, wie ich, in Büchern nicht auf Eifersuchtsdramen steht, dem würde ich eher davon abraten.

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Veröffentlicht am 11.02.2024

Ein ganz besonderer, herzlicher und mitreißender Einblick - Lübeck im Jahre 1890

Unsereins
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Häufig frage ich mich, wenn ich durch Lübecks Straßen, Gassen und Gänge laufe, was diese alten Häuser wohl für Geschichten zu erzählen hätten. Dieser Gegensatz von prunkvollen Fassaden an den Hauptstraßen ...

Häufig frage ich mich, wenn ich durch Lübecks Straßen, Gassen und Gänge laufe, was diese alten Häuser wohl für Geschichten zu erzählen hätten. Dieser Gegensatz von prunkvollen Fassaden an den Hauptstraßen und den sehr einfachen Hinterhäusern fasziniert mich schon lange und lässt mich spätestens seit Svealena Kutschkes Roman „Stadt aus Rauch“ nicht mehr los. Natürlich könnte ich an dieser Stelle auch Thomas Manns „Buddenbrooks“ erwähnen, doch dieses Buch reizte mich nie, generell habe ich für Geschichten von Adligen und bessergestellten Familien nicht so den Nerv, war es doch häufig nur Zufall in jene angesehene Familien hineingeboren zu sein und ihre Taten, die mehr auf sich, ihren Ruf und Ansehen bedacht waren… nun ja. Die wahren Überlebenskünstler sind dann doch die einfachen Leute, eben jene aus dem Hinterhaus oder die Bediensteten der anderen. Und so freute ich mich wirklich sehr auf Inger-Maria Mahlkes Roman „Unsereins“ der diese Menschen in den Fokus rückt, die alles am Laufen hielten… die einfacheren Menschen, die Köchinnen, Dienstmädchen und Lohndiener, die Bediensteten und Kaufläute.
„Unsereins“ ist dabei mehr so ein kaleidoskopartiger Roman, der nicht mal unbedingt so einen mitreißenden Plot hat, geschweige denn braucht. Das Herz sind diese unterschiedlichen Charaktere, die lose miteinander verknüpft sind. Familienmitglieder, Freunde, Bekanntschaften - diese liebevollen Figuren mit ihren Erlebnissen und Geschichten umringt von ihren Pflichten und Diensten. Mit jeder Seite kommt man ihnen näher, lernt sie lieben oder sie lernen es zu lieben, amüsiert sich über skurrile Situationen oder ist bewegt von der Armut und den Zuständen um 1890. Ich habe diesen Roman wahnsinnig geliebt, finde dieses Gegenstück zu den Buddenbrooks wirklich großartig und ja, ich wollte ehrlich gesagt gar nicht, dass dieses Buch jemals ein Ende findet. Ein große Empfehlung, für alle die historische, atmosphärische Romane lieben und mehr über das Damals und die nur selten erwähnten Lebensgeschichten und -realitäten lesen mag. Ich hoffe sehr auf eine Fortsetzung… denn, wie der letzte satz so schön heißt: „vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“

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Veröffentlicht am 23.01.2024

Große Themen, kleiner Trank... ein ungewöhnlich, intensiver Blick auf die Liebe, das Leben und seine Herausforderungen

Wellness
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"Woher wissen wir, was wahr ist?" ist vielleicht die übergeordnete Frage der sich Nathan Hill in seinem Roman "Wellness" stellt. In diesem Fall bietet das Unternehmen Wellness eine Art Liebestrank, der ...


"Woher wissen wir, was wahr ist?" ist vielleicht die übergeordnete Frage der sich Nathan Hill in seinem Roman "Wellness" stellt. In diesem Fall bietet das Unternehmen Wellness eine Art Liebestrank, der die zwischenmenschlichen Beziehungen, Gedanken, Gefühle und Hormone beeinflussen und der Liebe wieder Auftrieb verleihen soll... doch ist es wirklich so einfach?

In kurz würde das Wort Eheroman dieses Buch am besten beschreiben. Es geht um Jack Baker und Elizabeth Augustine, die beide aus ganz unterschiedlichen Beweggründen 1993 nach Chicago kommen, recht nah beieinander wohnen, sich gegenseitig beobachten und fasziniert vom jeweils anderen sind. Sie studiert Psychologie. Er ist Künstler, fotografiert und lernt am Art Institute of Chicago. Durch eine zufällige Begegnung in einer Bar kommen sie sich sehr schnell näher, fast als seien sie Seelenverwandte. Es folgt ein gemeinsames Leben, ein Kind und eine Ehekrise, denn nach all den Jahren fühlt es sich für beide nicht mehr richtig an. Eigentlich wollen sie eine gemeinsame Eigentumswohnung beziehen, doch bereits bei der Planung, der Möglichkeit für zwei getrennte Schlafzimmer und bei dem damit verbundenen Gedanken an die Zukunft, gehen ihre Meinungen auseinander. Und dann ist da noch Toby, dessen Erziehung Elizabeth immer wieder überfordert, an ihre Grenzen stoßen und sich als Versagerin fühlen lässt. Immer häufiger stellen sich beide die Sinnfrage... ist ihre Ehe noch zu retten oder ist ihre Liebe bereits komplett erloschen?

"Jedes Paar hat eine Geschichte, die es sich selbst erzählt, eine Geschichte, die wie eine Maschine unter ihnen dahinschnurrt und sie durch alle möglichen Fährnisse und voran in die Zukunft treibt. Für Jack und Elizabeth handelte diese Geschichte von einer Liebe auf den ersten Blick, von zwei Träumern, die ihre andere Hälfte entdecken, von zwei Waisenkindern, die ein Zuhause fanden, von zwei Menschen, die einander verstanden - einander kapierten -, sofort und mit Leichtigkeit. Aber Geschichten haben nur Kraft, solange man sie glaubt..."

Wie sich an diesem Zitat vielleicht schon erahnen lässt steckt in diesem Buch noch viel mehr, als nur die Geschichte einer Ehe. Nathan Hill ergründet am Beispiel von Jack und Elizabeth die Wahrheit, sofern sich überhaupt von einer übergeordneten und nicht subjektiven Wahrheit sprechen lässt. Wir tauchen in ihre Familiengeschichten ein, lernen mittels Elizabeths Anstellung psychologische Studien über das Verhalten von Kindern und die Liebe kennen, driften ab in Traumata, die beider Leben belasten, und Erinnerungen, die sie begleiten, prägen und unbewusst einen viel größeren Einfluss auf ihr beider Leben nehmen. Es geht um den Glauben, die Hoffnung, Verschwörungstheorien, das Internet und den Einfluss von Algorithmen auf unsere Wahrnehmung, Verschwörungstheorien, alternative Heilbehandlungen, Placebos, zurechtgedrehte Wahrheiten und und und.
Und genau diese psychologische Auseinandersetzung mit der Wahrheit ist es, was diesen Roman so unglaublich faszinierend und lehrreich macht. Ich würde fast schon sagen, dass dieser Roman, sofern man es zulässt, Verständnis für andere (Welt-)Anschauungen schafft, Empathie und Offenheit fördert und einen selbst anders über eigene Erinnerungen und bedeutsame Erlebnisse des Lebens denken lässt, vielleicht sogar andere Perspektiven eröffnet.

"Im Lauf der Jahre habe ich festgestellt, dass die Menschen dazu tendieren, automatisch zu handeln und zu denken, aber wenn man sie drängt, zu erklären, warum sie etwas Bestimmtes tun oder sagen, füllen sie die Lücke und erfinden eine Geschichte. Und erstaunlicherweise glauben sie diese Geschichte."

Wenn Wahrheit nur eine Geschichte ist, die uns unser Leid verdrängen lässt, Schuldigkeit sucht, Hoffnung liefert, uns, durch ständige Wiederholungen der Erzählung, immer mehr daran glauben lässt, dass alles so geschehen ist, so gedacht wurde, andere aus den und den Gründen so handelten und wir den optimalen Weg aufgrund dessen gelaufen sind, gelebt haben oder eben jenes vorbestimmt ist, in wie weit ist es dann noch die Wahrheit? In wie weit können Studien überhaupt wirkliche und verlässliche Auskünfte geben? Die subjektive Wahrnehmung, das Nicht-begreifen-können des Ganzen, das auf Ausschnitte komprimierte Verständnis und die Ausprägungen der Gefühle, die sich nicht immer so leicht zuordnen lassen, wie wir hoffen... das alles erschafft in Form dieses Romans und bei weiterer Betrachtung ein großes Fragezeichen und zeitgleich ermöglicht es einen intensiven Austausch mit sich selbst, der Welt und ihren Möglichkeiten.

Der anfängliche Eindruck von Seelenverwandtschaft, Aufbruch und perfekten Leben, also das, was wir, wie Jack und Elizabeth, gerne öffentlich zu zeigen bereit sind und mit dem sie/wir uns gerne positionieren, fängt an, mit jedem weiteren Blick, jeder tiefgründigeren Frage zu bröckeln. Hills Nachforschungen, jedes weitere Kapitel eröffnet einen Blick auf Wunden, Schnitzer, Zuschreibungen und die Lebenswege seiner Protagonisten... sodass am Ende die blanke Wahrheit, ihre "kaputten" Leben und prägenden Traumata sichtbar werden. Und das ist tatsächlich ein Ritt, ein schrittweises Näherkommen und bei knapp 730 Seiten auch ein wenig Arbeit, die Hill sich, seinen Protagnisten und uns abverlangt. Zeitweise fällt es wirklich schwer, noch weitere Informationen aufzunehmen, weitere Anekdoten kennenzulernen und zuordnen zu können. Sehr lange hatte ich auch das Gefühl diesen beiden Menschen kaum näherzukommen. Zahlreiche rote Fäden werden aufgegriffen, Vergangenes erzählt, Studien angeführt, fallen gelassen, bis am Ende alles, fast schon magisch, ein komplettes Bild ergibt und viel mehr offenbart, als mir beim Lesen direkt bewusst war. Und obwohl ich schon anfangs dachte, dass ich dieses Buch mag, so hat es mich, fernab dieser ganzen interessanten Fakten und psychologischen Gedanken, doch erst am Ende so richtig abgeholt und begeistern können. Der weitere Denkprozess im Nachhinein, die Möglichkeit schonungslos mit seinem eigenen Leben zu beschäftigen ist dabei nicht zu verachten. Ein wirklich großes Buch, eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Sein und Tun, sowie eine fast schon traurige, augenöffnende Wahrheit, sofern diese dann auch die Wahrheit, Gewissheit und keine weitere Simulation ist.

"Gewissheit war nur die Geschichte, die der Verstand erdachte, um sich gegen den Schmerz des Lebens zu verteidigen. Was quasi per Definition bedeutete, dass Gewissheit ein Weg war, dem Leben auszuweichen. Man konnte sich für die Gewissheit entscheiden, oder man konnte sich entscheiden, lebendig zu sein."

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