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Veröffentlicht am 22.04.2019

Natasha Bell – Alexandra

Alexandra
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Alexandra und Marc sind mit ihren zwei Kindern eine beneidenswerte Musterfamilie. Beide lehren sie an der Uni und sind mit ihrem Leben glücklich. Bis zu dem Tag, an dem Alexandra spurlos verschwindet. ...

Alexandra und Marc sind mit ihren zwei Kindern eine beneidenswerte Musterfamilie. Beide lehren sie an der Uni und sind mit ihrem Leben glücklich. Bis zu dem Tag, an dem Alexandra spurlos verschwindet. Sie kommt nicht von der Arbeit nach Hause, wenige Tage später findet die Polizei ihr Fahrrad und blutverschmierte Kleidung. Wurde sie Opfer eines Gewaltverbrechens? Marc will nicht an den Tod seiner Frau glauben, er weiß, dass sie lebt, aber sie würde doch nie einfach so verschwinden und ihn und die Töchter alleine lassen? Die Polizei scheint anderer Meinung, hält sich aber zurück. Das Leben geht unaufhaltsam weiter und nach und nach tauchen Indizien auf, die Marc ins Zweifeln bringen. Und Alexandra muss all dies aus der Ferne mitansehen.

Natasha Bell hat ihren Psychothriller geschickt aufgebaut: wir erleben die Tage und Wochen nach Alexandras Verschwinden, Flashbacks erlauben einen Blick hinter die Fassade des Familienlebens vor diesem unheilvollen Tag und gleichzeitig erleben wir Alexandra, die von irgendwoher die Ereignisse verfolgen muss, ohne jedoch darauf Einfluss nehmen zu können. Sie lebt – das ist aber auch schon der einzige Informationsvorsprung, den wir vor dem Ehemann und der Polizei haben. Und die eine oder andere Randbemerkung, die stutzig macht und schon früh erkennen lässt, dass nicht alles am Familienleben so war, wie Marc glaubte und immer noch glauben machen möchte.

Ich liebe das Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven und Andeutungen, die lange Zeit offen lassen, was wirklich geschah und so die Spannung erhalten. Was mir besonders gefallen hat, war, dass die Autorin ohne Blutvergießen und andere Grausamkeiten auskommt und dennoch die Nerven des Lesers herausfordert. Die Protagonistin ist sicherlich der interessanteste Charakter der Geschichte, vielschichtig und undurchschaubar führt sie in die Irre. Ihr Mann hingegen, bleibt etwas flach, auch seine Verzweiflung konnte mich nicht ganz überzeugen, er ist mir insgesamt etwas zu wenig emotional, obwohl er sich in einem absoluten Ausnahmezustand befinden sollte. Die Story punktet ganz klar durch den cleveren Aufbau und die sehr gut platzierten Hinweise und Andeutungen, die dazu führen, dass man, einmal begonnen, nicht mehr aufhören möchte zu lesen.

Veröffentlicht am 20.04.2019

Chris Cander – Das Gewicht eines Pianos

Das Gewicht eines Pianos
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Es ist das Klavier des deutschen Nachbarn, das die kleine Katya in ihrer russischen Heimat jede Nacht fasziniert. Sie lauscht den Sonaten und Préludes und der unendlichen Traurigkeit, die von der Musik ...

Es ist das Klavier des deutschen Nachbarn, das die kleine Katya in ihrer russischen Heimat jede Nacht fasziniert. Sie lauscht den Sonaten und Préludes und der unendlichen Traurigkeit, die von der Musik ausgeht. Der Besitzer spürt die Verbindung des Mädchens zu dem Instrument und so erbt sie es nach seinem Tod. Die Musik wird ihre Leidenschaft, eine, die sogar größer ist als die Liebe zu ihrem Mann Mihail, für den sie ihre Heimat verlässt, um in den USA ein besseres Leben zu finden. Doch dort erwartet sie nichts. Das Piano musste sie zurücklassen und ohne Musik ist ihr Leben leer und kalt. Auch ihr Sohn Grisha kann das nicht ändern. Claras Leben ist ebenfalls von Traurigkeit bestimmt, früh schon hat sie ihre Eltern verloren, das einzige, was ihr als Erinnerung geblieben ist, ist ein Piano, das offenbar nicht nur die Töne, sondern die auch die Gefühle vieler Jahrzehnte und unzähliger Pianisten in sich trägt.

Die amerikanische Autorin Christ Cander, deren vorherige Werke bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden, hat viel Lob für ihren Roman erhalten, immer wieder wird die Intensität hervorgehoben, mit der sie die Rolle der Musik für ihre Figuren beschreibt. Dies war es auch, was mich am meisten begeistern konnte, obwohl mir jede Musikalität fehlt.

Die Geschichten von Katya und Clara laufen lange Zeit parallel. Es ist schnell klar, dass das Piano das verbindende Element zwischen den beiden ist, wie genau die Beziehung jedoch aussieht, löst sich erst spät auf. Unabhängig von der bildstarken Beschreibung des Klavierspiels und den Melodien vor allem der russischen Komponisten wie Alexander Skrjabin oder Peter Tschaikowksi, hat mich die Autorin mit ihren beiden Frauenfiguren gepackt. Einerseits das russische Mädchen, das ganz in der Musik aufgeht und später zur erwachsenen Frau heranreift, die nur wenig ihrem herrischen und brutalen Ehemann entgegenzusetzen hat. Metaphorisch lässt Cander ihren Sohn über sie sagen, dass Katya in Kalifornien zu Eis wurde, trotz der andauernden Hitze. Innerlich erstarrt ist die mächtige Naturgewalt im Death Valley und dem Coffin Peak die Nachaußenkehrung ihres Daseins. Auf der anderen Seite Clara, die nicht nur keine Familie mehr hat, sondern auch ansonsten allein und planlos im Leben umherirrt. Für sie ist die Begegnung mit Greg der Moment des Loslösens von den Erinnerungen an die Zeit vor dem Tod ihrer Eltern und das Loslassen, das ihr letztlich erlaubt, ihr Leben zu beginnen.

Sicherlich sind weite Teile der Handlung vorhersehbar und die Figuren recht reduziert auf wenige Charakterzüge. Aber dies wird durch die poetische Beschreibung, mit der Cander der Musik Leben einhaucht, locker aufgewogen.

Veröffentlicht am 19.04.2019

J. Jefferson Farjeon – Dreizehn Gäste

Dreizehn Gäste
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Ein misslicher Unfall beim Aussteigen aus dem Zug, als er beinahe seinen Halt verpasst hätte, bringt John Foss auf das Anwesen Bragley Court von Lord Aveling, der dort eine illustre Jagdgesellschaft versammelt ...

Ein misslicher Unfall beim Aussteigen aus dem Zug, als er beinahe seinen Halt verpasst hätte, bringt John Foss auf das Anwesen Bragley Court von Lord Aveling, der dort eine illustre Jagdgesellschaft versammelt hat. Zwölf Gäste waren geplant und wie jeder weiß, bringt ein dreizehnter Gast Unglück. Und so kommt es auch, denn nicht nur wird ein Gemälde des berühmten Künstler Leicester Pratt zerstört, sondern auch ein Hund getötet, bevor – wie nunmehr zu erwarten – auch noch ein Mord geschieht. Dem ungebetenen und durch die Fußverletzung immobilen Gast bleibt nichts anderes übrig, als das Treiben im Haus zu beobachten und passiv die Ereignisse zu verfolgen. Doch seinem Scharfsinn entgeht nichts und er kann geschickt die Puzzleteile zusammenfügen.

Joseph Jefferson Farjeon was ein englischer Kriminalautor und Theaterschreiber, der vor allem durch die Geschichten um Detective X. Crook bekannt wurde, die in dem Magazin „Flynn’s Weekly Detective Fiction“ des ehemaligen FBI Chefs William James Flynn erschienen. „Thirteen Guests“ erschien erstmals 1936 und steht in bester Tradition klassischer britischer Krimis wie etwa der Lord Peter Wimsey Serie von Dorothy L. Sayers oder natürlich der Queen of Crime, Agatha Christie.

Der Krimi folgt einem bekannten Muster: ein abgeschiedener Ort im schottischen Nirgendwo; eine geschlossene Gemeinschaft, die sich mehr oder weniger gut kennt, aber natürlich ihre Geheimnisse hat; ein quasi außenstehender Beobachter und natürlich ein Mord, der aufgeklärt werden muss. Dabei leisten Hobbydetetktive wie hier ein Journalist und der Künstler ebenso ihren Beitrag wie all diejenigen, die gerne etwas vertuschen würden. Am Ende kommt der große Showdown, nachdem der Ermittler die Gäste separierte, um sie einzeln zu verhören, und dann alle losen Enden miteinander zu verbinden und den Täter zu präsentieren. Allerdings schenkt Frajeon dem Leser noch zwei Kapitel, die die Geschichte nochmals in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Natürlich sind Krimis aus der Entstehungszeit von „Dreizehn Gäste“ nicht mit heutigen zu vergleichen, die Erzählstruktur, das Figurenpersonal, das Erzähltempo und auch die detailreichen Schilderungen von Mord und Leiche unterscheiden sich nennenswert, weshalb es schlichtweg unfair wäre, den Roman daran zu messen. Als Fan auch der alten Storys, die vorzugsweise in der britischen Oberschicht spielen und auf ganz klassischen Motiven basieren, bei denen dem Leser im Laufe der Handlung kleine Andeutungen gemacht werden, die er hoffentlich nicht übersieht, um so seine eigenen Ermittlungen zu leiten, konnte mich Farjeon mit einem sauberen Krimi überzeugen, der auch sprachlich passend etwas angestaubt wirkt und einen subtil-ironischen Ton pflegt.

Veröffentlicht am 31.03.2019

Marijke Schermer – Unwetter

Unwetter
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Ein Leben, aufgebaut auf einem Geheimnis, das nach vielen Jahren wieder an die Oberfläche drängt. Emilia hat es sich mit ihrem Ehemann Bruck und den beiden Söhnen nahe Amsterdam gemütlich in einem alten ...

Ein Leben, aufgebaut auf einem Geheimnis, das nach vielen Jahren wieder an die Oberfläche drängt. Emilia hat es sich mit ihrem Ehemann Bruck und den beiden Söhnen nahe Amsterdam gemütlich in einem alten Häuschen eingerichtet. Ihr Job erlaubt es ihr viel von zu Hause zu arbeiten und ihren Interessen nachzugehen, während Bruck als Arzt Schichten im Krankenhaus schiebt. Zwei Ereignisse bringen das fragile Gebilde jedoch plötzlich ins Wanken: ein Hochwasser ist angekündigt, das ihr geliebtes Häuschen hinterm Deich ebenfalls bedrohen könnte und Emilias Arbeitskollege wird von einer Praktikantin des Missbrauchs beschuldigt. Emilia wehrt sich gegen die Erinnerung, doch diese ist übermächtig und raubt ihr zunehmend die Kraft, den Alltag zu bewältigen. Soll sie nach zwölf Jahren doch noch offenbaren, was damals geschah?

Marijke Schermer widmet sich in ihrem kurzen Roman im Wesentlichen zwei ganz essentiellen Fragen: was geschieht mit einem Menschen, wenn die mühsam aufgebaute psychologische Stabilität plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät und ein unaufhaltsamer Abwärtsstrudel beginnt? Wie viel Wahrheit und wie viel Geheimnis verträgt eine Beziehung? Beides stellt sie eindrücklich in „Unwetter“ dar.

Als Leser weiß man schon früh um Emilias Erlebnis: sie wurde in ihrer Wohnung überfallen, verprügelt und vergewaltigt. Dies war zu der Zeit als sie Bruck kennenlernte, dem sie das Geschehen jedoch nie berichtete, weil sie von ihm nicht als Opfer wahrgenommen werden wollte. Verschiedene Ereignisse rufen die Erinnerung jedoch wach und sie leidet nach all den Jahren plötzlich an etwas, das einem posttraumatischem Belastungssyndrom stark gleicht. Angst überfällt sie, sie hat gedankliche Aussetzer, Erinnerungslücken und stellt plötzlich ihr ganzes Leben in Frage. Ihr Mann kann in dieser Situation keine Stütze sein, denn er ist kein Vertrauter wie ihr Bruder. Man kann Emilias Entscheidung zu schweigen nachvollziehen, doch es war auch zu erwarten, dass dies sich irgendwann rächt – an ihr und an ihrer Beziehung.

Spiralförmig nähert sich Schermer dem Höhepunkt: das Wasser steigt und ebenso die Krise in der Familie. Die Ausgangssituation erlaubt keinen einfachen Ausweg; man weiß als Leser nicht, was man der Protagonistin wünschen oder raten sollte, dass es zu einer Entscheidung kommen muss, ist offenkundig. Auf der Inhaltsebene unerwartet spannend, in der Figurenzeichnung überragend und sprachlich rundum überzeugend. Emilias Gedankenwelt ist vielschichtig und differenziert, was es leicht macht, ihren Überlegungen zu folgen und die psychische Ausnahmesituation nachzuempfinden. Keine leichte Kost, aber gerade deshalb so lesenswert.

Veröffentlicht am 27.03.2019

Charles Lewinsky – Der Stotterer

Der Stotterer
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Johannes Hosea Stärckle ist ein Meister des Wortes. Aber nur des geschriebenen Wortes, gesprochen bekommt er kaum mehr eine Silbe heraus, bevor das Stottern losgeht. Das war mal anders, aber Geschehnisse ...

Johannes Hosea Stärckle ist ein Meister des Wortes. Aber nur des geschriebenen Wortes, gesprochen bekommt er kaum mehr eine Silbe heraus, bevor das Stottern losgeht. Das war mal anders, aber Geschehnisse aus seiner Kindheit haben ihn zu dem gemacht, was er ist und das geschriebene Wort wurde zu seinem Beruf. Jedoch nicht als Journalist oder Schriftsteller, sondern als Betrüger, weshalb er auch jetzt eine Gefängnisstrafe absitzen muss. Dies hindert ihn jedoch nicht am Schreiben und der Padre wird sein Publikum. Ihm vertraut er sich, erzählt aus seiner Kindheit in der Sekte, den Umgang des Vaters mit seinem Stottern, aber auch dem Betrug, den er begangen hat – was klingt wie die Beichte eines Geläuterten, stellt sich jedoch bald schon als weitere Manipulation heraus. Seinen Mitinsassen bleibt sein Talent nicht verborgen und wissen ebenfalls daraus Profit zu schlagen, den Wehren kann sich der Stotterer kaum.

Charles Lewinsky ist seit vielen Jahren eine feste Größe in der Schweizer Literaturwelt. Zahlreiche seiner Romane wurden für hochrangige Preise nominiert und ausgezeichnet. Sein neuer Roman zeichnet sich für mich durch eine pointierte und treffgenaue Sprachgestaltung aus, inhaltlich konnte mich sein Protagonist nicht ganz überzeugen.

Genaugenommen gibt es nur eine Erzählstimme, die des Johannes Hosea Stärckle, der sich jedoch mal in Briefen an seinen Padre wendet, mal in seinem Tagebuch Trost sucht, mal als Geschichtenerzähler und auch als Briefeschreiber auftritt. Je nach Adressat wandelt sich Ton und Ausdruck, wirkt glaubwürdig und überzeugend. Dass die Straftäter sein Ausdrucksvermögen in seinem Sinne nutzt und auch im Gefängnis die Möglichkeiten von Manipulation und mitleiderregender Dramatik voll ausspielt, ist bei der Anlage des Charakters nachvollziehbar. Man muss sich am Anfang am Riemen reißen, um seinen Schelmenmärchen nicht zu glauben und in ihm nicht das Opfer zu sehen, als das er sich stilisiert.

Das Schreiben steht im Zentrum, dafür werden andere interessante Aspekte – die Hackordnung im Gefängnis, die Mechanismen, mit denen dort Macht demonstriert wird u.a. – an den Rand gedrängt, was ich etwas schade fand. Vor allem, da diese ihm letztlich seinen großen Wunsch ermöglichen.

Man kann sich mit Stärckle nicht identifizieren. Er ist zweifelsohne ein intelligenter Zeitgenosse, der geschickt die Fäden in der Hand hat, aber als Sympathieträger taugt er nicht. Eher als noch abschreckendes Beispiel, denn seine Manipulationsversuche machen vor nichts und niemandem halt.

Für mich war es letztlich etwas zu viel des Protagonisten. Keine andere Sicht, kein Schritt zurück durch eine neutrale Erzählinstanz, nicht einmal Antworten auf die zahlreichen Briefe erhält man als Leser, was einen ein wenig erdrückt. Zumal die Märchen Stärckles auch sehr viel Raum einnehmen. Sprachlich gelungen, auch die zentrale Figur interessant in der Anlage, aber letztlich genau dadurch etwas übers Ziel hinaus geschossen.