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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 21.02.2019

Als Einstieg gut geeignet

No More Bullshit
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Feminismus und die Bewegung gegen den allgemeinen Sexismus ist mittlerweile eine richtige Massenbewegung (gut so!) und scheint sich irgendwie als „Lifestyle“ eingeschlichen zu haben. Bücher zum Thema gibt ...

Feminismus und die Bewegung gegen den allgemeinen Sexismus ist mittlerweile eine richtige Massenbewegung (gut so!) und scheint sich irgendwie als „Lifestyle“ eingeschlichen zu haben. Bücher zum Thema gibt es viele, doch kommt es mir so vor, als wären viele davon viel zu „krass“ für mich – ein gutes Einsteigerbuch musste her, um sich einmal einen groben Überblick über die Thematik und all die Stammtischweisheiten, die so kursieren, zu bilden. Und dafür ist „No More Bullshit!“ vom Kollektiv und Frauennetzwerk Sorority e. V. wunderbar geeignet. Den Beginn macht ein kleiner Exkurs zum Thema Diskussionen und Argumentationen – wie diskutiert man richtig, wie kann man die Argumente des Gegenübers auf sachliche Weise entkräften und mit Fakten punkten? Obwohl der Buchtitel mit seiner Tonalität reißerisch und „auf Krawall gebürstet“ scheint, wird hier erst einmal aufgeräumt und für eine sachliche Ebene gesorgt, um die Eskalation im hitzigen Wortgefecht zu vermeiden. Der zweite, größere und wichtigste Teil von „No More Bullshit!“ liefert dem Leser dann die gängigsten Phrasen, die man im Alltag und in lockeren Runden wohl am meisten zu Ohren bekommt. So werden hier Aussagen wie z. B. „Karrieregeile Rabenmütter!“ oder „Qualität statt Quote!“ genau unter die Lupe genommen, teilweise mit einer durchaus humorvollen Note, stets ansprechend illustriert und natürlich ausnahmslos mit Fakten belegt.

Dass der ein oder andere Autor dieser Kapitel auch mal über die Stränge schlägt, ist bei diesem Thema und dem leidenschaftlichen Einsatz des Sorority e. V. verständlich, doch hätte ich mir gelegentlich ein wenig mehr Sachlichkeit – wie im ersten Teil des Buches gepredigt wurde – gewünscht. Dennoch bietet „No More Bullshit“ von der Sorority e. V. einen tollen Überblick zum Thema Alltagssexismus. (Ich vermeide hier bewusst den Begriff „Feminismus“, da in diesem Sachbuch durchaus auch Themen wie toxische Maskulinität, „das starke Geschlecht“ o. Ä. aufgegriffen werden.)

Veröffentlicht am 15.02.2019

Thomas Pierce übertrifft mit seinem Roman alle Erwartungen: Dieses Buch ist wunderbar philosophisch, nachdenklich und voller Rätsel.

Die Leben danach
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Worum geht’s überhaupt?
Anhand der kurzen Leseprobe von Thomas Pierce‘ Romandebüt „Die Leben danach“ konnte ich mir nur schwer ausmalen, wie sich dieses Buch entwickeln würde – ist es ein Roman über einen ...

Worum geht’s überhaupt?
Anhand der kurzen Leseprobe von Thomas Pierce‘ Romandebüt „Die Leben danach“ konnte ich mir nur schwer ausmalen, wie sich dieses Buch entwickeln würde – ist es ein Roman über einen Mann, der sein Leben völlig umkrempelt, eine Liebesgeschichte oder etwas völlig anderes? Wie sich herausgestellt hat, trifft der letzte Punkt den Nagel auf den Kopf. Es beginnt damit, dass unser Protagonist Jim, ein ziemlich durchschnittlicher Typ, einen Herzstillstand hat und für eine Minute oder zwei tot ist. Dadurch, dass er in diesen wenigen Momenten keinerlei Nahtoderfahrung, gleißendes Licht oder ähnliches gesehen hat, ist er nachhaltig verstört. Zum Schutz vor weiteren Herzproblemen wird ihm ein technologisch sehr fortgeschrittenes „Sicherheitsnetz“ um sein Herz herum implantiert, das sein Herz auch dann weiterschlagen lassen würde, wenn er bereits tot ist. Dass er das Gerät und seinen eigenen Herzschlag über sein Handy in Echtzeit verfolgen kann, macht die Möglichkeit des Todes zu seinem ständigen Begleiter. Fortan sieht er das Leben mit neuen Augen und ist sich permanent seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Jim beschäftigt sich obsessiv mit den Nahtoderfahrungen anderer Menschen, er liest alles, was er zum Thema findet; er grübelt sehr viel über den Tod, besonders über das, was danach kommt, und kämpft mit Panikattacken, da er Angst vor dem großen schwarzen Nichts hat.

Ich würde sterben. Jeden Moment würde ich sterben. […] Ich würde weg sein. Wie mein Vater, wie alle anderen. Was auch immer es war, ich würde nicht einmal wissen, dass es passiert war. Ich würde mein Leben nicht vermissen. Alles, was ich je gewesen war, würde einfach verschwinden. […] Denn es gab keine andere Seite, oder? Das hier war die einzige Seite, nicht wahr?

Dann kommt er zufällig mit einem kuriosen Fall von Spuk in Berührung: In einem Restaurant wurde auf einer Wendeltreppe eine Stimme aufgezeichnet, die eindeutig nicht von dieser (lebendigen) Welt stammt. Sie ruft: „Der Hund brennt!“ Auf dieser Wendeltreppe soll allerdings nicht nur diese Stimme zu hören sein, die Restaurantbesitzerin berichtet auch von geisterhaften Erscheinungen und dem Gefühl von dem Druck von Händen, die Menschen von der Treppe zu stoßen scheinen. Jim ist zugleich fasziniert wie verstört. Noch während er darüber brütet, welche logische Erklärung es für diesen vermeintlichen Spuk geben kann, trifft er seine Ex-Freundin aus Schulzeiten wieder und verliebt sich glatt erneut. Nun jongliert Jim zwischen seiner Angst vor dem Tod, einer frisch entflammten Liebe und dem Rätsel der Wendeltreppe. Sein Leben beginnt, sich drastisch zu verändern. Der Spuk sowie die vorherigen Bewohner des Restaurants, die vermutlich Ursprung dieser Geistererscheinungen sind, beschäftigen Jim viele Jahre lang. Er erforscht die Familiengeschichte, beschäftigt sich mit paranormalen Forschungen und esoterischen Riten, mit denen man mit den Toten kommunizieren können soll. Dabei stößt er auf die Physikerin Sally Zinker, deren Forschung sein Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Was Jim eigentlich nur als übersinnlichen, mystischen Mumpitz abtut, nimmt reale Formen an und gewinnt durch die Forschung der Physikerin enorm an Glaubwürdigkeit.

Sally Zinkers Forschung beschäftigt sich mit Geistererscheinungen und den sogenannten Daisy-Teilchen, die die „andere Seite“, die Totenwelt in einer bestimmten Situation durchlässig erscheinen lassen. Auf diese Weise kann innerhalb eines kurzen Zeitraums sozusagen Kontakt mit den Verstorbenen aufgenommen werden. Damit man diesen Kontakt allerdings steuern kann, um gezielt mit geliebten Menschen zu kommunizieren, muss man für den Bruchteil einer Sekunde aufhören zu existieren. Das klingt verrückt? Ja, etwas, aber Thomas Pierce schafft es, Gedankengänge, die wir alle wohl an dem einen oder anderen Punkt unseres Lebens einmal tätigen, mit physikalischen Prinzipien und Forschungen zu verknüpfen und sogar noch eine Liebesgeschichte, die nicht kitschig ist (juhu!) einzubauen. Ein echtes Allround-Paket also, das nicht nur die Grenzen des Klappentextes sprengt, sondern auch alle Erwartungen. Lange habe ich keinen so guten Roman mehr verschlungen. „Die Leben danach“ erinnert mit seiner zugleich wissenschaftlichen als auch philosophischen Note stark an die Werke von Scarlett Thomas, die in ihren Roman verschiedenste Themengebiete spannend verwebt.

Sie suchte nicht unbedingt nach Gott. Sie suchte nach einem Anzeichen dafür, dass das Leben über den physischen Körper hinausging, dass das Bewusstsein auf irgendeine Art den Tod des Körpers überleben konnte.


Wie hat es mir gefallen?
Thomas Pierce hat mit „Die Leben danach“ ein Meisterwerk geschaffen, das auf so vielen Ebenen einfach nur genial ist. Selbst die Zinkers Forschung ist wahnsinnig gut beschrieben, man wird nicht mit harten physikalischen Fakten bombardiert, sondern erfährt alles über die Daisy-Teilchen wohldosiert und niemals trocken. Sehr gut gefallen hat mir zudem auch die Zukunft, die der Autor uns schildert: Jim lebt nicht weit, jedoch einige Jahre in unserer Zukunft. Hologramme werden immer alltäglicher und bilden einen netten roten Faden, der die Frage „Was ist real?“ immer wieder aufnimmt und alles Fleischliche, die Hologramme sowie die Erscheinungen aus der Welt der Toten verknüpft. Weiterhin finden sich am Ende jedes Kapitels Szenen der früheren Bewohner des „spukenden“ Hauses, und nach und nach kommt man dem Geheimnis auf die Spur und beginnt, zu begreifen. Wenn die Puzzleteile ineinandergreifen und alles plötzlich Sinn ergibt, bildet Pierce‘ Roman ein großartiges Gesamtbild. Denn der Autor schafft es zum Ende hin tatsächlich, alle losen Fäden, die er im Laufe seines Romans aufgreift, zu verknüpfen. Auch wenn der Kopf nach der Lektüre vor lauter Fragen zum Thema „Leben“ nach dem Tod zu platzen droht, verbleibt das Gefühl der Begeisterung: für die Story, die Idee – und das Talent des Autors, der mit seinem ersten Roman direkt einen Volltreffer landet. Bitte mehr davon!



Mehr Rezensionen findet ihr auf meinem Blog: https://killmonotony.de

Veröffentlicht am 06.01.2019

In „Ein Winter in Sokcho“ treffen zwei Suchende aufeinander – stimmungsvoll, melancholisch und leise.

Ein Winter in Sokcho
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Dieses Buch hat mich mit seinem wunderschönen Cover sofort angelockt und der Klappentext klang auch vielversprechend. Was zunächst als „kommen sie zusammen?“-Liebesgeschichte daherkommt, ist aber in Wahrheit ...

Dieses Buch hat mich mit seinem wunderschönen Cover sofort angelockt und der Klappentext klang auch vielversprechend. Was zunächst als „kommen sie zusammen?“-Liebesgeschichte daherkommt, ist aber in Wahrheit so viel mehr. Elisa Shua Dusapin hat in ihrem Erstlingswerk „Ein Winter in Sokcho“ so viele Emotionen, Träume und Hoffnungen verarbeitet, dass das knapp 140 Seiten dünne Bändchen fast schon wie ein kleines Kunstwerk anmutet. Doch zurück zum Anfang: Es geht um eine junge Hotelangestellte, die mit jeder Faser ihres Körpers dem kalten Sokcho und der ewig währenden Monotonie entfliehen möchte. Als dann ein attraktiver, aber sehr zurückhaltender und eigenbrötlerischer Mann ins Hotel kommt, um in Ruhe an seinem neuesten Comic zu arbeiten, ist sie sofort sehr interessiert und es beginnt ein gemächliches, zurückhaltendes Hin und Her. Doch schnell wird klar, dass beide etwas völlig unterschiedliches wollen: Sie will raus aus ihrem Trott, in das schöne Frankreich ziehen, und er, der der Stadt überdrüssig ist, sucht ein wenig Abgeschiedenheit und Frieden.

"Das Kratzen der Feder war nun langsam und regelmäßig wie ein Wiegenlied. Vor dem Einschlafen versuchte ich mir die Bilder genau einzuprägen, die er in mir erschaffen hatte, sie nicht zu vergessen, da ich wusste, wenn ich morgen in sein Zimmer ging, würden sie verschwunden sein."

Hinter dem pastelligen Cover mit der Schnörkelschrift verbirgt sich nicht nur eine leise, traurigschöne Geschichte, sondern auch sehr viel zwischen den Zeilen. So wird in „Ein Winter in Sokcho“ nicht nur sehr viel geschwiegen und geträumt, sondern vor allem gehofft. Unsere junge Protagonistin hofft auf einen Ausbruch aus dem ihr überdrüssigen Hotelalltag, sie möchte nach Frankreich, zu ihren Wurzeln, denn sie ist halb Koreanerin, halb Französin. Frankreich kennt sie bisher allerdings nur aus Romanen. Der mysteriöse Comiczeichner, der einige Zeit im Hotel verbringt, kann sie daher wenig ernst nehmen, wenn sie behauptet, sie verstünde das Land. So ergibt sich ein stilles Hin und Her zwischen den beiden Charakteren.

Weiterlesen: https://killmonotony.de/rezension/elisa-shua-dusapin-ein-winter-in-sokcho

Veröffentlicht am 06.01.2019

Ein Buch wie ein Rausch!

Bis ans Ende, Marie
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Ein Buch wie ein Rausch, ein Trip durch eine Persönlichkeit, mit der etwas nicht stimmt, ohne dass man wüsste, was genau. Wie ein Donnerwetter prasseln die Gedanken unserer namenlosen Ich-Erzählerin auf ...

Ein Buch wie ein Rausch, ein Trip durch eine Persönlichkeit, mit der etwas nicht stimmt, ohne dass man wüsste, was genau. Wie ein Donnerwetter prasseln die Gedanken unserer namenlosen Ich-Erzählerin auf den Leser ein, vermischen sich mit Dialogfetzen Maries, alles wirkt surreal, wie ein Traum, in dem es keinen klaren Fokus gibt. Die Beziehung zur Familie scheint zerrüttet, der Vater hat ein ungesundes Verhältnis zu Medikamenten und man kann die Überlegung anstellen, dass dieser Medikamentenmissbrauch möglicherweise auf unsere Protagonistin abgefärbt, sie beeinflusst hat – steht sie womöglich selbst unter dem Einfluss von Medikamenten oder haben diese nachhaltig ihre Persönlichkeit verändert, sodass sie keinen klaren Gedanken fassen kann? Das Verhältnis zu ihrer Mutter war auch schonmal besser, sie kommt einfach nicht darüber hinweg, dass die Erzählerin sich von ihrem ach so perfekten Freund getrennt hat. Er, der schicke Jurastudent, mit seinen perfekten Eltern und seinem perfekten Leben, und sie, die in diese Form hereingedrückt werden soll, aber sich nicht länger verbiegen will. Und dann ist da Marie. Marie, die sie mit auf die wildesten Partys nimmt, Marie, die sich mit allerlei Männer herumtreibt, die so anders ist als sie selbst. Unsere Erzählerin möchte wie sie sein, steht zwischen dem perfekten Leben und dem Maries, wird zerrissen von den Möglichkeiten, von dieser toxischen Freundschaft und kommt mit alledem nicht mehr klar. Die Ereignisse werden immer turbulenter und am Ende steht das Chaos.

Ich liege in einem Raum mit zwanzig anderen Menschen, in einem Hüttenschlafsack, Marie legt den Arm um mich, sie will mich zurückziehen in den Schlaf, sie will mich hineinziehen in den See aus Schnaps und Bier, sie taucht mich unter, unter Wasser treiben die Körper der Männer, ihrer Frauen und Kinder, treiben Telefone ohne Empfang, Wohnungsschlüssel.

Wie hat es mir gefallen?
Beim Beenden der Lektüre von Barbara Riegers „Bis ans Ende, Marie“ wusste ich bereits, dass es mir schwer fallen würde, eine Besprechung zu diesem Buch zu verfassen. Dennoch möchte ich hier meine Leseeindrücke versuchen zusammenzufassen. Dieses Buch ist wie nichts, was ich zuvor gelesen habe. Die Erzählsprache ist nichts für schwache Nerven und mitunter sehr, sehr anstrengend. Wir begeben uns in einen Verstand, der irgendwie kaputt ist, dem etwas zu fehlen scheint, um „normal“ zu funktionieren und seine Gedanken zu sortieren. Und auch wenn im Buch viele Dinge passieren und es auch eine Handlung gibt, steht doch immer die Freundschaft (wenn man es denn so nennen kann) von Marie und der Erzählerin im Vordergrund. Nichts anderes erscheint relevant, es gibt nur Marie. Zu Beginn des Buches denkt man noch, es handele sich um eine etwas abstrusere Geschichte zwischen zwei Freundinnen, doch nach und nach merkt man, dass diese toxische Beziehung nicht nur das Leben der Erzählerin zerstört, sondern auch das der anderen merklich tangiert und zerrüttet. Und obwohl ich den Schreib- und Erzählstil ungemütlich fand, muss ich sagen, dass mir diese Geschichte schon ziemlich gefallen hat. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich das Ende (und somit das gesamte Buch) verstanden habe, aber dennoch war es sehr spannend zu lesen und hatte eine recht große Sogwirkung. Wer mutig ist und sich an ungewöhnliche Literatur herantraut, sollte möglicherweise mal einen genaueren Blick auf Barbara Riegers Roman werfen.

Veröffentlicht am 06.01.2019

Samurai mal anders!

Die Rache
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Shugoro Yamamotos Erzählung „Die Rache“ entführt uns auf kurzen 64 Seiten nach Japan, genauer gesagt ins Japan von 1645. Zu der Zeit ist Japan noch das Land der Schwertkämpfer, von denen sich unser Protagonist ...

Shugoro Yamamotos Erzählung „Die Rache“ entführt uns auf kurzen 64 Seiten nach Japan, genauer gesagt ins Japan von 1645. Zu der Zeit ist Japan noch das Land der Schwertkämpfer, von denen sich unser Protagonist Iwata aber sehr unterscheidet: Er ist das schwarze Schaf der Familie, er säuft, spielt und schnorrt seine Geliebte an, er kann nicht viel mit den Ansprüchen der Gesellschaft anfangen und dem Kämpfen nichts abgewinnen. Sein Vater, ein Koch, der aus seinem Sohn einen ehrenwerten Samurai machen wollte, wurde von einem der mächtigsten Schwertkämpfer ermordet. Kurzerhand beschließt Iwata, Bettler zu werden, denn er hat jetzt nichts mehr zu verlieren und droht nun in ein tiefes Loch zu fallen. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass das gesamte Dorf annehmen würde, dass er auf der Straße in seiner kleinen, schäbigen Hütte seine Rache an dem Mann plant, der seinen Vater auf dem Gewissen hat. Die Menschen unterstützen ihn in seinem höchst männlichen und dem Zeitgeist entsprechenden Begehren und schenken ihm allerhand Wertvolles. Iwata scheint seinen neuen Lebensstil zu genießen und er wäre vermutlich heute noch in seiner Hütte, wenn nicht sehr bald der Mörder seines Vaters Wind von der Sache bekommen hätte und bald vor der Tür steht, bereit für die Rache Iwatas…

Shugoro Yamamoto spielt in „Die Rache“ mit den Erwartungen der Gesellschaft, versucht, einen Gegenentwurf dazu zu gestalten und dreht den Spieß für seinen Protagonisten später sogar so um, dass er diesen ein Schnippchen schlägt, indem er Profit daraus zieht, dass die Menschen an seine Rachegelüste glauben. Doch Überraschung, nicht jeder Mann hegt den Wunsch auf Blutrache, dem „männlichsten aller Gefühle“, und so hat auch Iwata eigentlich kein Interesse daran, den Mörder seines Vaters zu ermorden, ob darunter nun seine Ehre leidet oder nicht. Iwata hat sowieso nicht das Gefühl, besonders ehrbar zu sein und seiner Familie mit seinem Penner-Dasein etwas Gutes zu tun. Die Werte seines Vaters hat er stets abgelehnt und sein neuer Lifestyle scheint doch ganz gut zu ihm zu passen. Dennoch fühlt Iwata sich den ganzen Leuten, die ihm Geschenke dalassen, gegenüber schlecht, und so muss er sich überlegen, wie er den Erwartungen der Gesellschaft gerecht werden kann, ohne einen Mord zu begehen.

Wie hat es mir gefallen?
Wie bei bisher allen Büchern, die ich aus dem cass Verlag gelesen habe, tendiere ich dazu, sehr begeistert zu sein – da ist Shugoro Yamamotos kleines Büchlein „Die Rache“ keine Ausnahme! Dem cass Verlag scheint einfach die Auswahl seiner Veröffentlichungen so gut zu gelingen, dass ich bisher noch keines der Bücher enttäuscht aus der Hand gelegt habe. Yamamotos kurze Geschichte strotzt vor klarer Sprache, die punktgenau sagt, was sie will, denn auf 64 Seiten ist kein Platz für Schnörkel. Trotzdem gibt es vier Illustrationen, die der Story ein wenig Tiefe verleihen. Die treibende Sprache ist aber nicht das Einzige, was mich an Yamamotos Erzählung so begeistert hat, sondern sticht wieder einmal auch der Humor heraus, den ich an der asiatischen Literatur so mag: es ist ein subtiler Humor, der nicht ins Derbe gehen muss, um wirklich witzig zu sein. So auch bei „Die Rache“: In zwei Sätzen frühstückt Yamamoto den Mord an Iwatas Vater ab und auch dessen Entscheidung, jetzt Bettler zu werden, ist schnell getroffen. Den Grundstein für diese Geschichte legt Yamamotos Gegenentwurf zur blinden Aufrechterhaltung „ehrbarer“ Fähigkeiten und Handlungen, und dieser Gegenentwurf ist ihm gelungen! Diese kleine Erzählungen lege ich allen ans Herz, die gern asiatische Literatur lesen, aber auch allen, die vielleicht einmal eine andere Seite von Japans Samurai-Geschichten sehen möchten.