Zwei Leseweisen für ein ganz spezielles Buch
"Frühlingsnacht", das vierte Buch des norwegischen Autors Tarjei Vesaas, habe ich zuerst relativ rasch gelesen, mit anderen diskutiert und dann schließlich danach noch einmal aus einem neuen Blickwinkel ...
"Frühlingsnacht", das vierte Buch des norwegischen Autors Tarjei Vesaas, habe ich zuerst relativ rasch gelesen, mit anderen diskutiert und dann schließlich danach noch einmal aus einem neuen Blickwinkel durchgesehen. Denn selten ist mir ein Buch begegnet, das mich dermaßen verwirrt hat: beim Lesen selbst und in der Diskussion in einer Leserunde.
In dieser Rezension möchte ich nun meinen Lese- und Rezeptionsprozess schildern, in der Hoffnung, dass er anderen eine Entscheidungshilfe sein könnte, um sich bewusst für oder gegen die Lektüre dieses Buches zu entscheiden.
Wie habe ich das Buch beim ersten Mal gelesen? In Norwegen, etwa in den 1960er Jahren, leben der 14-jährige Hallstein und seine 18-jährige Schwester Sissel gemeinsam mit ihren Eltern in einem etwas abgelegenen Haus am Land. Nun sind die Eltern ins Nachbardorf auf ein Begräbnis gefahren und werden erst am nächsten Tag zurückkommen, die beiden Jugendlichen sind also für eine Nacht alleine, und insbesondere Hallstein ist voll der Vorfreude auf diesen elternlosen Abend.
Die besondere Sprache des Buches zeigt sich schon gleich am Anfang, der Autor findet neue und ungewöhnliche, oft sehr aussagekräftige Metaphern wie z.B. "Das ganze Haus fühlte sich anders an, weil dies eine Mal beide, Vater und Mutter weggefahren waren. Sie waren heute früh weggefahren, und sie hatten ihr eigenes Gewicht mitgenommen." (S. 5)
Sissel hat einen Verehrer, Tore, und Hallstein beobachtet die beiden heimlich. Ansonsten wirkt Hallstein noch ziemlich verträumt-kindlich, sehr naturverbunden und etwas naiv, hat eine unsichtbare, erfundene Gudrun als Begleiterin, und ist insgesamt ein liebenswerter, aufrichtiger Junge. Seiner älteren Schwester ist er in großer Zuneigung verbunden.
Etwa das erste Viertel des Buches sind die beiden Geschwister alleine und Hallstein hat in der Natur Begegnungen mit einer Schlange und mit Schnecken. Wenn man sich darauf einlassen kann, dann hilft dieser Teil des Buches dabei, sich voll und ganz auf die Perspektive des heranwachsenden Jungen Hallstein einzuschwingen, und bei dieser zu bleiben. Das kann ich sehr empfehlen, wenn man auch die weitere Lektüre des Buches genießen möchte. Mir ist es leider bei der ersten Lektüre nicht gelungen.
Denn dann bricht das Unbekannte, Mystische, Rätselhafte... und für mich gefühlt über weite Strecken der Lektüre auch ziemlich Bedrohliche, über die Geschwister herein. Eine unbekannte Familie strandet in der Nähe des Hauses und braucht und fordert Unterstützung. Die Familie besteht aus dem alten Hjalmar, seiner zweiten Frau Kristine, die nach einem Streit vorgibt, nicht mehr gehen und nicht mehr sprechen zu können und erst einmal lang im Auto sitzen muss, bis sie ins Haus getragen wird, dem erwachsenen Sohn Karl, der kriegstraumatisiert ist und auf mich latent bedrohlich wirkte, dessen hochschwangerer Partnerin Grete sowie der 13-jährigen Tochter Gudrun. Karl und Gudrun sind die Kinder von Hjalmar, aber nicht von Kristine, sie ist, wie an irgendeiner Stelle im Buch von Gudrun erwähnt wird "die Mutter von niemandem".
Allein diese Familienkonstellation so, wie ich sie hier scheinbar logisch klingend aufschreibe, zu entschlüsseln, hat bei mir schon eine Weile an Lesezeit gedauert. Denn wir nähern uns der Familie stückchenhaft an, über viele Dialoge, die sich mir über weite Teile nicht wirklich erschlossen haben. Ich habe mir sehr lange überhaupt keinen Reim auf diese seltsame Familie und ihre Dynamiken machen können und viele Fragen sind bis zum Ende offen geblieben: beispielsweise der Streit zwischen Hjalmar und Kristine im Vorfeld, der immer wieder angedeutet wird, aber kurz, bevor irgendetwas näher erklärt würde, wird abgebrochen und gemeint, die Details seien nicht von Bedeutung. Ebenso Kristine, die offenbar nur so tut, als ob sie nicht gehen und reden könnte und Karl damit bestrafen will, aber zumindest mit Hallstein spricht - aber nur, wenn sonst keiner im Zimmer ist. Ein mysteriöser Todesfall gegen Ende, der absolut nicht aufgeklärt wird: es wird nicht einmal ein Versuch in diese Richtung unternommen. Und verschiedene Familienmitglieder, die den völlig überforderten, 14-jährigen Hallstein um Hilfe bitten, immer wieder, und teils sehr eindringlich, doch oft wird nicht einmal klar, warum und wofür.
Das Buch ist also sehr rätselhaft und hat viele offene Themen, die auch bis zum Ende nicht aufgeklärt werden. Vieles habe ich auch einfach nicht verstanden, weil mir Erzählweise und Sprache nicht sehr zugänglich waren, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass ich aus einer ganz anderen Generation stamme als der Autor und fast 90 Jahre jünger bin als er (jedoch sind bei weitem nicht alle Klassiker so unverständlich für mich, es kann also nicht nur daran liegen).
Unmittelbar nach der Lektüre hat mich das Buch sehr frustriert und verärgert zurückgelassen. Mir ist es eben nicht gelungen, ausschließlich bei der Perspektive des 14-jährigen Hallsteins zu bleiben, sondern ich war neugierig auf Antworten auf die vielen offenen Fragen, habe aber kaum welche bekommen.
Nun, nach eingehender Diskussion mit anderen über das Buch, und meiner Verwunderung darüber, dass es Menschen gibt, die davon so begeistert sind, dass sie es mit Lobpreisungen und Höchstwertungen versehen, habe ich es mir noch einmal durchgeschaut, mit Blick auf die Perspektive des 14-jährigen Hallstein.
Und tatsächlich: wenn es einem gelingt, ausschließlich bei dieser Perspektive zu bleiben und die Rätsel der Familie nicht wie einen Krimi entschlüsseln zu wollen, dann kann es ein sehr lohnenswertes Buch sein. Denn mit diesem Fokus fallen mir die vielen schönen, poetischen Formulierungen viel stärker auf, über die ich beim ersten Mal - ungeduldig auf der Suche nach Antworten auf meine offenen Fragen - oft fast drübergelesen habe, weil sie nichts zu diesem Thema beigetragen haben.
Genießen lässt sich dieses Buch wohl wirklich nur, wenn man sich voll und ganz auf Hallsteins Entwicklungs- und Reifeprozess einlässt, der durch die mysteriösen Geschehnisse dieser Frühlingsnacht und die Aufforderungen der Erwachsenen an ihn, sie zu unterstützen, stark beschleunigt wurde.
Dann finden sich zum Beispiel Stellen wie diese, die zeigt, wie Hallstein offen wird für den Zauber des anderen Geschlechts und gleichzeitig erkennt, wie wenig er davon bisher weiß:
"Allerlei ungeordnete Gedanken durchzogen ihn. Bleib hier, schönes Licht. Bleib hier, Hand. Bleibt hier, schöne Augen. Frauen. Was weiß ich schon?, dachte er. Halb angsterfüllte, halb beschämte Dinge. Schön, dass du endlich kommst, hat sie vorhin gesagt. Etwas von so einer Frau gesagt zu bekommen, das war wunderbar. Der Zauber des Unbekannten." (S. 110)
Oder auch diese, zur Geburt des Babys, das in Hallsteins und Sissels Haus auf die Welt kommt, nachdem Hallstein dabei geholfen hatte, eine Hebamme zu organisieren:
"Hallstein stand mitten im Zimmer, etwas benommen. Er hatte das brausende Leben kennen gelernt, von einer neuen Seite." (S. 65)
Für den Jugendlichen, der Hallstein ist, sind so viele Mysterien des Lebens noch neu und unverständlich. Und wir erleben das Buch ausschließlich aus seiner Perspektive: es gibt im ganzen Buch keine Szene, bei der er nicht dabei wäre und die nicht durch seine Augen betrachtet geschildert ist.
So gesehen kann ein Teil der Verwirrung beim Lesen erklärt werden: was für Hallstein nicht klar und verständlich ist, wird auch uns beim Lesen nicht klar werden, denn es gibt keine weitere Perspektive, die diese Dinge erklären könnte. Somit kann sich ein Teil der Verwirrung auflösen, wenn man es schafft, beim Lesen ganz in dieser Haltung zu bleiben, was mir, wie gesagt, erst bei der wiederholten Beschäftigung mit der Geschichte gelungen ist.
Dennoch bleiben auch dann einige ungeklärte Dinge, bei denen ich mir wünschte, der Autor hätte nicht gar so vieles dermaßen offen gelassen. Dann wäre es für mich insgesamt auch beim ersten Mal schon ein wesentlich angenehmeres Leseerlebnis gewesen und ich hätte mich dann vielleicht auch eher schon von Anfang an auf Hallstein und seinen Reifungsprozess einlassen können, weil ich nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, zu versuchen, unentschlüsselbare Rätsel zu lösen.
Insgesamt ist es für mich also ein sehr schwer zu erschließendes Werk, das aber auf jeden Fall sehr vom gemeinsamen Lesen und Austausch profitieren kann. Qualitativ weist es für mich sowohl 5-Sterne-Elemente (die sehr poetische Sprache, das hohe Einfühlungsvermögen in den Reifungsprozess eines bisher kindlichen 14-jährigen,...) als auch 1-Sterne-Elemente auf (die vielen offenen Fäden, die bis zum Ende nicht zusammengebracht werden, das war für mich zu viel der Verwirrung). Somit gebe ich dem Buch insgesamt eine 3-Sterne-Wertung, die aber dem Buch in seiner Differenziertheit nicht ganz gerecht wird, jedoch in Summe für mich noch die fairste Annäherung eines standardisierten Beurteilungsprozesses für ein sehr außergewöhnliches Buch darstellt.
Jenen, die sich für das Buch näher interessieren, rate ich, sich vorher genau damit zu beschäftigen, um was für ein Buch es sich handelt, und jedenfalls kurz hineinzulesen (nicht nur in die ersten Seiten, sondern auch zu den Stellen, an denen die mysteriöse Familie schon da ist), um zu entscheiden, ob man sich auf dieses sehr spezielle Buch einlassen möchte. Ich für meinen Teil bin froh, dass ich das Buch nicht alleine, sondern in einer Leserunde gelesen habe - so konnte ich noch einmal eine neue Perspektive dazu gewinnen und mir am Ende doch noch einiges an Erkenntnissen daraus mitnehmen. Weitere Bücher des Autors werde ich persönlich aber nicht mehr lesen, offenbar passen meine Erwartungen und der Schreibstil dieses Autors zu wenig zusammen.