Die eigene Individualität leben und Teil einer strenggläubigen Gemeinschaft bleiben - geht das?
Bücher von jungen Menschen aus strenggläubigen jüdischen Gemeinschaften, die mit deren strikten Glaubensauslegungen nicht mehr zurecht gekommen sind, hat es in den letzten Jahren einige gegeben. Das bekannteste ...
Bücher von jungen Menschen aus strenggläubigen jüdischen Gemeinschaften, die mit deren strikten Glaubensauslegungen nicht mehr zurecht gekommen sind, hat es in den letzten Jahren einige gegeben. Das bekannteste ist wohl "Unorthodox" von Deborah Feldman.
Wozu also noch ein Buch zu diesem Thema? Was kann das Neues beitragen? Tatsächlich eine Menge. Denn der mutige und authentische Lebens- und Emanzipationsbericht von Yehudis Fletcher hat in sich ein Thema, das es in den bisherigen Berichten so nicht gegeben hat: den Wunsch, an dem Glauben UND an der strenggläubigen Gemeinschaft festzuhalten. Wo andere gegangen sind oder gehen wollten, da kämpft Yehudis Fletcher darum, sie selbst sein und in der Gemeinschaft bleiben zu dürfen. Und das stellt sie und die Gemeinschaft vor eine harte Probe.
Der starke Charakter der jungen Frau hat sich schon als Kind gezeigt, als sie mit 6 Jahren erstmals testen möchte, ob G*tt tatsächlich existiert und ob er es sofort bestrafen würde, wenn man sich nicht an seine Gebote halte: heimlich täuscht sie das obligatorische Händewaschen am Schabbat nur vor und beobachtet, was geschieht: nichts! Ermutigt davon, traut sich die streng gläubig erzogene Tochter eines Rabbis und fünfte von sechs Geschwistern im Laufe ihrer Kindheit und Jugend immer weiter ins unbekannte Land dessen, was jenseits der religiösen Regeln ist, hinaus, rebelliert mit Kleidung und Verhalten, wird verwundet und erlebt die Scheinheiligkeit ihrer eigenen Gemeinschaft, als ein Rabbi, der sie und andere junge Frauen missbraucht hat, von hochrangigen Gemeindemitgliedern zu decken versucht wird.
Bei all dem bewahrt sie sich ihren Kampfesgeist, ihren Mut und ihr Bewusstsein für ihre Individualität... und doch auch die Liebe zu ihrer Gemeinschaft und zu ihrem Glauben. In manchem gibt sie der traditionellen Prägung und den Wünschen der Familie erst einmal nach: heiratet einen Mann, den sie kaum kennt, lässt sich dann scheiden, nachdem sie Gewalt durch ihren Ehemann erlebt hat, heiratet erneut einen fast Unbekannten (ein längeres Kennenlernen ist in der sehr konservativen Gemeinschaft nicht möglich), bekommt drei Kinder mit ihm, und spürt den immer stärker werdenden Ruf ihrer lesbischen sexuellen Neigung, die sie seit ihrer Jugend geahnt, aber doch zu unterdrücken versucht hat. Als sie sich von ihrem zweiten Mann trennt und eine Beziehung mit einer Frau eingeht, ist das noch einmal ein stärkerer Regelbruch als je zuvor. Doch Yehudis möchte ihre religiöse Gemeinschaft nach wie vor nicht verlassen, kann das gut gehen? Und wenn ja, wie könnte es ihr gelingen?
"(K)eine von euch" ist ein humorvoll, kraftvoll und authentisch geschriebenes Buch einer unglaublich mutigen jungen Frau, die mit aller Kraft für sich einsteht und darum kämpft, so leben zu dürfen, wie es ihr entspricht und wie es sich für sie richtig anfühlt, aber gleichzeitig zu der Gemeinschaft, den Menschen und dem Glauben, die ihr so wichtig sind, in Verbindung zu bleiben. Es ist ein gut lesbares und unterhaltsames Buch, das aber gleichzeitig tief berührt und nachdenklich macht über das, was uns trennt und was uns miteinander vereint, trotz aller ideologischen Unterschiede. Leseempfehlung!