Zeitzeugenbericht der etwas anderen Art
Ein Zeitzeugenbericht der etwas anderen Art: Johannes Scheerer erzählt rückblickend, wie er 1996 als 13-Jähriger die 33-tägige Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma erlebt hat (Reemtsma-Entführung). ...
Ein Zeitzeugenbericht der etwas anderen Art: Johannes Scheerer erzählt rückblickend, wie er 1996 als 13-Jähriger die 33-tägige Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma erlebt hat (Reemtsma-Entführung). Die Erzählperspektive ist gut gewählt und authentisch wiedergegeben. Vom ersten Schock über die Schritte ins das neue, temporäre Leben ohne Vater (dafür mit Polizei, Ermittlern und Entführern) bis hin zur großen Verzweiflung - Scheerer lässt den Emotionen freien Lauf, ohne dass sein Bericht ins Kitschige abdriftet.
Man kann sie nachvollziehen, die Hoffnungslosig- und Hilflosigkeit des 13-Jährigen, dessen gesamtes Leben von jetzt auf gleich auf nur ein Thema (Entführung!) einzoomt und kaum Platz für darüber hinaus gehende Randbetrachtungen lässt. Er ist quasi mittendrin im Geschehen, aber irgendwie nicht, denn vieles, vor dem er als 13-Jähriger in dem Moment geschützt werden sollte, erfuhr er erst später. So ist es vor allem die Hilfslosigkeit, die die Gedanken des 13-Jährigen bestimmt. Neben Fragen wie: "Was kann ich tun, wie kann ich von Nutzen sein?" ist es dabei vor allem die reale Befürchtung, den Vater nie wieder zu sehen, die der 13-Jährige schon früh akzeptiert, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Briefe des Vaters aus der Gefangenschaft, in denen er liebevoll mit Frau und Sohn kommuniziert, erzeugen so einen mentalen Spagat zwischen dem schon fast als real empfundenen Verlust und der hierfür unerwünschten Hoffnung. Diese Gedanken, diese vorauseilende Akzeptanz des "bösen Endes" fand ich ziemlich düster, teils fast erschreckend.
33 Tage lang dauert die Qual. 33 Tage, in denen die Polizei sich diverse ermittlungstaktische Pannen erlaubt, in denen die Kommunikation mit den Entführern immer wieder scheitert, in denen Johannes die Außenwelt kaum wahrnimmt (und wenn doch, immer mit etwas schlechtem Gewissen) und in denen so manche an ihre Grenzen stoßen.
Die (von ein paar Gesangseinlagen abgesehen) überwiegend besonnene, ruhige Lesung vom Autor passt gut zur "Stimmung" des Buchs. Für mich persönlich hätte es an einigen wenigen Stellen noch etwas straffer sein dürfen. Grundsätzlich hat es sich aber gut lesen bzw. hören lassen und ist als außergewöhnlicher Blickwinkel auf eine solche Entführungssituation empfehlenswert.