Doktor Bluthand
Dr. Silas Aloysius Weir träumt schon länger davon, sich einen Ruf als Arzt zu erwerben. Doch sein Start in die Medizin verläuft zunächst alles andere als vielversprechend. Frauenkörper und Blut stoßen ...
Dr. Silas Aloysius Weir träumt schon länger davon, sich einen Ruf als Arzt zu erwerben. Doch sein Start in die Medizin verläuft zunächst alles andere als vielversprechend. Frauenkörper und Blut stoßen ihn ab. Seine fachliche Ausbildung lässt zu wünschen übrig. Wie also schaffte er es, dennoch zum langjährigen Direktor einer Heilanstalt für Geisteskranke und zum „Begründer der Gynäkopsychiatrie“ zu werden?
„Der Schlächter“ ist ein Roman von Joyce Carol Oates.
Der Roman ist aufgebaut wie eine Biografie mit unterschiedlichen Beiträgen: Auf die fiktive „Anmerkung des Herausgebers“ und einen kurzen Prolog folgen sechs Teile, von denen der letzte als Epilog bezeichnet wird. Die Handlung umfasst im Groben die Zeit von 1835 bis ungefähr die 1890er-Jahre und spielt im östlichen Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten von Amerika, überwiegend in Pennsylvania.
Im Mittelpunkt des Romans steht mit Dr. Silas Weir eine zwar grundsätzlich fiktive Persönlichkeit, die allerdings auf realen historischen Personen basiert, wie die Dankesworte der Autorin enthüllen. Obwohl der „Schlächter“ sicherlich ein klassischer Antiheld und kein angenehmer Charakter ist, ist die Figur komplex angelegt und verfügt über viel psychologische Tiefe. Dadurch wirkt der Protagonist authentisch.
Der Inhalt der Geschichte ist überaus heftig, insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass Teile der Handlung auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen. Der Roman lässt in die Abgründe der Medizin im 19. Jahrhundert und insbesondere der frühen Gynäkologie blicken. Brutale Experimente und operative Eingriffe werden schonungslos und detailreich geschildert. Verstümmelungen, lebensgefährliche Verletzungen, verschiedene Formen von Gewalt und andere Grausamkeiten gegenüber den Patientinnen sind an der Tagesordnung. Vor allem Frauen ärmerer Herkunft werden zu unfreiwilligen Versuchskaninchen im Rahmen einer methodisch fragwürdigen Forschung.
Immer wieder deutlich wird das frauenverachtende, misogyne Denken, das nicht nur dem Protagonisten zuzuschreiben ist. Die Lesart, dass Frauen zu emotional, zu hysterisch, aufgrund ihrer hormonellen Situation ohne Kontrolle über Verhalten und ihr Auftreten seien, kommt wiederholt zum Ausdruck. Bei der Lektüre wird erschreckend klar, dass solche Mythen zum Teil bis in die heutige Zeit überlebt haben. Auch die Tatsache, dass selbst heutzutage noch immer zu wenig Wissen über Zusammenhänge über den weiblichen Körper vorliegen, unterstreicht dieser Roman dadurch, dass er aufzeigt, wie absurd die ersten medizinischen Annahmen waren. Zudem macht die Geschichte die Schattenseiten des Patriarchats eindrucksvoll deutlich. In der feministischen Debatte liefert dieser Roman mithin eine Menge Stoff.
Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven. Dieses kreative Konzept gefällt mir. Dass nicht alle oder vielleicht sogar die wenigsten Erzählstimmen als zuverlässig angesehen können, verleiht der Geschichte Pfiff. Leider dominieren die Tagebucheinträge („Aus der Chronik eines Arztlebens“) und damit die Perspektive von Silas Weir sehr stark, was auf den rund 440 Seiten zu Redundanzen und langatmigen Passagen führt. Darüber hinaus hat meinen Lesegenuss geschmälert, dass mir Teile der Handlung als zweifelhaft bis unglaubwürdig erscheinen.
Auf der sprachlicher Hinsicht ahmt der Roman die Ausdrucksweise des 19. Jahrhunderts nach. Dies funktioniert auch in der deutschen Übersetzung von Silvia Morawetz, die ich als angenehm unauffällig empfunden habe.
Das etwas mysteriöse Covermotiv macht neugierig. Der martialische Titel ist zwar ein wenig überspitzt, geht für mich aber dennoch in Ordnung.
Mein Fazit:
„Der Schlächter“ ist eine aufschlussreiche, schockierende Lektüre, die der Leserschaft starke Nerven abverlangt. Mit ihrem Roman zu den Anfängen der Gynäkologie und Psychiatrie ist Joyce Carol Oates ein ungewöhnlicher und trotz seiner Schwächen lesenswerter Roman gelungen.