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Veröffentlicht am 05.03.2017

Wo Schatten ist, ist auch Licht - Die stillen Helden des Holocausts

Jahrhundertzeugen
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Der Journalist Tim Pröse fing schon als Kind an, sich mit der schweren Thematik des Holocausts auseinander zu setzen. Er hat im Laufe der Jahre mit zahlreichen Zeitzeugen und deren Nachfahren geredet, ...

Der Journalist Tim Pröse fing schon als Kind an, sich mit der schweren Thematik des Holocausts auseinander zu setzen. Er hat im Laufe der Jahre mit zahlreichen Zeitzeugen und deren Nachfahren geredet, teilweise über Jahre hinweg ihre Lebenswege verfolgt. Herausgekommen ist dieses wunderbare Buch mit 18 spannenden Porträts.

Hier werden Menschen gezeigt, die den Krieg hautnah miterlebt haben und laut Tim Pröse echte Helden sind. Viele von ihnen wollten nie Helden sein und sehen sich auch nicht so. Manche hatten keine Wahl, versuchten einfach nur zu überleben, wie das Holocaust-Opfer Yehuda Bacon oder der Wehrmachtssoldat Hans-Erdmann Schönbeck. Andere traten dem Nazi-Regime offen entgegen und ließen dafür ihr Leben, wie die Geschwister Scholl oder die Hitler-Attentäter Stauffenberg und Elser. Für diejenigen, die damals den Terror nicht überlebten, sprechen Familiemitglieder und Freunde.

Was man hier liest, ist keine leichte Kost. Lässt man sich auf das Buch ein, wird man emotional stark mitgerissen. Ich habe mehrere Wochen an diesem Buch gelesen, denn vieles wirkt noch lange nach und man muss das Gelesene mitunter erstmal verdauen.

Da sind die Erlebnisse von KZ-Häftlingen und Soldaten, die um das nackte Überleben kämpften und Dinge schildern, die man sich heute nicht in seinen schlimmsten Albträumen vorstellen kann. Ich habe oft vor Schreck die Luft angehalten oder konnte meine Tränen kaum zurückhalten. Und dann gibt es diejenigen, die sich in dieser Hölle ihre Menschlichkeit bewahrt haben und für ihre Ideale und das Leben anderer Menschen alles riskiert haben, obwohl sie es einfacher hätten haben können, da sie Arier waren. Dies erfüllte mich mit tiefem Respekt. Diese Helden zeigen, dass es auch immer Licht gibt, wo Schatten ist.

Wenn man über das, was die Menschen im Weltkrieg erleben mussten, liest, kommen einem die eigenen Sorgen klein und unwichtig vor. Stress auf der Arbeit, Streit mit dem Partner, finanzielle Sorgen - all das ist nichts gegen die Gräuel, die Millionen Menschen damals erleiden mussten. Wir sollten dankbar sein, dass wir in Frieden und Freiheit leben dürfen und mithelfen, dass sich solche schrecklichen Dinge nicht mehr wiederholen. Denn ich war etwas schockiert über das abschließende Kapitel, in dem der Autor einen Blick auf die Situation heute wirft, wie mit dem Andenken an den Holocaust und seine Opfer umgegangen wird und wie stark der Antisemitismus auch heute noch in Deutschland und anderen Ländern präsent ist. Das finde ich erschreckend.

Trotz der schweren Thematik ließ sich das Buch dank des angenehmen und lebendigen Schreibstils sehr flüssig lesen. Ich hätte mir nur mehr Bilder gewünscht, habe aber auch vieles noch im Nachgang selbst weiter recherchiert. Hierfür ist auch die Literaturliste im Anhang nützlich.

Besonders schön fand ich, dass man Pröses Bewunderung und Sympathie für die Porträtierten richtig spürt. Er schafft Emotionen, ohne pathetisch zu werden, obwohl oder auch weil er sich selbst emotional auf diese Menschen einlässt, sie gerne ein Stück ihres Lebensweges begleitet, mit ihnen in die Vergangenheit reist und ihnen mit Respekt und Ehrfurcht begegnet. Man spürt seine Dankbarkeit, diese besonderen Menschen kennenlernen zu dürfen, und dies überträgt sich auf den Leser. Ich persönlich empfinde diese hier so liebevoll aufgezeichneten Begegnungen als etwas ganz Besonderes und kann "Jahrhundertzeugen" jedem wärmstens ans Herz legen.

Veröffentlicht am 26.02.2017

Gelungener Auftakt einer spannenden Reihe um die Welt der griechischen Götter - und der Teenagerhormone

GötterFunke 1. Liebe mich nicht
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"GötterFunke" ist das erste Buch von Marah Woolf, das ich gelesen habe. Ich habe schon viel Gutes von dieser Autorin gehört, und da in dieser Geschichte die griechische Mythologie eine große Rolle spielt, ...

"GötterFunke" ist das erste Buch von Marah Woolf, das ich gelesen habe. Ich habe schon viel Gutes von dieser Autorin gehört, und da in dieser Geschichte die griechische Mythologie eine große Rolle spielt, wollte ich sie unbedingt lesen.

Zuerst fange ich mit meinen Kritikpunkten an:

Jess war mir sehr sympathisch, aber sie ist leider der totale Stereotyp. Das sehr intelligente, sportliche Mädchen, Marke "Kumpel-Typ", das sein Licht total unter den Scheffel stellt und denkt, es sei für Jungs unsichtbar. Aber eigentlich ist sie superhübsch, so dass sich die tollsten Hechte in sie vergucken, obwohl sie doch nie auf ihr Äußeres achtet. Ja, na ja... es gibt Einfallsreicheres.

Cayden ist einfach nur perfekt, zumindest rein optisch. Er sieht so toll aus, dass ihm die Mädchen wortwörtlich am Hals kleben. Nun ja, er ist ein Gott, und das entschuldigt seine atemberaubende Wirkung auf Mädchen.

Aber auch alle anderen Figuren - und zwar nicht nur die göttlichen - sind mit einem perfekten Äußeren gesegnet. Jess' bester Freund Josh ist ein Frauenmagnet und steht den Göttern diesbezüglich in nichts nach. Jess' beste Freundin Robyn ist ebenfalls der Typ Topmodel. Und hey, sie können alle fechten! Manchmal hätte ich mir neben den sowieso (optisch) perfekten Göttern ein paar Normalos gewünscht.

Auch Jess' endlose Schwärmerei für Cayden fand ich nach über 100 Seiten langsam etwas anstrengend. Die ganze Zeit wird betont, wie wunderschön und gut gebaut Cayden ist. Jetzt mal abgesehen davon, dass mich diese Oberflächlichkeit zusehends nervte, trug es irgendwann auch nichts mehr zur Handlung bei.

Aber hier muss ich natürlich auch berücksichtigen, dass sich das Buch vor allem an Teenager richtet. Und ich kann mir vorstellen, dass jüngere Leserinnen zusammen mit Jess über 400 Seiten seufzen und schmachten können. Und Jess ist ja durchaus selbstkritisch und merkt selbst, dass sie total von der Rolle ist. Ich denke nur, man hätte sich ein paar "Oh Cayden, küss mich und reiß mir die Klamotten vom Leib!"-Szenen sparen können. Und auch das ewige Hin und Her hat ein bisschen genervt, wenn Jess mal wieder der Meinung war, dass Cayden ja gar nichts von ihr will, während er sie ständig schmachtend anblickt, eifersüchtig auf jeden ist und sofort wie aus dem Nichts als großer Beschützer auftaucht, sobald Jess auch nur niesen muss.

Aber kommen wir zu den Dingen, die mir an diesem Buch sehr gut gefallen haben:

Ich mag den Schreibstil sehr, er ist lebendig und jugendgerecht und lässt sich flüssig lesen. Der Plot ist gut durchdacht. Wir haben auf der einen Seite typische Teenager-Themen wie Freundschaft, Schwärmerei, Probleme mit den Eltern. Und parallel dazu gibt es die mythische Welt mit ihren Göttern und anderen Kreaturen

Mir hat es gut gefallen, wie Marah Woolf sich mit der griechischen Mythologie auseinandersetzt und diese in die Handlung einbezieht, Vergangenheit mit Gegenwart verwebt. Die Götter und Mythen spielen eine große Rolle in diesem Buch, und man merkt richtig die Begeisterung und Faszination für die griechischen Götter. Es wird vieles erklärt, so dass auch Nicht-Kenner der griechischen Mythologie alles verstehen.

Toll fand ich, dass Jess sich so sehr für die Antike interessiert. Das muss natürlich so sein, da es für die Geschichte stimmiger ist, wenn sie z. B. einen Altgriechischkurs mit Cayden, Apollo und Athene besucht und sich mit den Mythen etwas auskennt, um Zusammenhänge schneller zu verstehen. Aber ein echtes Interesse an der Antike ist doch eher selten bei einer jugendlichen Protagonistin, und da ich selbst Klassische Archäologin bin, finde ich es klasse, dass Jess eine nicht alltägliche Leidenschaft hat.

Es war von Anfang an klar, dass es sich hier um den Auftakt einer Reihe handelt, so dass es nicht überrascht, dass das Ende offen ist. Wir haben es zum Glück nicht mit einem bösen Cliffhanger zu tun, aber die Geschichte zwischen Jess, Cayden und den Göttern ist noch nichtmal ansatzweise fertig erzählt, und man bleibt etwas unbefriedigt zurück, wenn man nach über 440 Seiten das Buch schließt. Im Anhang findet sich noch eine Leseprobe aus dem zweiten Band "GötterFunke - Hasse mich nicht" (erscheint voraussichtlich im September), die neugierig macht und grob zeigt, in welche Richtung es weitergeht.

Ich habe trotz meiner Kritikpunkte das Buch sehr gerne gelesen und fand die Handlung auch - abgesehen von den endlosen Schwärmereien - spannend und unterhaltsam. Ich werde die Reihe auf jeden Fall weiterverfolgen und freue mich schon darauf, die Fortsetzung zu lesen.

Veröffentlicht am 22.01.2017

Ganz nett, aber hatte mir mehr Geschichten erwartet

"Keine Ahnung, wo wir hier gerade sind"
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Ich bin selbst schon mehrere Male mit dem Fernbus gefahren, und mir gefällt diese meist kostengünstigere Art des Reisens, wenngleich man es auch hier immer mal wieder mit Unannehmlichkeiten wie nervigen ...

Ich bin selbst schon mehrere Male mit dem Fernbus gefahren, und mir gefällt diese meist kostengünstigere Art des Reisens, wenngleich man es auch hier immer mal wieder mit Unannehmlichkeiten wie nervigen Mitfahrern, zu wenig Platz, Verspätungen oder Kamikaze-Busfahrern zu tun hat. Mir persönlich ist bei meinen Fahrten jedoch noch nichts Irrwitziges passiert, und deshalb war ich umso gespannter auf Sina Poussets Erzählungen.

Eines muss man der Autorin lassen: Sie scheint ihr halbes Leben im Bus zu verbringen, reist kreuz und quer durch Deutschland und hat somit natürlich schon vieles erlebt. Sie kennt sich aus und hat Routine - sollte man zumindest meinen. Allerdings ist auch Pousset nach so vielen Fahrten nicht vor den Tücken des Busfahrens gefeit. Auf den letzten Drücker am Abfahrtsort ankommen, den Bussteig nicht finden, die wichtigsten Dinge unerreichbar nach unten packen, viel zu viel Gepäck mitnehmen und Wesentliches vergessen: Die Autorin ist herrlich unperfekt und steht auch dazu. Das machte sie mir schnell sympathisch.

Auch sprachlich wird hier einiges geboten. Poussets Schreibstil ist eloquent und pfiffig, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Humor und Selbstironie. Der Humor der Autorin gefällt mir.

Mir persönlich hat das Buch jedoch inhaltlich nicht so zugesagt. Ich hatte mir auf Grund des Klappentextes heitere Anekdoten aus dem Fernbus erhofft. Diese findet man hier jedoch nur selten und dann auch nur wenige Zeilen lang. Ansonsten ist das Buch eher eine Art nicht ganz ernst gemeinter Ratgeber rund um das Thema "Reisen mit dem Fernbus". Was ja auch nicht ganz verkehrt ist, aber wie gesagt, ich hatte etwas Anderes erwartet und mir haben die Geschichten gefehlt. So fand ich es nach einiger Zeit dann doch etwas langweilig und trocken, zwischendurch verließ mich auch mal die Leselust und ich legte das Buch ein paar Tage weg. Ich muss nicht x-mal mit der vollbepackten Autorin auf den letzten Drücker zum Bahnsteig hechten, um dann ihren pseudo-philosophischen Gedankengängen zu verschiedenen Themen zu folgen. Statt stereotype Beispiele aufzuzählen, hätte ich mir mehr konkrete Erlebnisse gewünscht. Dazu dann noch die Kästen, in denen selbst erfundene Begriffe wie "Der WLAN-Infarkt" oder "Die Ruckschuld" erklärt werden, welche ich persönlich nicht witzig fand und die den Lesefluss deutlich hemmten.

Von daher ist es vielleicht ein lustiges Geschenk für jemanden, der seine erste Fahrt mit dem Fernbus noch vor sich hat. Die Autorin hat schon auch interessante Gedankengänge und ich musste ab und zu schmunzeln. Schreibstil und Humor der Autorin sind klasse. Aber ich hätte mir hier statt eines Pseudo-Ratgebers eine Sammlung erfrischender Reiseanekdoten gewünscht und wurde mit diesem Buch leider nicht warm.

Veröffentlicht am 15.01.2017

Anschauliche Biographie einer starken Persönlichkeit

Nujeen – Flucht in die Freiheit
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Als im Jahr 2015 der Flüchtlingsstrom seinen (vorläufigen?) Höhepunkt erreichte, war auch die 16jährige Nujeen mit ihrer Familie unter den Flüchtenden. Das Besondere und auch Beschwerliche an Nujeens Flucht ...

Als im Jahr 2015 der Flüchtlingsstrom seinen (vorläufigen?) Höhepunkt erreichte, war auch die 16jährige Nujeen mit ihrer Familie unter den Flüchtenden. Das Besondere und auch Beschwerliche an Nujeens Flucht ist, dass sie seit ihrer Geburt an Kinderlähmung leidet und die beschwerliche Flucht nach Europa im Rollstuhl mit Hilfe von Familie und hilfsbereiten Menschen schaffte. Wichtigste Bezugsperson ist stets Nujeens ältere Schwester Nasrine, die ihre behinderte Schwester niemals alleine lässt und sie auch durch die unwegsamstem Gelände schiebt. Ich persönlich finde, dass dieser Frau ganz besonders viel Respekt gezollt werden muss, auch wenn stets ihre kleine Schwester Nujeen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.

Nujeens Geschichte beginnt 1999 in Syrien, als die Konflikte beginnen, die die Familie zu einem Umzug von Aleppo nach Manbidsch zwingen. Dann 2015 die Flucht in die Türkei und anschließend der lange Weg nach und durch Europa. Seit September 2015 lebt Nujeen mit ihren Geschwistern in Deutschland und versucht, ein ganz normales Leben in einem Land zu führen, in dem sie sich manchmal wie ein Alien vorkommt.

Das Buch ist in drei große Abschnitte eingeteilt: "Syrien 1999-2014", "Europa August - September 2015" und "Deutschland 2015". Nujeens Leben in Syrien und alle Etappen ihrer Flucht werden detailreich, lebendig und anschaulich erzählt, so dass man das Gefühl hat, man wäre selbst dabei.

Die junge Frau hat Sinn für Humor und ein positives Naturell. Stets versucht sie, das Gute in allem zu sehen. Auch während der Flucht empfindet sie vieles anders als ihre Weggefährten. Sie betrachtet die lebensgefährliche Überfahrt nach Griechenland in einem Schlauchboot sogar als Abenteuer, und sie genießt es anfänglich, so viel Neues zu erleben, da sie in ihrer Heimat aufgrund ihrer Behinderung bislang nur im Haus bleiben musste. Nur wenige Male ist auch sie kurz vor der Verzweiflung.

In dieser Biographie erfährt der Leser viel Neues, nicht nur über Syrien oder die Flüchtlingspolitik in Europa. Nujeen lässt den Leser auch an ihrem umfangreichen Wissen aus allen möglichen Bereichen teilhaben. Denn sie ist trotz fehlender Schulbildung sehr intelligent und gebildet. Sie eignete sich ihr Wissen aus Büchern und dem Fernsehen an, entdeckte ihr Sprachtalent beim Schauen von Seifenopfern und kann sich äußerst gut Details wie Namen und Jahreszahlen merken.

Nujeens Geschichte steht stellvertretend für so viele Schicksale von Flüchtlingen, die sich nur eines mit ihrer meist lebensgefährlichen Reise nach Europa erhoffen: Endlich in Frieden leben zu können. Für alle Hetzer sollte diese Biographie Pflichtlektüre sein.

Veröffentlicht am 06.01.2017

Wichtiges Zeitdokument aus Sicht eines Wehrmachtssoldaten

Wir waren keine Menschen mehr
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Dieses Buch aus der Reihe „Memoria – Erinnerungen an das 20. Jahrhundert“ wollte ich unbedingt lesen, da ich mich sehr für den 2. Weltkrieg und v. a. Einzelschicksale aus dieser Zeit interessiere. Bislang ...

Dieses Buch aus der Reihe „Memoria – Erinnerungen an das 20. Jahrhundert“ wollte ich unbedingt lesen, da ich mich sehr für den 2. Weltkrieg und v. a. Einzelschicksale aus dieser Zeit interessiere. Bislang hatte ich allerdings fast nur Biographien von jüdischen Holocaustopfern gelesen, dies war also mein erster Bericht aus Sicht eines Soldaten.

Raffeiner gerät als Frontsoldat und später als Gefangener natürlich in sehr viele lebensbedrohliche Situationen, die er mit einer Mischung aus handwerklichem Geschick, viel Glück und Zufall meist unbeschadet übersteht. Er berichtet nur sehr wenig über die Gefechte, in die er verwickelt ist, sondern mehr über das „Drumherum“. Dem Leser bleiben dadurch sicherlich viele Grausamkeiten erspart. Raffeiner ist von Anfang jemand, der das Töten meidet, wenn es möglich ist. Er erwähnt auch nie, dass er einen feindlichen Soldaten getötet hat, was aber sicherlich in den Gefechten unvermeidbar gewesen sein muss, selbst wenn er in erster Linie für die technische Wartung der Panzer zuständig war. Als er den Befehl erhält, russische Gefangene zu töten, schafft er es, dass der „Auftrag“ an einen Kameraden geht. Auch als Raffeiner erfährt, was mit den Juden passiert, ist er betroffen, doch er hat keine Zeit, sich darüber weiter Gedanken zu machen.

Denn trotz all seiner Menschlichkeit: Es ist Krieg, und man will das eigene Überleben sichern. Anfangs ist Raffeiner noch interessiert an den Lebensumständen der Einheimischen, verbringt gerne Zeit mit ihnen, scherzt und lacht. Doch bald weicht seine Empathie dem Lebenserhaltungstrieb, er stumpft immer mehr ab.

„In den Holzhütten [der Einheimischen] gab es häufig kleine einfache Holzkamine, die je nach Jahreszeit auch nur mit Steppengras befeuert wurden. Der Ofen spendete für unsere Truppe häufig zu wenig Wärme. Deshalb schürten wir mit allem, was wir finden konnten, nach. So manches Mal kam es auch vor, dass wir damit die ganze Holzhütte in Brand setzten und aus der Behausung flüchten mussten. Wir waren nun mal keine Heiligen. Auf dem Vormarsch nicht und schon gar nicht jetzt beim Rückzug. Vor allem dann nicht, wenn wir Hunger hatten und unsere 'Fresskiste' mit Verpflegung auffüllen mussten, weil unsere eigene Verpflegung bei Weitem nicht reichte. Dann mussten wir uns etwas 'organisieren', wie wir damals sagten. Einmal überfielen wir ein kleines Dorf und schlachteten Hennen, Enten und anderes Vieh. Wir drangen in die Hütten ein, beuteten die Keller aus und suchten im Lehmboden nach Spuren von vergrabenem Essen. Was sollten die Dorfbewohner auch machen? Es waren ja nur Frauen, Kinder und Alte – die Männer waren im Einsatz. Natürlich haben sie geweint, wenn wir ihnen das Vieh weggenommen haben. Schuldgefühle hatte ich aber keine. In dieser Welt war das normal, das war kein Verbrechen, auch wenn das in der heutigen Welt nicht verstanden wird. Das war Krieg, das gehörte dazu, es ging ums Überleben.“ (S. 100)

Hitler hatte den Soldaten angeordnet, sich „aus dem Lande zu ernähren“, d.h. sie mussten für ihr Überleben die Einheimischen ausplündern, da es keinen bzw. nur unzureichenden Nachschub gab. Außerdem sollten sie bei Rückzügen verbrannte Erde hinterlassen. Raffeiner tut dies irgendwann ohne jegliche Schuldgefühle. Sie oder ich, so lautet das Motto des Krieges. Er entschuldigt sich nicht dafür, er legt schlicht die Fakten dar. Er versucht sich seine Menschlichkeit zu erhalten, doch irgendwann verbieten es die äußeren Umstände. Oder wäre es doch möglich gewesen? Ich will mir kein Urteil darüber erlauben.

Der Schreibstil ist lebendig und lässt sich sehr flüssig lesen. Die Kriegserlebnisse sind meist ohne Wertung und eher unemotional geschildert. Raffeiner war kein Nationalsozialist, er hat einfach gekämpft, wie es viele Soldaten taten, die gegen ihren Willen an die Front geschickt wurden. Er äußert keine Ressentiments gegen Juden, feindliche Soldaten oder andere „Staatsfeinde“, auch dann nicht, als er in russische Kriegsgefangenenschaft gerät und fast an den Strapazen stirbt.

Aufgewertet wird das Buch durch zahlreiche s/w-Fotos, die Raffeiner während seiner Soldatenzeit selbst geschossen hat. Allerdings sind hier nur die "idyllischen" Fotos erhalten geblieben. Raffeiner hat durchaus auch die Gräueltaten der Wehrmacht und der Russen dokumentiert, jedoch wurden diese Bilder vermutlich von einem nationalsozialistisch gesinnten Cousin, der sie aufbewahrte, entsorgt. Immerhin müssen empfindliche Leser hier nicht befürchten, auf schockierende oder eklige Bilder zu stoßen.

Wie in allen Bänden der Memoria-Reihe wird die eigentliche Erzählung von einem (kurzen) Vorwort und einem langen Nachwort (inkl. Fußnoten) durch einen Historiker abgerundet. Das über 30 Seiten lange Nachwort von Hannes Heer ergänzt, analysiert und korrigiert gegebenenfalls auch Raffeiners Erzählungen. Dem Leser werden nochmal zahlreiche Zahlen und Fakten genannt. Im Vergleich zu den Zeitzeugen-Berichten ist das Nachwort wissenschaftlich gehalten und meist ziemlich trocken. Für meinen Geschmack hätte es etwas straffer sein dürfen. Aber für diejenigen, die sich noch tiefer in die Materie einlesen wollen, sind diese Ausführungen sicherlich sehr interessant.

„Wir waren keine Menschen mehr“ ist ein weiterer wichtiger Zeitzeugenbericht über den 2. Weltkrieg. Fast wollte ich schreiben, dass wir hier diesmal die Täterseite kennenlernen. Doch wenn man richtig nachdenkt, so glaube ich, dass Raffeiner nicht nur Täter, sondern auch gleichzeitig Opfer der kranken Politik Hitlers war. Auch wenn es mittlerweile viele solcher Berichte gibt, ist jeder einzelne von ihnen wichtig, damit wir nicht die Augen verschließen vor dem, was damals geschah, und aus der Geschichte lernen.