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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.07.2022

Ruhiges Familienepos

An den Ufern von Stellata
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Giacomo und Viollca passen auf den ersten Blick kaum zusammen. Er ist ruhig und schwermütig, sie ist das Feuer selbst. Doch als sie mit einem Wagenzug in den kleinen Ort Stellata kommt und durch starke ...

Giacomo und Viollca passen auf den ersten Blick kaum zusammen. Er ist ruhig und schwermütig, sie ist das Feuer selbst. Doch als sie mit einem Wagenzug in den kleinen Ort Stellata kommt und durch starke Regefälle an der Weiterreise gehindert den Winter dort verbringt, finden die beiden zueinander. Von ihnen ausgehend entspringt die Geschichte einer Familie, ähnlich verschlungen wie die Windungen des Flusses Po, an dessen Ufern sie spielt.

Einfühlsam und in bildgewaltigen Worten schafft Daniela Raimondi einen Roman, dem man sich von den ersten Seiten an kaum mehr entziehen kann. Sie erzählt von der Liebe, von Sorgen und Ängsten, vom Über-sich-selbst-Hinauswachsen, lenkt gekonnt den Blick auf Details und verliert dabei doch nicht das große Ganze aus den Augen. Unterstrichen wird das 200 Jahre umfassende Familienepos durch die Lebendigkeit der Atmosphäre Italiens und einige mysthische Elemente.
Bei der Dicke des Romans - immerhin über 500 Seiten - ist es zu verkraften, dass sich gegen Ende ein paar Längen einschleichen. Ein paar Figuren, sprich: ein oder zwei Generationen weniger hätten es sicher auch getan; andererseits ist es nicht zuletzt der große Umfang, der diese Familliengeschichte von anderen unterscheidet, die sich auf 3 oder 4 Generationen beschränken.

Insgesamt ist "An den Ufern von Stellata" ein Roman, mit dem ich viele angenehme, sommerliche Stunden verbracht habe. Wer dazu bereit ist, sich tief in eine eher ruhige Geschichte mit italienischem Flair hineinziehen zu lassen, ist hiermit gut bedient!

Veröffentlicht am 06.06.2022

Leider nicht sehr spannend

Die neue Wildnis
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Dystopische Szenarien scheinen in unserer heutigen Welt immer weniger unwahrscheinlich - Kriege, Klimawandel und Umweltkatastrophen bieten viel Raum für düstere Vorhersagen. Gerade weil wir gar nicht so ...

Dystopische Szenarien scheinen in unserer heutigen Welt immer weniger unwahrscheinlich - Kriege, Klimawandel und Umweltkatastrophen bieten viel Raum für düstere Vorhersagen. Gerade weil wir gar nicht so weit weg von solchen Vorstellungen sind, üben dystopische Romane auf mich immer wieder eine große Faszination aus.

So auch "Die neue Wildnis" von Diane Cook, das im Amerika der nahen Zukunft spielt und das Leben einer etwa 20-köpfigen Gruppe von Menschen im sogenannten "Wildnis-Staat" beschreibt. Diese Wildnis ist die letzte, die es noch gibt; die Städte sind überfüllt und vermüllt und lassen wortwörtlich kaum Luft zum Atmen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts darf eine kleine Gruppe Freiwilliger nun auswandern in diesen Wildnis-Staat, der an eine Art Nationalpark erinnert und von Rangern betreut wird. Es gibt strenge Auflagen für die Gruppe - sie müssen das Leben von Nomaden führen und dürfen nirgendwo länger als ein paar Tage verweilen, sie dürfen kaum persönliche Gegenstände mitnehmen und vor allem dürfen sie keinerlei Müll oder sonstige Spuren hinterlassen. Ein solches Leben ist hart, auf eine ganz andere Weise, als sie es aus der Stadt gewohnt sind. Plötzlich müssen sie sich mit wilden Pumas arrangieren, müssen auf ihren Wanderungen reißende Flüsse überqueren und nachts und im Winter Kälte und Hunger ertragen. Viele sterben.

Im Zentrum der Handlung stehen Bea, ihr Mann Glen, der einer der Mitentwickler des Programms war, und deren kleine Tochter Agnes. Der Roman schildert die Spannungen in der Gruppe, beschreibt die Schwierigkeiten des Überlebens in freier Natur, die die Gruppe immer wieder an ihre Grenzen führt.

Der Roman klang wirklich toll und hat sofort mein Interesse geweckt; leider war es dann aber doch eine recht kurze Liebe zwischen uns. Mein Problem ist weniger, dass mir Bea (aus deren Sicht der erste Teil der Geschichte erzählt wird) ausgesprochen unsympathisch war. Das hätte ich verkraftet, hätte die Geschichte etwas mehr Spannung entwickelt. Leider plätschert sie die meiste Zeit über jedoch merklich langsamer dahin als die zahlreichen Flüsse, die die kleine Gruppe durchqueren muss, ist also nicht gerade mitreißend; dazu kommt, dass vieles nicht mit der Tiefe beschrieben und erklärt wird, die ich mir gewünscht hätte. Wirklich schade, denn Beas Tochter Agnes und ihre Sicht auf die Welt mochte ich sehr, nur hat auch hier zu oft einfach der Schwung gefehlt und statt einer spannenden Dystopie habe ich, trotz einiger tragischer Szenen, das Gefühl, ein Buch über einen dezent eskalierenden Campingausflug gelesen zu haben. Und das war nicht das, was ich haben wollte.

Veröffentlicht am 18.05.2022

Intensiv und ehrlich

Luftpolster
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Nach dem versuchten Selbstmord ihrer Schwester lässt sich die namenlose Protagonistin in eine Psychiatrie einweisen. Schon lange Zeit vorher hat sich der schlechte psychische Zustand der Schwester abgezeichnet ...

Nach dem versuchten Selbstmord ihrer Schwester lässt sich die namenlose Protagonistin in eine Psychiatrie einweisen. Schon lange Zeit vorher hat sich der schlechte psychische Zustand der Schwester abgezeichnet und die ganze Familie schwer belastet. Nun braucht die Protagonistin Abstand und Zeit für sich, um Schmerz und Trauer zu verarbeiten. Der immergleiche Ablauf der Kliniktage und die strengen Schlafens-, Essens- und Therapiepläne geben ihr dabei ebenso viel Halt wie die regelmäßigen Ausflüge in den Raucherraum und die Gespräche mit den anderen Patient*innen.

Die Handlung flackert hin und her zwischen der Gegenwart und Ausschnitten der Vergangenheit, die Einblicke in die Beziehung der Protagonistin zu ihrer Familie geben. Dabei wird schnell klar: Der Selbstmordversuch war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte; Schwierigkeiten mit den Eltern und in der Schule sowie das Gefühl, mit dem eigenen Körper nicht zufrieden sein zu können, sind seit ihrer Kindheit ständige Begleiter der Protagnistin.
Die häufigen Wechsel der teilweise sehr kurzen Szenen und die konsequente Kleinschreibung im ganzen Roman mögen im ersten Moment irritieren, veranschaulichen aber sehr gut die Verfassung der Protagonistin. Der innere Konflikt, der Schmerz und die unausgesprochene Frage, ob sie nicht mehr hätte tun, mehr hätte da sein können, ob sie nicht überhaupt mehr sein müsste, beschäftigen die Protagonistin und bringen sie bis an ihre Grenzen. Vieles bleibt vage, Vieles bleibt unausgesprochen. Und doch, oder gerade deshalb, ist "Luftpolster" ein sehr intensiver, verdichteter Roman, über dem man beim Lesen komplett die Zeit vergessen kann.

Veröffentlicht am 14.05.2022

360 Seiten Langeweile

Das Leben eines Anderen
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Nach dem Tod Daisukes muss Rie feststellen, dass ihr Ehemann nicht der war, für den sie ihn gehalten hat. Stattdessen hat er sie und sein gesamtes Umfeld die ganze Zeit ihrer Bekanntschaft hindurch über ...

Nach dem Tod Daisukes muss Rie feststellen, dass ihr Ehemann nicht der war, für den sie ihn gehalten hat. Stattdessen hat er sie und sein gesamtes Umfeld die ganze Zeit ihrer Bekanntschaft hindurch über seine wahre Identität getäuscht. Akira Kido, Anwalt, Ehemann und Vater, selbst mit dem Alltagstrott seines Lebens unzufrieden, soll nun nachforschen und herausfinden, wer Daisuke wirklich war.

Achja. Die Kultur Japans, persönliche Konflikte, der Tausch zweier Identitäten - es klang so vielversprechend. Der Einstieg hat mir auch noch recht gut gefallen, dann wurde es allerdings schnell zäh und meine Lust zum Weiterlesen war bald verflogen. Die Suche danach, was Daisuke dazu bewogen hat sein altes Leben hinter sich lassen zu wollen, und die Frage, wie ihm dies gelungen ist, hätten wirklich spannend sein können - waren sie aber nicht. Mir hat die Beschäftigung mit der Persönlichkeit der Figuren gefehlt, bzw. hat sie mich dort, wo sie vorhanden war, nicht packen können. Gespräche wirkten zu häufig zu konstruiert, und statt einem tiefen Einblick in die japanische Kultur blieb dieses Thema (ebenso wie andere eigentlich interessante Punkte) sehr oberflächlich und nur am Rande abgehandelt. Ich hatte irgendwann das Gefühl, eine Art (wenig spannenden) Krimi zu lesen - und das ist leider nicht, was ich mir von diesem Roman erhofft hatte. Dass laut Klappentext irgendwann auch Ries Anwalt in Versuchung gerät, sein Leben hinter sich zu lassen und eine andere Identität annimmt, hat mich noch eine Weile hoffen lassen; aber auch dieser Aspekt konnte es für mich letzten Endes nicht mehr retten.

Ich hatte mir viel erhofft von diesem Roman, zumal "Identitätstausch" etwas ist, womit ich mich bisher noch nie auseinandergesetzt habe. Leider ist meine Enttäuschung nach dem Lesen aber mindestens so groß wie meine Vorfreude vor dem Lesen. Mein Hauptgefühl währenddessen war Langeweile.

Veröffentlicht am 12.05.2022

Intensiv und ehrlich

Nachtschwärmerin
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Kiara und ihr älterer Bruder Markus wachsen in einer heruntergekommenen Gegend East Oaklands auf. Ohne Eltern müssen sie sich irgendwie durchschlagen - alles andere als einfach, zumal Kiara noch nicht ...

Kiara und ihr älterer Bruder Markus wachsen in einer heruntergekommenen Gegend East Oaklands auf. Ohne Eltern müssen sie sich irgendwie durchschlagen - alles andere als einfach, zumal Kiara noch nicht 18 ist und keinen richtigen Job bekommt, während Markus alle Hoffnungen auf den Durchbruch als Musiker setzt. Doch Essen und Miete zahlen sich nicht von alleine, weshalb Kiara erst langsam und dann immer schneller in die Prostitution hineinschlittert, eine Sache, aus der es bald kein Entkommen mehr gibt.

Dass dieser Roman keine locker-leichte Wohlfühllektüre ist, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Die Geschichte beginnt verhältnismäßig harmlos mit den Schilderungen von Kiaras und Markus' Lebensumständen und nimmt dann schnell an Fahrt auf - und das wird phasenweise schon recht heftig, auch deshalb, weil Ki eine dieser Protagonistinnen ist, mit denen man mitfühlt und denen man irgendwie helfen möchte, aus diesem Leben zu entkommen. Denn selbst, wenn sie sich und ihre kleine Familie mit dem Verkauf ihres Körpers knapp über Wasser halten kann - ein Weg hinaus tut sich dadurch nicht auf. Als dann auch noch ihr Name in einem Skandalprozess fällt, muss Kiara sich entscheiden - ist Gerechtgkeit es wert, dafür alle, die ihr wichtig sind, zu gefährden?

Intensiv und düster packt Leila Mottley hier eine ganze Menge Gesellschaftskritik in ihren Roman, der aufgrund seiner Thematik wohl noch eine ganze Weile nachhallen wird.