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Veröffentlicht am 03.04.2018

Afghanistan (Horror) Picture Show

Afghanistan Picture Show oder Wie ich die Welt rettete
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Vollmann beschreibt „eine Geschichte von einem, der auszog, die Welt zu retten, und den Notleidenden zur Last fiel“: wie er als 23-Jähriger in das von den Russen besetzte Afghanistan reiste um in Erfahrung ...

Vollmann beschreibt „eine Geschichte von einem, der auszog, die Welt zu retten, und den Notleidenden zur Last fiel“: wie er als 23-Jähriger in das von den Russen besetzte Afghanistan reiste um in Erfahrung zu bringen, was die Muschaheddin benötigen, um sich in ihrem Elend selbst zu helfen. Die Antwort: Waffen. Die kann der „Junge Mann“ ihnen nicht geben, wie er überhaupt nicht helfen kann. Um die Flüchtlingslager macht er lange einen großen Bogen, in den Interviews kratzt er an der Oberfläche, fast die ganze Zeit bleibt er in Pakistan, weil ihm die beschwerliche Einreise nach Afghanistan nicht gelingt. Als sie ihm gelingt, ist sein Ausflug ein peinliches Fiasko.
Vollmann ist ein Profi im Erzählen. Er nutzt die schonungslose Naivität des „Jungen Mannes“, also seiner selbst, um dem Leser stets einen noch dümmeren Spiegel vorzuhalten. Seine Fehltritte, Unhöflichkeiten, Unwissenheiten, hoffnungslos verkopften Vorstellungen von der Welt sind auch Mittel zum Zweck des Erzählens: Der Leser lernt dabei viel über die Mentalität der Afghanen und Pakistani, über die überkommenen Stammesstrukturen, den mittelalterlichen Islam und die archaischen Traditionen, die es dem Westen so schwer machen, in Afghanistan verlässliche Verbündete zu finden. Vollmanns Chronik des Scheiterns als jugendlicher Weltverbesserer ist ein Buch zum Weiterdenken, zum Nachgrübeln und zum Fragenstellen. Bedenkend, dass Vollmann zu einer Zeit in Afghanistan war, zu der die CIA gerade erst anfing Mudschaheddin zu Kämpfern gegen den Kommunismus auszubilden, etwa Osama bin Laden, hätte man sich gewünscht, dass viele Außenpolitiker dieses Buch aufmerksam gelesen hätten, ehe sie sich am Hindukusch militärisch einmischten. Oft war in bei der Lektüre auch an den Film „Charlie Wilson’s War“ erinnert, der einen erfolgreicheren naiven Helfer der Mudschaheddin ebenfalls am End escheitern lässt.
Schwierig zu lesen ist Vollmanns literarische Reportage, weil er seine Erfahrungen vor, in und nach seiner Reise verschränkt mit anderen persönlichen Erfahrungen („Alaska“), und hier ist der Fokus auf ihn als Person bisweilen bemüht.
Wer wissen will, warum Europas Freiheitskampf am Hindukusch nur mit den Mitteln der Zivilisation erfolgreich sein kann, er lese unbedingt Vollmanns „Afghanistan Picture Show“.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Das Zeitlose ist etwas angestaubt

Orlando
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Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, ...

Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, dass mich „Orlando“ enttäuscht hat.
Woolf erzählt die Geschichte des Landadligen Orlando im elisabethanischen England, der schwer in sich und die Natur verliebt ist, sich für die Frauen - vor allem die stürmische Sasha - interessiert und für die Literatur, ja sogar selbst poetische Ergüsse fabriziert; derer schämt er sich später, als ein bösartiger Kritiker sie zu Gesicht bekommt, weshalb Orlando alle vernichtet bis auf den ‚Eichenbaum‘. Erst von der Welt enttäuscht, dann wider ihr zugewandt sogar Gesandter am Hof in Istanbul wird. Die blutige Revolte in der Stadt verschläft Orlando in einem rätselhaften siebentägigen Schlaf, aus dem er als Frau erwacht. Orlando reist wieder heimwärts und erlebt einige Abenteuer - bei den Zigeunern und auf See -, in denen die Ambivalenz schon aufscheint, dass Orlando nun in einem Frauenkörper steckt, aber ein Vorleben als Mann besitzt. Daheim angekommen, muss sie um vor Gericht ihr Erbe kämpfen, da sie für tot erklärt war und für einen Mann gehalten worden ist, es gelingt ihr aber, den Sitz ihrer Ahnen wieder zurückzuerhalten. Orlando sucht die Nähe von Literaten ihrer Zeit, spricht viel über Literatur und was sie bedeutet. Und immer wieder erprobt sie sich als Frau in einer Männerwelt oder als Frau gegenüber Frauen. Besonders intensiv erlebt sie die Beziehung mit ihrem späteren gatten, dem Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, in dem sie dessen weiblichen Seiten erkennt. Am Ende des Romans ist Orlando eine weitestgehend ungebundene, selbstbewusste Frau, die sie immer gewesen ist, die mit ihrem gereiften ‚Eichenbaum‘ immerhin zu den ernsthaften Literaturschaffenden gezählt wird und die - mit der Zeit gehend - die Fahrt mit ihrem Automobil schätzt.
Und überhaupt: die Zeit. Der Roman spannt sich vom elisabethanischen England bis in das Jahr 1928, in dem „Orlando“ erschienen ist, ohne im wesentlichen das Älterwerden Orlandos zu thematisieren, Auch andere Figuren - etwa der Kritiker Greene - leben die Jahrhunderte, was weder erklärt noch hinterfragt wird. Die Jahre ist aufgehoben, es gilt nur ein Vorher und Nachher, denn Woolf benötigt die Jahrhunderte, um Orlando in ihnen die beiden großen Anliegen spiegeln zu lassen, um die es geht: um die Stellung der Frau (in der Gesellschaft und zu sich) und die Literatur.
Wie Orlando als Frau denkt, sich vom Mannsein in das Frausein bewegt (und wieder zurück, zumindest gedanklich); wie sie Unterschiede entdeckt, Grenzen berührt und überschreitet, Geschlechterspezifisches erkennt, benennt und übersteigt - das sind die starken Momente dieses ansonsten leider arg in die Jahre gekommenen Romans. Hier verbirgt sich der zeitlose Wert „Orlando“ hinter einer Sprache, die altertümlich wirkt (meine deutsche Ausgabe ist von 1964) und heutige Leser wohl nicht mehr erreicht. Die Gedanken über die Literatur hingegen haben mit ihren Namen Staub angesetzt, auch wenn bis heute gilt, was am Schreiben das Schwierigste ist: „Das Leben? Die Literatur? Eins ins andere zu verwandeln?“ (S. 253)
Auf mich wirkte „Orlando“ nicht mehr wie in Literatur verwandeltes Leben, weshalb ich, der ich mit großen Erwartungen in die Lektüre gestartet war, in folgendem Satz auf der letzten Seite die Figur Orlando selbst widererkannte: „Alles war erleuchtet, wie für die Ankunft einer toten Königin.“ (S. 292)

Veröffentlicht am 03.04.2018

Am Ende hat alles seinen Tiefpunkt erreicht

Die Königin der Flammen
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Das ist nun das Ende dieser Trilogie, nach 2514 Seiten ist es vorbei. Endlich - denn die Geschichte, die Ryan im dritten Band erzählt, ist schlecht. „Die Königin der Flammen“ ist ein einziges Massaker ...

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Das ist nun das Ende dieser Trilogie, nach 2514 Seiten ist es vorbei. Endlich - denn die Geschichte, die Ryan im dritten Band erzählt, ist schlecht. „Die Königin der Flammen“ ist ein einziges Massaker sinnlos abgemesserter Menschen, die dem platten und eindimensionalen Wahnsinn des Verbündeten und seiner ersten Dienerin zum Opfer fallen, um … tja … die Welt zu zerstören? Weltherrschaft über entvölkerte Trümmer? Über diese Motivation hätte Ryan etwas länger nachdenken sollen. Auch die anderen Figuren werden zu Schablonen, platten Typen oder Abziehbildern von Klischees, sei es die rachsüchtige Königin Lyrna, der „gute Wilde“ Alturk oder die weisen, weisen Schamanen mit den Tiernamen. Überhaupt Tiere: Wölfe, Bären, Speerfalken und vor allem Katzen - Riesenkatzen - sind eh die besseren Menschen. Der zur Seitenfigur degradierte Nortah trauert über den Tod seiner Katze inbrünstiger als über seine niedergemetzelten Begleiter.
Und dann die Bösewichte: Mit ihnen steht und fällt die Güte einer Geschichte. Je vielschichtiger ihre Motivation, je plausibler ihre Handlungen, je sinnvoller auch Grausamkeiten sind, desto erfolgreicher dürfen sie sein und desto süßer ist der Sieg der Helden. Aber Erzfürst Darnel Linel in Varinsburg ist ein dümmlicher Hanswurst von einem Gegner, den besiegt zu sehen beim Lesen keinen Spaß macht. Auch die jeweils gewonnenen Schlachten der „Guten“ (TM) langweilen, insbesondere wenn wieder einmal eine lieb gewonnene Nebenfigur einen nebensächlichen Abgang macht. Da stehen dann eierlegende Wollmilchsäue vom Schlage der Königin Lyrna (was für ein klangloser Name, wenn man ihn englisch ausspricht!), die im Laufe des dritten Bandes zur Flottensachverständigen, Heerführerin und Meisterstrategin avanciert, während sie ihr eigentliches Exerzierfeld, die Politik, schon nicht mehr zu verstehen scheint. Jede einzelne Seeschlacht zeugt von der völligen Unkenntnis Ryans in diesem Sujet. Auch der Einsatz von Bögen im Handgemenge, wo die Schützen Freund und Feind treffen müssen, wird erst zum Ende hin richtig gemacht.
Und das Ende vom Ganzen? Darf ja nicht verraten werden - aber ich wage einmal anzudeuten, dass es eher enttäuscht.
Und nun noch ein Wort zum Glauben, zur Gretchenfrage der Welt von Vaelin Al Sorna: Götterwirken ist in Fantasywelten entweder von vornherein unwichtig („Lied von Eis und Feuer“) oder Fundament des Weltgefüges („Spiel der Götter“), bei Ryan hingegen dienen die Götter und der Glauben etwa der Orden in den Vereinigten Königreichen immer wieder dazu, den aufgeklärten Atheismus des Autor zu transportieren. Das ist besonders bedauerlich, weil man sich schon fragt, warum Orden und die Gefolgsleute des Weltvaters weitermachen sollen, wenn eigentlich die Existenz der Götter in Band 3 widerlegt wird - ein Designfehler in der Weltgestaltung.
Eigentlich hätte ich wegen der 880 auszehrenden Seiten zwei Punkte geben wollen, aber in Wahrheit wäre der zweite nur ein Auszeichnung für mich, durchgehalten zu haben. Hätte mal besser Ryan durchgehalten - Band 1 ist nämlich gut gelungen!

Veröffentlicht am 03.04.2018

Kriminelle im Surferparadies

Kings of Cool
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Old guys rule – das steht nicht nur auf dem T-Shirt eines alten Knackers, der Chon, Ben und O die Tour vermasseln will, sondern es steht auch für ein System, das die Drei zum kotzen finden. Sie wollen ...

Old guys rule – das steht nicht nur auf dem T-Shirt eines alten Knackers, der Chon, Ben und O die Tour vermasseln will, sondern es steht auch für ein System, das die Drei zum kotzen finden. Sie wollen nur astreines Dope anbauen und sich nicht mit den gemeingefährlichen Rauschgiftfuzzis einlassen, nicht mit den korrupten Cops, den Dealern, den Schmugglern und den großen Ganoven. Aber diese alten Kerle gönnen den drei gutaussehenden, sonnengebräunten kalifornischen Selbständigen im Marihuanageschäft den Profit nicht, obwohl er ein Witz ist im Vergleich zum großen Geschäft mit den harten Sachen. Ben, Chon und O sind aber nicht nur Gärtner THC-haltiger Grünpflanzen, sondern sie sind auch noch modern, knallhart und – cool. Und deshalb setzen sie sich zur Wehr, um sich nicht aus dem Geschäft drängen zu lassen. Was sie nicht wissen: Die alten Kerle sind nicht nur irgendwelche Kriminellen, sie sind mit ihrer eigenen Familiengeschichte, mit der Geschichte ihrer Eltern verbunden.

Don Winslows „Kings of Cool“ ist rasant, wendungsreich, witzig und cool. Die Sprache ist ein cineastischer Genuss, der Plot nicht an allen Stellen vorhersehbar, ohne dass uns die Geschichte auf nervtötende Weise notwendige Details vorenthält (was eine wohltuende Abwechslung zum zeitgenössischen Krimikram ist) und die drei Start-up-Botaniker lassen uns den krassen Kontrast von Surferparadies und Gewalt erleben. Dass Winslows Roman in seinem kalifornischen Kriminalkosmos spielt und alle Figuren auch in anderen Romanen die Handlung bestreiten, ist ein weiteres Plus. „Kings of Cool“ macht Spaß!

Veröffentlicht am 03.04.2018

Die Kraft des Glaubens, die Macht des Zweifels

Loney
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„Loney“ ist keine Gruselgeschichte, kein Grauen erregender Schauerroman und keine englische Gothic Novel. Aber der Roman besitzt ausreichend Nebel, englisches Moor, unheimliche Dorfbewohner, eine gefährliche ...

„Loney“ ist keine Gruselgeschichte, kein Grauen erregender Schauerroman und keine englische Gothic Novel. Aber der Roman besitzt ausreichend Nebel, englisches Moor, unheimliche Dorfbewohner, eine gefährliche Halbinsel („The Loney) und ein geheimnisvolles Ereignis in der Vergangenheit, dass alle Komponenten eines Schauerromans beisammen sind. Sogar das Übersinnliche fehlt nicht.
Eigentlich gibt es vom Übersinnlichen sogar zu viel - und zwar zu viel inbrünstigen Glauben. Eine Gemeinschaft streng gläubiger Katholiken - im anglikanischen England sowieso schon ungewöhnlich - fährt jährlich zur Osterwallfahrt in die Nähe des nordwestenglischen Coldbarrow. Mummer und Farther, die Eltern des Ich-Erzählers Tonto und seines zurückgebliebenen Bruders Hanny, beten dort am Schrein für das Wunder von Hannys Genesung. Unruhe kam in die Gemeinschaft, als der strenge, alte Pfarrer Wilfried zuerst nach einem Ereignis am Strand von Coldbarrow sein Wesen verändert hat und schließlich gestorben ist. Nach Jahren bricht die Wallfahrergruppe mit dem neuen Pfarrer nach Coldbarow auf, um alles so zu erleben, wie es immer war. Doch natürlich ist es nie so, wie es immer war, ganz im Gegenteil.

Hurley nimmt sich sehr viel Zeit für seine Handlung, wobei er ausgesprochen geschickt die Puzzleteile seiner Geschichte ins Spiel bringt. Zunächst erfährt man vom Verhältnis der beiden Brüder, das von der Behinderung Hannys geprägt war, für den Tonto stets dagewesen ist. Duch Tontos Augen sieht der Leser den verstorbenen Pfarrer Wilfried mit seinem erstarrten Glauben und seiner Altherrenstrenge; die verkrustete Ehe der Eltern, in der vor allem Mummer zu einem starren System von Entsagung, Gebet, schriller Hoffnung und sklavischem Fsthalten am Gegebenen gefunden hat; auf die anderen Mitreisenden und ihre Fehler; und natürlich auf den Ort der Handlung: Coldbarrow, der Strand an der irischen See und die Halbinsel Loney, um die sich schauerliche Geschichten ranken. Die langsame Einführung der erhellenden Details der Handlung, von der man ab dem ersten Kapitel weiß, dass es um die rätselhafte Heilung Hannys gehen muss, störte nicht beim lesen. Wo man sonst oft das Gefühl hat, vom Autoren absichtlich ahnungslos gehalten zu werden, versteht es Hurley durch die dichte Beschreibung der Personen und Interaktionen sowie vereinzelte Sprünge in die Vergangenheit, des Lesers Wachsamkeit aufrecht zu erhalten.

Die Sprache ist dem Roman angemessen: Einerseits ist sie ernst und düster wie der starre Glaube der Wallfahrer oder das miserable Wetter im Nordwesten Englands, andererseits schön und menschlich, wenn es um die beeindruckende Rauhheit der Landschaft oder die handfest-mitfühlende Persönlichkeit des neuen Pfarrers Bernard geht.

Das Ende des Romans überrascht, auch weil man sich mit den Skeptikern der transzendenten Welt - dem ich-Erzähler oder Father Bernard gegen die frömmelnden Götzendiner - etwa Mummer oder ein paar unheimlich Dorfbewohner - verbündet hat und nun doch auf etwas - sagen wir: - Überirdisches trifft. Doch die behutsame Darlegung der Kraft des Glaubens, die Macht des Zweifels und die stete Wandelbarkeit der „Wahrheit“ überzeugt: „Loney“ ist ein gutes Buch, das seine Leser zum langsamen Genießen und verstehen einlädt.