Profilbild von Beust

Beust

Lesejury Star
offline

Beust ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Beust über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.01.2018

Die Witwe einer Generation?

Olga
0

Bernhard Schlink kann es mir nicht recht machen. Oder ist es Olga? Jedenfalls hinterlässt die Lektüre von „Olga“ bei mir den faden Geschmack eines zu lange offenen Weines: Auch wenn die Idee „Südhang“ ...

Bernhard Schlink kann es mir nicht recht machen. Oder ist es Olga? Jedenfalls hinterlässt die Lektüre von „Olga“ bei mir den faden Geschmack eines zu lange offenen Weines: Auch wenn die Idee „Südhang“ ist (um im Bild zu bleiben), die Reben erste Wahl und der Winzer ein Könner, ist am Ende das Produkt ein in drei ungleiche Teile zerfallendes Stückwerk.

Olga ist Ende des 19. Jahrhunderts geboren, wächst als Waise ungeliebt von der Großmutter bei ebendieser im schlesischen Nirgendwo auf, verbringt die Jugend mit Herbert Schröder, dem Sohn des neureichen Gutsherrn, wird seine Geliebte und heimliche Verlobte, kämpft sich gegen die widrige Rückständigkeit der gestrigen Männerwelt durch höhere Schule, Studium und Schuldienst, verliert Herbert als Arktisforscher im ewigen Eis, um ertaubt als Näherin die Nachkriegszeit am Rhein zu erleben. Hier inspiriert sie den jungen Ferdinand mit ihren Erzählungen vor allem ihres geliebten Herberts in ähnlicher Mentorschaft wie den Jungen Eik in ihrer Lehrerstelle bei Tilsit. Sie stirbt mit einem Knalleffekt, den Schlink uns am Ende des Romans beschert.

Wem diese Zusammenfassung zu nüchtern erscheint, der lese den ersten Teil des Romans: Der Tonfall ist ähnlich distanziert, verknappend, deskriptiv. Ich hatte das Gefühl, das Exposé zu einem Roman zu lesen, nicht aber einen Roman. Schlink lässt uns nicht nah an die Figuren heran, weder an Olga noch an Herbert Schröder noch an dessen eifersüchtige Schwester. „Die Angst, schwanger zu werden, können sich Menschen heute nicht vorstellen“, lese ich auf Seite 51 und kann es mir auch nicht vorstellen, weil Schlink uns diese Angst nur bezeichnet, aber nicht vorführt. Das ist schade, denn Olgas Leben ist außergewöhnlich, ich hätte gern mit ihr gefühlt. Übrigens ist ihr Herbert auch außergewöhnlich, denn es handelt sich um den tragischen deutschen Arktisforscher Herbert Schröder-Stranz, dessen Leben einen eigenen Roman wert wäre und dessen Schicksal im ewigen Eis vielleicht sogar am Anfang von Schlinks Idee zu „Olga“ gestanden haben mag. Aber die Geschichte eines gescheiterten Arktisforschers im Spiegel der zurückbleibenden Geliebten zu schreiben, mag zwar pfiffig sein, bleibt aber eine Arktisforschergeschichte ohne Arktis …

Der zweite Teil des Romans wird von Ferdinand bestritten, dem Olga eine Mentorin gewesen ist, indem sie ihm als Näherin in der Familie mit Literatur und den Geschichten aus ihrer Zeit und ihrem Leben eine Richtung gegeben hat. Hier wird Olga zu „Fräulein Rinke“, und jetzt erst wird klar, dass der erste Teil Olgas Leben referiert hat, sozusagen wie Ferdinand es sich aus den Erzählungen Fräulein Rinkes zusammengebastelt hat. Ferdinand erzählt nun den letzten Teil von Olgas Leben, den er miterlebt hat. Ferdinand selbst ist zwar der beste Olga-Kenner seit Herberts Tod, aber sein ganzes Leben passt auf die Seiten 168 bis 170: vom Ende des Studiums bis zur Pensionierung. Irgendwie … fad.

Im dritten Teil spürt Ferdinand Olgas Leben nach und hebt findig den Schatz ihrer Briefe an den verschollenen Herbert. Diese Briefe bilden den dritten Teil des Buches und schließen die Lücke zwischen der jungen Olga und dem alten Fräulein Rinke. Diese Briefe klingen in dem emotionalen Ton, dem liebevollen Detail und der persönlichen Nähe des Romans, wie ich sie zuvor so vermisst habe. Nun aber werfen sie die Frage auf, wie die drei Olgas eigentlich zusammengehören? Passen sie eigentlich? Will Schlink uns sagen, dass unsere Persönlichkeiten so facettenreich sein können, dass wir einander nie ganz kennen können? Wenn ja, dann habe ich das schon deutlich raffinierter gelesen, wenn nein, dann ist die ganze Figur so eine Art Unfall.

Schlink will mit dem Roman, der mehr als ein Jahrhundert überspannt und in seinen Figuren von Bismarck über Wilhelm II., die Nazis, Adenauer bis hin zu Rudi Dutschke berührt, offenbar aber auch große deutsche Fragen klären, womöglich sogar großdeutsche. Olga schreibt über ihr Leben, sie sei nicht Herberts Witwe, nicht die Witwe eines möglichen Heiratsaspiranten unter ihren Kollegen in Tilsit, sondern „Bernhard Schlink kann es mir nicht recht machen. Oder ist es Olga? Jedenfalls hinterlässt die Lektüre von „Olga“ bei mir den faden Geschmack eines zu lange offenen Weines: Auch wenn die Idee „Südhang“ ist (um im Bild zu bleiben), die Reben erste Wahl und der Winzer ein Könner, ist am Ende das Produkt ein in drei ungleiche Teile zerfallendes Stückwerk.

Olga ist Ende des 19. Jahrhunderts geboren, wächst als Waise ungeliebt von der Großmutter bei ebendieser im schlesischen Nirgendwo auf, verbringt die Jugend mit Herbert Schröder, dem Sohn des neureichen Gutsherrn, wird seine Geliebte und heimliche Verlobte, kämpft sich gegen die widrige Rückständigkeit der gestrigen Männerwelt durch höhere Schule, Studium und Schuldienst, verliert Herbert als Arktisforscher im ewigen Eis, um ertaubt als Näherin die Nachkriegszeit am Rhein zu erleben. Hier inspiriert sie den jungen Ferdinand mit ihren Erzählungen vor allem ihres geliebten Herberts in ähnlicher Mentorschaft wie den Jungen Eik in ihrer Lehrerstelle bei Tilsit. Sie stirbt mit einem Knalleffekt, den Schlink uns am Ende des Romans beschert.

Wem diese Zusammenfassung zu nüchtern erscheint, der lese den ersten Teil des Romans: Der Tonfall ist ähnlich distanziert, verknappend, deskriptiv. Ich hatte das Gefühl, das Exposé zu einem Roman zu lesen, nicht aber einen Roman. Schlink lässt uns nicht nah an die Figuren heran, weder an Olga noch an Herbert Schröder noch an dessen eifersüchtige Schwester. „Die Angst, schwanger zu werden, können sich Menschen heute nicht vorstellen“, lese ich auf Seite 51 und kann es mir auch nicht vorstellen, weil Schlink uns diese Angst nur bezeichnet, aber nicht vorführt. Das ist schade, denn Olgas Leben ist außergewöhnlich, ich hätte gern mit ihr gefühlt. Übrigens ist ihr Herbert auch außergewöhnlich, denn es handelt sich um den tragischen deutschen Arktisforscher Herbert Schröder-Stranz, dessen Leben einen eigenen Roman wert wäre und dessen Schicksal im ewigen Eis vielleicht sogar am Anfang von Schlinks Idee zu „Olga“ gestanden haben mag. Aber die Geschichte eines gescheiterten Arktisforschers im Spiegel der zurückbleibenden Geliebten zu schreiben, mag zwar pfiffig sein, bleibt aber eine Arktisforschergeschichte ohne Arktis …

Der zweite Teil des Romans wird von Ferdinand bestritten, dem Olga eine Mentorin gewesen ist, indem sie ihm als Näherin in der Familie mit Literatur und den Geschichten aus ihrer Zeit und ihrem Leben eine Richtung gegeben hat. Hier wird Olga zu „Fräulein Rinke“, und jetzt erst wird klar, dass der erste Teil Olgas Leben referiert hat, sozusagen wie Ferdinand es sich aus den Erzählungen Fräulein Rinkes zusammengebastelt hat. Ferdinand erzählt nun den letzten Teil von Olgas Leben, den er miterlebt hat. Ferdinand selbst ist zwar der beste Olga-Kenner seit Herberts Tod, aber sein ganzes Leben passt auf die Seiten 168 bis 170: vom Ende des Studiums bis zur Pensionierung. Irgendwie … fad.

Im dritten Teil spürt Ferdinand Olgas Leben nach und hebt findig den Schatz ihrer Briefe an den verschollenen Herbert. Diese Briefe bilden den dritten Teil des Buches und schließen die Lücke zwischen der jungen Olga und dem alten Fräulein Rinke. Diese Briefe klingen in dem emotionalen Ton, dem liebevollen Detail und der persönlichen Nähe des Romans, wie ich sie zuvor so vermisst habe. Nun aber werfen sie die Frage auf, wie die drei Olgas eigentlich zusammengehören? Passen sie eigentlich? Will Schlink uns sagen, dass unsere Persönlichkeiten so facettenreich sein können, dass wir einander nie ganz kennen können? Wenn ja, dann habe ich das schon deutlich raffinierter gelesen, wenn nein, dann ist die ganze Figur so eine Art Unfall.

Schlink will mit dem Roman, der mehr als ein Jahrhundert überspannt und in seinen Figuren von Bismarck über Wilhelm II., die Nazis, Adenauer bis hin zu Rudi Dutschke berührt, offenbar aber auch große deutsche Fragen klären, womöglich sogar großdeutsche. Olga schreibt über ihr Leben, sie sei nicht Herberts Witwe, nicht die Witwe eines möglichen Heiratsaspiranten unter ihren Kollegen in Tilsit, sondern „die Witwe einer Generation“. (S. 289). Das ist dann doch ein wenig zu groß - und zu Großes hat Olga an den Deutschen, den deutschen Männern immer gehasst. Zu recht.

Zu große Ideen in einem zu kleinen Roman in drei ungleichen Teilen - das gefällt mir nicht. “. (S. 289). Das ist dann doch ein wenig zu groß - und zu Großes hat Olga an den Deutschen, den deutschen Männern immer gehasst. Zu recht.

Zu große Ideen in einem zu kleinen Roman in drei ungleichen Teilen - das gefällt mir nicht.

Veröffentlicht am 30.11.2017

Smileys letzter Vorhang: Sag zum Abschied leise Servus

Das Vermächtnis der Spione
0

„Das Vermächtnis der Spione“ ist auch ein Vermächtnis John le Carrés, das seine Serie von spannenden und kundigen Spionageromanen abschließt und mit einer Pointe versieht: Smiley habe sein oftmals schmutziges ...

„Das Vermächtnis der Spione“ ist auch ein Vermächtnis John le Carrés, das seine Serie von spannenden und kundigen Spionageromanen abschließt und mit einer Pointe versieht: Smiley habe sein oftmals schmutziges Geschäft nicht zum höheren Ruhme Gottes betrieben oder aus Ideologietreue oder gar aus Liebe zu seinem Vaterland, sondern wegen einer Idee: der Idee eines friedlichen und vereinten Europas. Das hätten wir Smiley früher wahrscheinlich nicht als wichtigstes Motiv unterstellt, aber es passt zum Gesamtwerk des Autors.

Ist das „Vermächtnis der Spione“ ein Krimi? Nein - die Spannung entsteht nicht aus der Handlung, sondern aus der Haltung der Figuren.

Ist es ein Spionageroman? Nein - eher ein Gegenspionageroman, und zwar einer der besten.
Muss man vorher wissen, was Peter Guillam und Smileys andere Leute in anderen Büchern getrieben haben? Nein - der Roman ist so konstruiert, dass er alles liefert, was andere an Vorwissen haben. Dennoch kann man nur bewundern, wie le Carré 54 Jahre nach Erscheinen seines Erfolgs „Der Spion, der aus der Kälte kam“ diesem Text einen zweiten Boden einzieht und ihn nutzt, die schrägen Verhältnisse des Kalten Krieges mit dem Heute zu verschränken.

Peter Guillam ist um die Achtzig, ein abgelegter und abgelebter Spion des Circus, also des britischen Geheimdienstes, und wird wegen alter Geschichten zurück in die Zentrale beordert. Dort will man ihm und seinen Kameraden aus einer Zeit der beinharten Systemauseinandersetzung einen Strick drehen, der aus modernen juristischen Winkelzügen und Schadenersatzforderungen von Nachkommen von Opfern gewirkt wird. Die Diskrepanz zwischen dem neuen Geheimdienst und dem Schlapphut alter Tage sorgt für prickelnde Lektüre. Der klaffende Gegensatz zwischen den Forderungen Einzelner nach Schadenersatz, wie ihn die moderne Welt der Political Correctness für das Unrecht am Individuum einräumt, und den Kalten Kriegern aus der Zeit des Mauerbaus, denen der Einzelne nichts galt, weil ein Krieg - und sei es ein Kalter Krieg - nun einmal Opfer fordert, wenn ein höheres Ziel es verlangte - dieser klaffende Gegensatz stürzt den Leser in tiefes Nachdenken, wer denn hier Recht hat? Man denkt unwillkürlich an den nüchternen Satz von Kapitän Marko Ramius aus „Jagd auf Roter Oktober“, der der über den Kalten Krieg sagt: „Ein Krieg ohne Schlachten, ohne Denkmäler, nur Verluste“.

Meine Sympathien liegen bei Peter Guillam, der sich gegen die nassforsche Untersuchung der Nachgeborenen erwehren muss, die in einer besseren Welt leben als jener, in denen Kreaturen wie Smiley oder der Stasi-Mörder Hans-Dieter Mundt ihr ekles Werk verrichteten. Verrichten mussten? Dieses Fragezeichen zeichnet den Wert von le Carrás Roman aus, der nämlich die Schuldfrage nie eindeutig klärt, nie Schwarz und Weiß zeichnet.

Am dichtesten aber schwingt die Stimmung der Melancholie durch den Roman, das nostalgische Schwelgen in der Vergangenheit - ob mit oder ohne Glorie - und dem Abgesang auf eine Welt, die sich zu Recht zurückgezogen hat. Nicht nur Peter Guillam zieht eine Bilanz seiner Zeit als Spion, nicht nur Smileys Vorhang fällt ein letztes Mal - man denkt, es müsste erneut ein eiserner Vorhang sein -, sondern auch John le Carré verabschiedet sich hier klug und nachdenklich aus dem Kreis der Circus-Mitarbeiter und ihrer kalten Welt.

Oder mit einem Wort: brillant.

Veröffentlicht am 30.11.2017

Das Leben ist lebensgefährlich

Der gefährlichste Ort der Welt
0

Alles beginnt mit einem Liebesbrief, den der Außenseiter Tristan an die hübsche Cally schreibt und der fatalen Entscheidung Callys, diesen Brief herumzuzeigen. Von hier aus entwickelt sich eine Kette von ...

Alles beginnt mit einem Liebesbrief, den der Außenseiter Tristan an die hübsche Cally schreibt und der fatalen Entscheidung Callys, diesen Brief herumzuzeigen. Von hier aus entwickelt sich eine Kette von Ereignissen, aus der die erste Hälfte von Lindsey Lee Johnsons Debütroman „Der gefährlichste Ort der Welt“ ihre Handlung schöpft: Es ist die Dynamik der sozialen Medien, in denen Tristan über den Jahrgang seiner Schule hinaus öffentlich verspottet wird, an der die Figuren dieses Romans zerbrechen, reifen oder abstumpfen. Tristans Selbstmord ist der eine Kristallisationspunkt, ein Autounfall nach einer ausgearteten Party der andere, zu denen sich die Figuren des Romans ausrichten: Trsitans und Callys Mitschüler. Jedem dieser Heranwachsenden widmet Johnson ein Kapitel, in dem sie den Charakter der jeweiligen Person und ihr Verhältnis zu den Mitschülern, dem Elternhaus und den Kristallisationspunkten der Handlung ausleuchtet.

Johnson gelingt es, in diesen Kapiteln ihren Figuren sehr nah zu kommen, angefangen mit der Reduktion auf einen Begriff, der die Person beschreibt und dem Kapitel als Überschrift voransteht: das Liebespaar, der Bemühte, der Spezialist, die Schöne, die Tänzerin, der Schönling. Besonders gelungen ist der Wechsel von einer Figur zur nächsten: Es ist immer eine unmittelbare Begegnung der Personen, bei der Johnson den Staffelstab übergibt und in den nächsten Point-of-View-Charakter springt. Dieses Erzählgeschick lädt zu spannender und flüssiger Lektüre ein, die auch der Zielgruppe entgegenkommt, nämlich Heranwachsenden. Sie können sich in den Schülern der Mill Valley Middle School wiederfinden und Anknüpfungspunkte an ihre eigene Lebenssituation wiedererkennen: erste Liebe, Sorge um Anerkennung, Leistungsdruck, Konfrontation mit den Eltern, das eigene Ich entwickeln, Spaß haben, Verantwortung übernehmen und dergleichen.

Der Titel des Romans kontrastiert einerseits die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen im kalifornischen Mill Valley, das „die viertbeste Kleinstadt Amerikas“ (S. 9) und sozusagen ein denkbar glücklicher Ort ist, mit den Problemen des Heranwachsens. Andererseits spielt er mit der Ort-/Raumkategorie, indem nämlich das Alter der Protagonisten der eigentlich gefährliche Ort ist. Denn die Handlung könnte überall spielen, sogar in einer hessischen Kleinstadt: Überall werden Kinder flügge und setzen sich den Gefahren des Lebens aus, um ihren Weg zu gehen. Dass freundschaftliche Bindungen der harten Probe des Erwachsenwerdens ausgesetzt sind, ist auch aus anderen (Jugend-)Büchern bekannt.

Das Neue an Johnsons Roman ist die sensible Beschreibung der macht sozialer Medien: Facebook und Co. Werden zu wirklich gefährlichen Instrumenten, die unkalkulierbar sind und sich nicht beherrschen lassen. Die Wucht, mit der öffentliche Häme, Spott und Geringschätzung über Tristan und später über Emma hereinbrechen, wirkt umso eindringlicher, als Johnson (und ihre Übersetzerin Kathrin Razum) eine aktuelle Sprache verwenden. Die Vielzahl an angesagten Markennamen und amerikanischen Slangbegriffen erschwert allerdings die Lektüre für Menschen, die dem Alter der Zielgruppe entwachsen sind.

Kleine Abzüge in der Bewertung ergeben sich aus der etwas statischen Erzählweise: Die Figuren, die ihr jeweiliges Kapitel tragen, entwickeln sich nicht, nachdem sie dem Leser so detailliert vorgestellt wurden, von Cally einmal abgesehen.

„Der gefährlichste Ort der Welt“ ist ein Buch über Freundschaft, das Heranwachsen und die Macht der sozialen Medien und nicht nur Jugendlichen zu empfehlen. Es weckt Gefühle und stimmt nachdenklich – und das ist auch gut so.

Veröffentlicht am 19.10.2017

Losgerissene Kühe flogen wie Drachen durch die Luft

Nachtlichter
0

Die Elemente spielen eine große Rolle in Amy Liptrots „Nachtlichtern“: das Meer, der Wind, die Steine. Liptrot schreibt ein Bekenntnis über ihren Abstieg aus ihrer Heimat den Orkneys nach London in den ...

Die Elemente spielen eine große Rolle in Amy Liptrots „Nachtlichtern“: das Meer, der Wind, die Steine. Liptrot schreibt ein Bekenntnis über ihren Abstieg aus ihrer Heimat den Orkneys nach London in den Abgrund des Alkoholismus und ihrer Rückkehr ins Leben und nach Orkney. Sie lebte immer in Extremen, ob es sich um die Exzesse in der Londoner Partywelt handelt oder um die Extreme der am Rande der Weltkarte liegenden Orkney-Inseln. Und sie schafft es, den Leser mitzunehmen sowohl in die Abgründe ihrer Alkoholabhängigkeit, wo sie soziale Umfelder mit ihren Abstürzen verbraucht wie andere Taschentücher, als auch in das raue und extreme Klima der Inseln zwischen Nordsee und Atlantik, wo die Stürme so heftig sind, dass losgerissene Kühe wie Drachen durch die Luft gewirbelt werden. (S. 325)

Die „Nachtlichter“ sind dann besonders stark, wenn man mit Liptrot hinausgeht in die völlige Finsternis der orkadischen Nacht, wo die Lichter des Firmaments oder der Seezeichen und Schiffe besonders eindringlich funkeln; sie hat die Diskokugel gegen den Sternenhimmel getauscht. Oder wenn man sie auf das Außenfeld begleitet, wo sie Lämmern auf die Welt zu kommen hilft. Oder wenn sie schwimmen geht und in der Kälte des Meeres die Wärme zu sich selbst wiederfindet.

Liptrot ist schonungslos zu sich selbst, und wenn sie die Auswirkungen ihrer Sauftouren beschreibt, tut die Lektüre zuweilen weh. Einerseits erspart sie den Lesern die meisten Details ihrer Abstürze, andererseits wirft sie Schlaglichter auf die peinlichen Erinnerungsfetzen ihrer Fehlschläge im Suff und vor allem darauf, wie sie sich dabei und danach gefühlt hat. „Ich will den Neuankömmlingen nicht ewig erzählen, was ich zu mir genommen habe, zu welchen Handlungen ich dadurch getrieben wurde und wie ich es wieder losgeworden bin. Ich will mit meiner Befreiung etwas anderes anstellen.“ (S. 257) Genau das, was sie über ihre Haltung zu Treffen der Anonymen Alkoholiker angemerkt hat, bringt Liptrot zustande: ein Buch nämlich, das Weg und Ziel ihrer Befreiung ist und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Orkneys, ohne sie zu verklären.

„Nachtlichter“ ist eine wahre Entwicklungsgeschichte, die man mit Gewinn liest.

Veröffentlicht am 18.09.2017

Drachenrachen und Gewehrgeknatter - gelungene Mischung

Das Erwachen des Feuers
0

Arradsia ist der einzige Kontinent auf der Welt, auf dem die Drachen leben können. Und das Blut der Drachen bildet die Grundlage der technisierten Zivilisation der Gegenwart: Einer aus tausend kann mit ...

Arradsia ist der einzige Kontinent auf der Welt, auf dem die Drachen leben können. Und das Blut der Drachen bildet die Grundlage der technisierten Zivilisation der Gegenwart: Einer aus tausend kann mit dem Blut der Drachen - ja nach Farbe – Kräfte entfesseln und spezielle Maschinen betreiben. Zwar gibt es auch Feuerstein und Zunder, Kohle und Ölfeuerung, aber Drachenblut weckt erst den Tiger im Tank. Oder im Soldaten. Oder in der Spionin. Blutgesegnete – das sind fast Zauberer.

Vier Farben und vier Drachenarten unterscheidet man auf Arradsia: blau, rot, grün und schwarz. Doch es gibt ein Gerücht, dass es einen weißen Drachen geben soll. Und die Suche nach diesem weißen Drachen bringt die Handlung ins Rollen, die auf drei Gleisen erzählt wird: Der Dieb und unregistrierte Blugesegnete Claydon „Clay“ Torcreek reist mit einer Expedition aus hartgesottenen Söldnern ins gefährliche Innere des Kontinentes. Lizenne Lethridge hingegen ist eine blutgesegnete Meisterspionin und wird als Agentin in die feindliche Nachbarstadt geschickt, um geheimnisvolle Hinweise auf den weißen Drachen zu stehlen. Als Dritter gerät der Marineoffizier Corrick Hilemore auf dem schnellsten „Blutbrenner“ der Kriegsmarine in Seeschlachten und in untiefe Seen.

Der erste Band der Trilogie bringt die drei Point-of-View-Figuren in Stellung, lässt sie die Exposition für das Drama erleben und wartet mit einer Menge Pulverdampf und Drachenkreischen auf, die ab Beginn des zweiten Drittels dem Roman die Geschwindigkeit eines „Blutbrenners“ gibt. Es wird auch extrem viel Blut vergossen …

Bis zu diesem Punkt ächzt der Motor der Geschichte ein wenig, weil die Idee der speziellen Blutmagie noch nicht zündet, man beim Lesen noch mit den drei sehr unterschiedlichen Schauplätzen fremdelt und vor allem noch gar keine Entscheidung treffen kann, auf wessen Seite man eigentlich stehen möchte in dem aufkommenden Konflikt.

Und dieser Konflikt hat es in sich, denn damit leistet Anthony Ryan einen großen Beitrag zur Bedeutung von Fantasy als „Literatur“. Zwei hauptsächliche Konflikte brechen auf:

Zwischen den Menschen und den Drachen kommt es zum Clinch, weil der Mensch es mit dem Raubbau an den Ressourcen und der Grundlage seiner Zivilisation zu weit treibt: Die Drachen scheinen auszusterben, die magische Qualität ihres Blutes nimmt ab. Die große ökologische Allegorie, die dahinter steckt, ist nicht gerade subtil, aber sie zeigt, wie Fantasy aktuelle gesellschaftliche Probleme aufgreifen und zu einem fantastischen Stoff verweben kann. Angesichts der unwürdigen Behandlung der Kreatur Drache durch den Menschen auf der einen, der urtümlichen Gewalttätigkeit des Monstrums auf der anderen Seite ist es gar nicht so leicht, sich in den Grauschattierungen dieses Konflikts als Leser zu positionieren. Gut gemacht!

Der zweite Konflikt ist politisch: Schon dreimal sind das Corvantinische Kaiserreich und die Syndikate Mandinoriens kriegerisch aneinander geraten, ein vierter Krieg um die Ressourcen Arradsias steht unmittelbar bevor. In dieser Mischung aus Kolonialkrieg und Verteilungskampf streiten allerdings Pest gegen Cholera: Das Kaiserreich ist eine despotische Diktatur, in der kein Mensch gern leben möchte, Mandinorien hingegen wird vom entfesselten Kapitalismus regiert, nämlich von den großen Konzernen, für die es nur Profite gibt, keine Menschen. Auch hier stehen die beiden Reiche allegorisch für gesellschaftliche Diskurse unserer Zeit. Gut gemacht!

Dass dazwischen ein ganz und gar nicht verkopfter, blutig-abenteuerlicher Plot zwischen Fantasy und Steampunk in irrer Geschwindigkeit abgeht, macht Spaß – ab dem zweiten Drittel. Man darf also auf die Fortsetzung hoffen