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Veröffentlicht am 06.10.2022

Eine sehr lange, sehr kritische Besprechung

Die karierten Mädchen
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Von Alexa Hennig von Lange habe ich fast alles gelesen und vieles gerne. Jüngst hat mir vor allem die Reihenhausskizze „Kampfsterne“ sehr gut gefallen, denn da zeigt die Autorin, wie sie Sujet und Milieu ...

Von Alexa Hennig von Lange habe ich fast alles gelesen und vieles gerne. Jüngst hat mir vor allem die Reihenhausskizze „Kampfsterne“ sehr gut gefallen, denn da zeigt die Autorin, wie sie Sujet und Milieu in den Griff bekommt und zu einem aussagekräftigen Text kommt. In „Die karierten Mädchen“ misslingt dies alles.

Es gibt eine Kurzversion und eine Langversion für meine Buchbesprechung, die ich – das bekenne ich – als Historiker geschrieben habe, der sich beruflich mit dieser Zeit und ihrer Vergangenheitsbewältigung befasst.

Kurzversion:

Vier Dinge muss man dem Roman und seiner Autorin vorwerfen:

1) Sie vermittelt das Bild eines Deutschlands aus Mitläufern und ohne Täter. Dieses Bild entspricht der Selbsterzählung der Deutschen nach dem Krieg und vor den Frankfurter Auschwitzprozessen. Sehr wahrscheinlich entspricht es auch dem Selbstbild der Großmutter der Autorin. Aber das ist ein Bild, das hinterfragt werden muss – denn es ist durch Scham und Schuld der Mittäter verzerrt.

2) Die Autorin berichtet in Interviews, eines hängt dem Buch auch an, dass sie die Leerstellen, die in den Aufzeichnungen der Großmutter auftauchten, als es an die Zeit des Nationalsozialismus geht, auffüllte. Aber die Autorin hat nicht den naheliegenden Sinn ergänzt – nämlich dass die Großmutter ihre Mitschuld verschwieg, ihre aktive Verstrickung oder gar Mittäterschaft, sondern sie ergänzt ausufernde Reflexionen, die das Verhalten der Großmutter entschuldigen, ihr Unwissenheit oder Naivität einschreiben. Naheliegend wäre: Die Großmutter hat ihre Schuld verdrängt und verschwiegen – selbst auf ihren Kassetten. Etwas anderes zu erzählen, hat nichts mit „dem wahren Fall“, sondern mit dem Darstellungswillen der Autorin zu tun.

3) Die Figur der Tolla ergänzt die Schuldbefreiung der Großmutter durch die Autorin auch noch um eine noble Geste, nämlich die vorläufige Rettung eines jüdischen Mädchens. Das ist eine schon frech zu nennende Geschichtsfälschung: Nicht nur wird die Leerstelle der Vergangenheit mit Entschuldigungen gefüllt, mit dem Mädchen kommt nun auch noch eine Entlastungszeugin, die der Großmutter nicht nur edle Motive im Denken, sondern auch im Handeln einzuschreiben versucht. Dass Tolla am Ende nicht gerettet wird, weil die Großmutter, eben nicht Mutter genug ist, entlarvt die Frauenfigur der Klara Möbius vor allem als nicht starke Frau.

4) Der Roman ist schwach erzählt. Die ständigen Psychologisierungen der Figuren durch innere ausschweifende Monologe erweckt in mir den Eindruck, dass die Autorin um jeden Preis verhindern möchte, dass man Klara Möbius die Schuldfrage stellt. Es wird kein Raum für Interpretation ihres Handelns gelassen, die Handlung wird fortwährend innerweltlich kommentiert und entschuldigt. Hinzu kommt eine langweilige und ganz und gar ambitionsfreie chronologische Erzählung, in der man bis zum letzten Absatz den doppelten Boden vermisst. Schiefe Bilder („Trojanische Pferde“ s.u.) ergänzen den sprachlichen Sinkflug. Vor allem aber fehlt es dem Text an literarischer Relevanz. Wozu eine Geschichte wie aus den 1950er Jahren, in denen niemand etwas gesehen, gewusst oder gar getan haben wollte?

Im schlimmsten Fall ist dieser Roman sogar gefährlich, weil er suggeriert, dass man hier am authentischen Fall der Großmutter erfährt, dass man „damals“ wirklich nichts dafür gekonnt habe.



Langversion:

„Die karierten Mädchen“ erzählt die Geschichte der Lehrerin Klara Möbius, die 1929 in einem Frauenbildungshaus als Hauswirtschaftslehrerin anfängt und in wirtschaftlich schwieriger Zeit nach dem Tod der vormaligen Leiterin die Zügel in die Hand nimmt und das Heim wieder zum Laufen bringt. Die Rettung der Institution erfolgt durch die Überführung von einem freien Träger in ein so genanntes „ländliches Frauenbildungsheim“, von denen es im Land Anhalt vier in staatlicher Hand gegeben hat. Die Fahrnisse der Zeit spielen insofern eine Rolle, als die Erstarkung des Nationalsozialismus in den Schaltzentren des Landes sowie im Gedankengut von Nebenfiguren deutlich wird. Kulminationspunkt ist der Terror der Reichspogromnacht, nach deren Gewaltexzess eine für die Figur Klara wichtige Entscheidung in die Tat umgesetzt wird: das jüdische Waisenmädchen Tolla, das Klara an Kindes statt angenommen hat von dem sie sich ‚Mama‘ nennen lässt, wird in ein jüdisches Waisenhaus in Berlin gegeben. Der Titel nimmt Bezug auf die Einheitskleidung, die im weltanschaulichen Kontext der Frauenbildungsheime angeraten war: karierte Kleider im Dirndlschnitt.

Soweit die Handlungsebene. Die Abgründe dieses Romans tun sich auf, wenn man hinter das Handlungsgerüst schaut. Klara Möbius ist nämlich keine literarische Heldin, sondern basiert auf der Lebenserzählung der Gro0mutter der Autorin. Diese Lebensgeschichte ist in 130 Audiokassetten überliefert, die von der Großmutter selbst besprochen worden sind. Die Autorin hat sich von diesen Kassetten zur Lebenserzählung ihrer Großmutter inspirieren lassen, wobei sie in einem vom Dumont-Verlag herausgegebenen Interview erklärt: „Aber Klara Möbius ist nicht meine Großmutter. Das liegt daran, dass ich beim Anhören der Kassetten nach einer Weile gemerkt habe, dass sie einige Dinge nicht erwähnt. […] Ereignisse, die beschreiben, wie sich die Nationalsozialisten nach und nach alle Bereiche der Gesellschaft unterwerfen. […] Meine Großmutter erzählt sehr gut und lebhaft von den Heimen, die sie leitete, von den Schülerinnen, den Kindern, den Mitarbeitern, den nationalsozialistischen Funktionären, die das Haus besuchten. […] Nur eben nicht, dass ein paar Gehminuten entfernt die Synagoge brannte.“

Alexa Hennig von Lange ist keine Historikerin. Das ist ihr nicht vorzuwerfen – die meisten Menschen sind keine Historiker. Allerdings glauben die meisten, sich über die Vergangenheit äußern zu können wie Historiker, weil sie sie ja selbst erlebt hätten – oder ihre Großmütter. Dabei beginnt das Problem schon damit, Vergangenheit und Geschichte zu verwechseln. „Geschichte“ ist die gedeutete Vergangenheit. Sie zu deuten, ist ein handwerklicher Prozess, der viel mit einer fundierten Ausbildung zu tun hat, unter anderem gehören dazu Werkzeuge aus „der Werkstatt des Historikers“ (Marc Bloch): Kenntnis der Zeitumstände, der Theorien, Methoden und Paradigmen – sowie neben der Imagination, die dem Autorenberuf wesensverwandt ist, die Quellenkritik. Denn wenn historische Erkenntnis aus „Texten Tatsachen“ schaffen will, dann müssen diese Texte analysiert, interpretiert und vor allem immer wieder kritisiert werden.

Alexa Hennig von Lange ist Autorin, weshalb sie die Leerstellen in der Erzählung ihrer Großmutter bemerkt hat. Sie äußert sich in dem besagten Interview wie folgt: „Wenn man ihr auf den Kassetten genau zuhört, stellt man fest, dass sie in manchen Momenten zögert oder nach Formulierungen sucht, um das für sie wohl Unaussprechliche nicht aussprechen zu müssen. Ich glaube, sie hatte wirklich den Anspruch, das Vergangene so korrekt wie möglich wiederzugeben. Andererseits wollte sie sicher von einem sehr bewegten, herausfordernden, aber auch gelungenen und erfolgreichen Leben berichten. Dafür musste sie Dinge auslassen.“ Die Autorin kennt meines Erachtens nicht besonders viele Ego-Dokumente aus dieser Zeit, hat wahrscheinlich noch nie eine Vernehmung aus irgendeinem der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, aus deren Nachfolgeprozessen oder aus den Auschwitz-Prozessen Fritz Bauers gelesen – denn dann hätte sie wenig Schwierigkeiten gehabt, das Zögern im Lebensbericht als Sorge der Selbstbezichtigung oder Selbstbelastung zu erkennen. Die Autorin hat womöglich auch nie Hannah Arendts Prozessanalyse „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ gelesen. Dort lässt sich viel lernen über die Betonung des Alltags, der Routinehandlungen, der kleinen Pflichtübungen, die über die eigentlichen Verbrechen und Missetaten hinwegtäuschen sollten. Dann wäre auch bekannter, dass kaum eines der Ego-Dokumente von Tätern über brennende Synagogen berichtet – wieso auch? Dass sie gebrannt haben, ist doch allgemein bekannt, wie viele Eier ein Landfrauenheim verbraucht hingegen nicht. Es ist zu befürchten, dass Hennig von Lange die Kassettenerzählung ihrer Großmutter keiner Quellenkritik unterworfen hat. Sie hat überdies offenbar ein Bild ihrer Großmutter entworfen, das dem selbst erlebtem Bild nicht widersprach. Das ist menschlich, aber kurzsichtig. Ein Nazi kann Nazi sein und dennoch lieb zu seinen Enkeln.

Die Autorin füllt nun die Leerstellen: „Anschließend habe ich angefangen, meine Recherche mit den Erinnerungen meiner Großmutter zu verweben, um die Leerstellen zu füllen. Die Boykottaufrufe für jüdische Läden, die ‚Säuberung‘ des Dessauer Theaters, die Schließung des berühmten Bauhauses, Verhaftungen von Sozialdemokraten.“ Mit anderen Worten: Sie ergänzt die Erzählung um harte Fakten, um Sachinformationen, um ein lexikalisches Korsett, das dennoch über die Person Klara nicht mehr erzählt. Das geschieht nicht, indem die Synagoge im Text brennt, sondern indem die Figur mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wird.

Alles, was wir über Klara erfahren, wird durch Reflexionen vermittelt, nicht indem sie handelt. So lässt uns die Autorin ständig vom inneren Widerstand der Figur Klara wissen, ohne dass dieselbe Figur auch so handelt. Im Gegenteil: 1938 gelten beide Ländlichen Frauenbildungsheime Oranienbaum und Sandersleben als Vorbilder für den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), wie der auch im Roman als Figur aufscheinende Dr. Friedrich Hiller schrieb. (Die ländlichen Frauenbildungsheime in Anhalt, in: Neue Bahnen 49 (1938), Heft 3, S. 65-72). Wenn dieser prominente Mandatsträger der Partei schwärmt, „daß die vom Nationalsozialismus geforderte Einheit der Erziehung von Leib, Seele und Geist“ auch hier gewährleistet ist (S. 72), dann kann es mit dem inneren Widerstand der Leiterin beider Einrichtungen nicht weit her gewesen sein. Ergo: Es ist eine Behauptung der Autorin, die an der Geschichte etwas klittert.

Eine Ausnahme in der Charakterisierung durch Reflexion bildet das Verhältnis von Klara zum jüdischen Waisenmädchen Tolla. Klara wird wirklich tätig und entwickelt Muttergefühle für das Mädchen, das ihrerseits Klara als Mutter betrachtet. Umso erschütternder, dass Klara, als ihre Karriere durch Tollas Existenz bedroht ist, das Kind in ein jüdisches Waisenhaus gibt, nachdem sie erfahren hat, dass während der Reichspogromnacht auch Übergriffe gegen die Berliner jüdischen Waisenhäuser stattgefunden haben. Wohlgemerkt: nachdem. Alexa Hennig von Lange äußert im Interview: „Tolla symbolisiert für mich die Unschuld, die der Gesellschaft und auch Klara in dieser Zeit verloren ging. […] Als die Verhältnisse für die jüdische Bevölkerung dann immer gefährlicher werden, gibt sie Tolla schließlich als ihre eigene Tochter aus, weil sie denkt, das Heim sei ein sicherer Ort für sie. Doch irgendwann kann sie Tolla nicht mehr beschützen. Klara ist längst Teil des Systems geworden.“ Tolla (danke auch, dass die Autorin mich gleich darauf festlegen möchte, als was ich die >Figur betrachten soll) soll also als Allegorie auf die Gesellschaft fungieren, funktioniert so aber nicht. Denn dann wäre ja die Gesellschaft wie ein zehnjähriges Mädchen der Willkür der Nazis ausgesetzt und – unschuldig. Die Allegorie krankt also einmal daran, dass die Nazis nicht etwa Außerirdische waren, die das Deutsche Reich besetzt hätten, sondern sie waren Teil der Gesellschaft, ja: die Mehrheitsgesellschaft. Und zum anderen daran, dass die Preisgabe Tollas aus Feigheit 1938 oder 1939 geschieht, als zu einem Zeitpunkt, zu der Führungskader des NSLB wie Klara schon längst tragende Säulen des Systems geworden waren und man keineswegs mehr von „einer lebensfrohen, jungen Frau [..], die eben noch nicht so wissend ist, wie wir es heute sind“ sprechen kann (Zitat AHvL). Zwar spielt der Roman vor der Shoah, aber die Verdrängung der Juden aus Wirtschaft, Verwaltung und der bürgerlichen Existenz war zu diesem Zeitpunkt sichtbar abgeschlossen.

Das Hauptproblem mit Tolla aber ist der Gestus, es habe nicht in Klaras Macht gelegen, Tolla zu schützen: „Doch irgendwann kann sie Tolla nicht mehr beschützen. Klara ist längst Teil des Systems geworden.“ (AHvL) Richtiger formuliert muss es heißen, irgendwann wollte sie Tolla nicht mehr beschützen, doch Klara war Teil des Systems geworden. In der Diskrepanz dieser beiden Modalverben Können und Wollen liegt der Abgrund der Figur Tolla und der Kolportageerzählung über die Großmutter als heimliche Widerstandskämpferin. Klara und ihr Liebster Gustav „waren Trojanische Pferde, die sich ihre geheime Fracht bewahrten“ schreibt AHvL in einem ihrer schiefen Bilder (S. 276), das deshalb schief ist, weil im Innern des Trojanischen Pferdes Krieger sitzen, bereit zum Handeln. Was wäre es für ein Roman, wenn Klara das Mädchen zu beschützen versucht hätte! Welche Message liefert aber die feige Mitläuferhandlung einer keineswegs starken Frau, die im Roman auch noch die Klassifizierung als „feiner Mensch“ nicht ablehnt? S. 339: „Du bist ein feiner Mensch, Klara Möbius.“ – „Das stimmte vielleicht. Und doch war es unerträglich und ein Albtraum, ihre zehnjährige Tochter wegschicken zu müssen […]. Ab jetzt konnte sie gar nichts mehr für sie tun.“

Doch, kämpfen. Oder es wenigstens darauf ankommen lassen. Ein Risiko eingehen.

Die Autorin verwendet eine Quelle, und zwar die mündlich niedergelegten Erinnerungen ihrer Großmutter, um daraus eine Geschichte zu erzählen, die der Leserschaft eine bestimmte Zeit und eine Frau wie die Großmutter der Autorin näherzubringen. Da muss die Frage gestellt werden: wozu? Was erfahren wir über die Zeit oder die Frau, was wird literarisch verarbeitet, um einen höheren Sinn, eine ästhetische Qualität oder gar einen ethischen Komplex darzustellen?

Die Antwort darauf ist: nichts. Was wegen der fortwährenden exkulpatorischen Reflexion der Hauptfigur erreicht wird, ist die Erzählung einer in der Frauenbewegung des Nationalsozialismus engagierten, womöglich anfangs naiv-konservativen Frau, die im besten Fall verstrickte Mitläuferein war, im schlechtesten Fall eine karrierebewusste Kollaborateurin. „‚Die karierten Mädchen‘ ist das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit ihren Erinnerungen. […] Mein Buch ist der Versuch, mit meiner Oma über eine zutiefst verstörende Wahrheit ins Gespräch zu kommen.“ Dies schreibt AHvL im Nachwort (S. 366) und offenbart ihr völliges Versagen, den Dialog mit einer wie auch immer gearteten Wahrheit zu führen, weil sie die Antwort immer schon selbst gibt.

Was ist das für eine Wahrheit, mit der sich die Autorin auseinandersetzen möchte? Die Wahrheit über die Handlungsspielräume der Deutschen zwischen 1933 und 1945 oder die Wahrheit über die Großmutter und deren Handlungen in dieser Zeit? Die zweite Wahrheit sucht die Autorin nicht, denn sie hat ihre Erklärungen bereits in den Roman geschrieben: Klara ist eine heimliche Widerstandskämpferin, die nur mit den Wölfen heult, um – tja was eigentlich? Karriere zu machen? Klara ist nicht nur Nutznießerin des nationalsozialistischen Aufschwungs in Anhalt und in Deutschland, sondern sie sucht den Anschluss an diesen Aufschwung aktiv, um ihr Frauenheim weiterführen zu können. In der moralischen Abwägung, ob man mit den beschriebenen Nazis mitmachen und sie zu Hilfe rufen darf, um die materiellen Möglichkeiten zum Weiterarbeiten einer Hauswirtschaftsschule zu haben, deren Kindererholungsheim nur Mittel zum Zweck der Frauenschule ist, in dieser moralischen Frage hat Klara bereits versagt. Ein anständiger Mensch hätte sich eine andere Arbeit gesucht, um sich wenigstens die Hände nicht schmutzig zu machen. Indem die Autorin die zweite Wahrheit – über ihre Großmutter – als unwissentlich Verstrickte, als naive Mitläuferin ausfüllt, verhindert sie die Auseinandersetzung mit der Suche nach der ersten Wahrheit. Wie wäre ein anständiges Leben in der Zeit des Nationalsozialismus möglich gewesen? Welche Handlungsspielräume hatte man, welche Grenzen wurden dem Anständigen gesetzt und wie? All dies passiert in diesem Roman nicht – weder passiert es Klara noch der Autorin.

Soll die Moral von der Geschicht etwa lauten: „Was sollen wir armen Bürger machen“, wenn sie nicht im KZ enden wollen? „Darauf gab es nur eine Antwort. […] Wenn sie nicht so enden wollten wie der Pazifist, mussten sie sich anpassen und ihren inneren Widerstand für sich behalten.“ (S. 254) Wer darauf als Leser des Romans die Antwort gibt, es handele sich doch um eine wahre Geschichte, muss sich mit der Tatsache konfrontieren, dass erstens die Geschichte nicht wahr ist, wie AHvL selbst sagt, und dass zweitens nicht jede vermeintlich wahre Geschichte erzählenswert ist. Warum soll irgendjemand einen Roman lesen, in dem eine Mitläuferin zur heimlichen Widerstandskämpferin stilisiert wird und die Lehre des Romans zu sein scheint, dass die Nazis die anderen waren und man selbst keine Wahl hatte, als sich wegzuducken? Wer soll das lesen? Wem soll das nützen? Welche Kolportage lesen wir als nächstes – die Beichte eines Einsatzgruppensoldaten, der keine Lust am Erschießen von Juden und Partisanen hatte? Ach, Stopp: Den Roman gibt es, er wurde von Jonathan Littell geschrieben und heißt „Die Wohlgesinnten“. Zurecht preisgekrönt.

Diesen Roman kann man empfehlen, dazu freilich von Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ über normale Menschen und ihren echten Widerstand (auch eine wahre Geschichte) oder von Robert Merle „Der Tod ist mein Beruf“ über die Banalität des Bösen oder als wirklich lesbares Sachbuch von Norbert Frei „Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933–1945“ darüber, wie diese Zeit funktioniert hat.

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Veröffentlicht am 06.10.2022

Niemand ist eine Insel

Auf See
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Theresia Enzensbergers „Auf See“ ist eines dieser Bücher, das unter einem Text leidet, der mutmaßlich nicht von der Autorin stammt – nämlich dem Klappentext. Versprochen wird eine Geschichte „von der Freiheit ...

Theresia Enzensbergers „Auf See“ ist eines dieser Bücher, das unter einem Text leidet, der mutmaßlich nicht von der Autorin stammt – nämlich dem Klappentext. Versprochen wird eine Geschichte „von der Freiheit des Einzelnen und dem utopischen Versprechen neuer Gemeinschaften im Angesicht des Untergangs“, ein Chaos, „in dem die übrige Welt versinkt“, denn: „Die Welt geht unter“. Zu erwarten ist eine Dystopie. Wer Freude an dieser literarischen Gattung hat (ich zum Beispiel), der freut sich darauf, wie die Missstände unserer Gegenwart in die Zukunft verlängert, radikalisiert ausgeführt werden und die Welt, wie wir sie kennen, sich im oben genannten Sinn untergeht. Der Einzelne sieht sich dann in der dystopischen Zukunft mit dem Dilemma der Gegenwart konfrontiert, während die geneigte Leserschaft etwas über den Menschen und über die Gegenwart lernt.

Man kriegt aber nur so eine Art dystopischer Kulisse, in der es an globalisiertem Obsthandel (frische Kiwis), funktionierenden Bankautomaten und einem florierenden Kunsthandel keinen Mangel gibt. Gut – der Berliner Tiergarten wird von einer Zeltstadt obdachlos gewordener Angestellten des unteren Lohnsegments bevölkert, aber die Lösung dieses Problems scheint im Mittel der Vergangenheit zu liegen: Räumungsbescheid des Bezirksamtes. Das hatten wir schon auf dem Oranienplatz.

Während die Dystopie nicht ausgeführt wird, schade, erfahren wir wenigstens etwas über den systemischen Knacks von Utopien, beispielsweise den der Freistatt in der Ostsee, auf der die Protagonistin Yada aufwächst und die ihr Vater einst idealistisch begonnen hat und die jetzt die „utopischen versprechen“ (s.o.) keinesfalls mehr erfüllt. Das ist nett, aber in „Die Welle“ u.a. schon deutlich besser gezeigt worden.

Was bleibt?

Der Roman erzählt in zwei Ebenen: Yadas Geschichte ist eine Coming-of-Age-Story mit viel Potenzial. Ihr Aufbruch aus dem Korsett ihrer Jugend, der Isolation auf der Freistatt und ihre Emanzipation gegenüber ihrem Vater sind gelungen und unmittelbar ansprechend für alle, die Coming-of-Age-Storys mögen (ich zum Beispiel). Die zweite Eben ist Helenas Geschichte. Sie ist eine unabhängige Künstlerin, die sich von der Gesellschaft und den Massenmechanismen abzuwenden versucht. Helenas Satire auf das Sektenunwesen schlägt ins Gegenteil um: Statt den Menschen die Augen zu öffnen, gründet sie aus Versehen eine Sekte und ist danach bemüht, sich zu isolieren und dem Wirbel um sie als „Orakel“ und Youtube-Star zu entgehen.

Die Montagetechnik ist klar: Yada kommt von einer Insel, Helena will eine Insel sein - und beide Inseln scheitern am Menschen. Oder um es mit John Donne zu sagen, der im 17. Jahrhundert gelegt hat: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.“

Die beiden gegeneinander montierten Erzählebenen begegnen einander in der Mitte, und nicht zufällig ist es die Seite in der Mitte, in der ein Handlungsknoten platzt (S. 129 von 259). Zwischen Yada und Helena als Ich-Erzählerin bzw. Point-of-View-Charakter (das Prinzip wird im zweiten Teil aufgebrochen, weil aus Sicht weiterer Figuren erzählt wird, leider) ist das „Archiv“ zwischengeschaltet. Ihn diesen Kurzkapiteln referiert Enzensberger gescheiterte Utopien und Inselprojekte – diese Essays sind in meinen Augen der stärkste Teil des Buchs. Die Erzählweise Enzensbergers ist knapp, prosaisch und fast schon dürr – keinesfalls ansprechend.

Fazit: Hätte es diesen Klappentext nicht gegeben, man könnte den Roman viel mehr als Geschichte genießen und nicht auf die Gesellschaftskritik hoffen, die innerhalb des Romans die Behauptungssphäre kaum verlässt. Nicht zu Unrecht empfiehlt die Rezension in der ZEIT den Roman jugendlichen Lesern – diese werden auch aus den Archiv-Essays besonders viel Honig saugen können.

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Veröffentlicht am 19.04.2022

Dafür statt fünf nur drei von Omas gefüllten Teigtaschen

Schallplattensommer
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Alina Bronsky hat eine Erzählnische gefunden, in der ihr keiner etwas vormacht: Großmütter und ihre Nachkommen. Diesmal ist es mehr die junge Maserati, um die sich eine Sommergeschichte entwickelt, weniger ...

Alina Bronsky hat eine Erzählnische gefunden, in der ihr keiner etwas vormacht: Großmütter und ihre Nachkommen. Diesmal ist es mehr die junge Maserati, um die sich eine Sommergeschichte entwickelt, weniger die Oma, auch wenn es diese freilich gibt: In ihrem Imbiss schuftet die sechzehnjährige Maserati, weil sie den Dämonen ihrer Vergangenheit entfliehen will und wegen ihres schwierigen Charakters eben nicht anders kann. Maserati ist störrisch, dickköpfig, selbstgerecht – und verletzt. Alles ganz normal also, auch wenn „ganz normal“ nicht so gut klingt.

Die Coming-of-Age-Geschichte, die hier erzählt wird, ist allerdings ganz normal, auch wenn die Mutter Maseratis, aus deren Fehltritten der ganze Konflikt der drei Frauengenerationen der Familie entspringt, nicht stinknormal ist: Sie ist irgendeine große Berühmtheit.

„Irgendeine“ und „ganz normal“ sind also das Level dieser Sommergeschichte, in die noch zwei unterschiedlich geratene Cousins (Casoar und Theo) mit jeweils eigenen, irgendwelchen und stinknormalen Problemen hinzustoßen und die Ménage-à-trois komplettieren, die es in Sommergeschichten braucht.

Die Spannung des Romans wird durch die Erzählweise erzeugt: Während die Figuren nämlich die ganze Zeit wissen, w3elche Probleme sie haben und warum sie so oder so auf bestimmte Situationen reagieren, wird und als Leser die Information bis nach der Hälfte des Buches vorenthalten. Klar war ich gespannt, was es mit Maseratis Mutter und ihrem selbstgewählten Rufnamen auf sich hat, Aber genauso klar ist: ich will als Leser doch nicht künstlich unwissend gehalten werden. Das funktioniert nur auf der Figurenebene: Wenn konsequent aus Maseratis Sicht erzählt wird, dann haben sie und ich als Leser die ganze Zeit keinen Schimmer, welchen bekannten Papa Caspar besitzt, bis er es uns beiden erzählt. Ich muss mir also nicht dumm vorkommen. Wenn aber aus Maseratis Sicht erzählt wird, wie sie sich mit ihrer Oma um die alten Geschichten zankt, dann stehe ich absichtlich uninformiert daneben. Das finde ich blöd; in Unterhaltungen wende ich mich in solchen Augenblicken ab und gehe.

Glücklicherweise hat Bronsky eine schöne und unterhaltsame Erzählstimme, die mich bei der Stange hielt. So lang ist der Roman auch wieder nicht (wie keiner der Autorin), und außerdem wartete ich freilich auf die großmütterlichen Ungeheuerlichkeiten, für die Bronsky sich bekannt gemacht hat. Tonfall und Lektüre erinnern an vorherige Werk der Autorin, und die ließen sich ebenfalls gut lesen, waren allerdings besser konstruiert als dieser Band.

Diesmal nur drei von fünf von Omas gefüllten Teigtaschen.

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Veröffentlicht am 11.03.2022

Handeln statt verhandeln

Die Diplomatin
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Friederike „Fred“ Andermann ist „Die Diplomatin“, eine selbstbewusste, sich ihrer Qualitäten, ihres Verstandes und ihres Ehrgeizes bewusste Karrierefrau im diplomatischen Korps der Bundesregierung. Wie ...

Friederike „Fred“ Andermann ist „Die Diplomatin“, eine selbstbewusste, sich ihrer Qualitäten, ihres Verstandes und ihres Ehrgeizes bewusste Karrierefrau im diplomatischen Korps der Bundesregierung. Wie abgebrüht sie mit den alltäglichen Erfordernissen und Zumutungen ihres Berufs umgeht, offenbart die Erzählung aus der Ich-Perspektive, dazu in einem lakonischen, bisweilen sentenzhaften Tonfall, der nicht selten in überraschenden Pointen kulminiert („Meral träumte nicht, sie plante. Sie hatte keine Wünsche, sondern Ideen“. (S. 100). Das macht große Freude beim Lesen – von Anfang bis zum Ende.
Auf dieser Strecke allerdings verändert sich Fred, denn nach einem Vorfall mit einer entführten Touristin im sonst paradiesisch ruhigen Uruguay verliert sie den diplomatischen Standpunkt: den der unbeteiligten Beobachterin, der abwägend redenden, der stets um Zurückhaltung Bemühten. Ihre Selbstbeherrschung bekommt in der Türkei, auf ihrem neuen Posten als Konsulin in Istanbul, Risse, die unter dem Regime „dieses Präsidenten“ leidet, der nie beim Namen genannt wird. Die Repressalien, denen beispielsweise Journalisten ausgesetzt sind, machen wütend. „Die Angst saß innen, und außen saß die Wut.“ (S 194) Dieses Gefühl trägt Fred noch in sich – wenn auch nur diffus und als Kindheitserinnerung ihrer DDR-Vergangenheit, der sie ansonsten vollständig entflohen ist. Fast vollständig, wie der Roman schließlich geschickt enthüllt.
Für Fred bedeuten die Vorkommnisse in Istanbul, die Verfolgung dreier Journalisten durch ein Unrechtsregime, die Erkenntnis der eigenen Hilflosigkeit. Zwar hat sie als Diplomatin den Panzer des bundesrepublikanischen Schutzes um sich, aber sie ist an die Gebote der Diplomatie gebunden. Sie muss erkennen, „dass Freiheit und Beamtentum nicht in ein und denselben Traum“ passen. (S. 107).
Erst jetzt wird deutlich, wie wichtig der Vorspann in Uruguay für das Verständnis von Fred und ihrem Schritt in Richtung Menschlichkeit ist. Wie sie jetzt handelt, erinnert sie an überstürzte Kurzschlusshandlungen von Menschen in der Midlife-Crisis: Männer kaufen Motorräder und versuchen so in ihre Jugend zurückzukehren, Fred revoltiert wieder gegen die Staatsmacht. „Was umso absurder war, da ich inzwischen selbst dazugehörte. Ich revoltierte quasi gegen mich selbst.“ (S. 196) Genau – und das ist der Kern des Romans und gleichzeitig ein Appell an alle: Diplomatie ist wichtig, aber irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, die Staatsgetragenheit abzustreifen und zu menschlich handeln.
Ein zutiefst sympathischer, sehr lesbarer und kluger Roman, der so leicht gekleidet scheint und doch erhebliches Gewicht mitbringt. Lucy Fricke dürfte auf mittlere Sicht die türkischen Gewässer von ihrer Urlaubsplanung ausschließen müssen.

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Veröffentlicht am 17.02.2022

Assimilation hat keine Geschichte, Familien brauchen eine

Dschinns
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„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Was seit Tolstois Anna Karenina für russische Familien gilt, trifft genauso ...

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Was seit Tolstois Anna Karenina für russische Familien gilt, trifft genauso auf türkische oder kurdische Familien zu, erst recht, wenn sie ihre Heimat verlassen und in eine neue Heimat gezogen sind. Was jedes einzelne Familienmitglied begleitet, das sind die „Dschinns“ der Vergangenheit. Und eise bösen Geister nähren sich nicht nur aus dem Familienunglück, sondern auch und vor allem aus dem Schicksal der Einzelnen.
In Fatma Aydemirs großartigem Familienportrait „Dschinns“ wird die Familie Yilmaz von einem Schock erschüttert: dem Tod des Vaters Hüseyin. Die vier Kinder erzählen angestoßen durch diesen Verlust ihre Geschichte und dürfen hierbei ihren eigenen Tonfall nutzen. Die Söhne Ümit und Hakan entpuppen sich hierbei als Getriebene, als unselbständig, fast passiv Erleidende. Die Töchter Sevda und Peri als aktive, nicht minder Leidende. Dass Hakan sich als Kanake fühlt in seiner deutschen Umgebung, wirft Peri im vor: „Du bist so viel mehr als das, warum bestimmst du nicht selbst, was du sein willst? Warum musst du die Rolle übernehmen, die sie dir überstülpen?“ (S. 270) Die Töchter stülpen lieber selbst.
Was alle Kinder bedrückt, ist das große Schweigen in der Familie, die ungeklärte Herkunft der Familie und der Ingrimm der Mutter Emine. Diese stellt das Leben mit ihrem Gatten unter eine passive Aggressivität, die einerseits alles hinnimmt, was „die Älteren“ oder „man“ so von ihr als Frau verlangt, gleichzeitig aber in der Familie alle Fäden in der Hand hat, den Alltag glücklich oder unglücklich zu gestalten.
Emines Kapitel und das Eröffnungskapitel Hüseyins sind in der 2. Person geschrieben –und das ist unglaublich stark. Als Leser befindet man sich gleich im unmittelbaren Dialog mit der Figur, spricht sie an, legt ihr Inneres bloß und nimmt von Angesicht zu Angesicht Anteil. Gleich die ersten Seiten bis zu Hüseyins letztem Herzschlag sind exzellent gelungen.
In Hüseyin und Emine liegt der Schlüssel zu den Dschinns der Familie – nämlich in ihrer eigenen Geschichte und in der gemeinsamen Erzählung, die sie im Familienleben mit ihren Kindern über die Jahre geschrieben haben: die Summe ihrer Fehler, ihres Schweigens und ihrer Vorwürfe. Die besondere Weise, in der die Familie Yilmaz unglücklich ist (um zu Tolstoi zurückzukehren) hat mit ihrer Herkunft zu tun: Es ist eine türkische Familie aus Kurdistan, die in Deutschland wohnt und hier anzukommen versucht - oder eben nicht. Die Autorin setzt sich mit der Einbettung der Familie in die deutsche Gesellschaft auseinander und deckt auf, dass ein Teil des Familienschweigens mit dem Versuch zu tun hat, nicht aufzufallen. Weder in der Türkei aufzufallen noch in Deutschland aufzufallen: „Assimilation […] hat keine Geschichte. Sie war das Gegenteil von Geschichte.“ (S. 182) Aber wie soll man Wurzeln entwickeln ohne Geschichte? Wie kann man sich Flügel wachsen lassen ohne zu wissen, wo man abhebt?
„Dschinns“ ist ein ganz starkes Buch mit einem klaren Erzählkonzept (zum Beispiel wird das Wort „Dschinn“ exakt in der Mitte des Buches erstmals erwähnt), einer literarischen Sprache und einem bewusstseinserweiternden Anliegen, gerade für Leser der Mehrheitsgesellschaft.

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