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Veröffentlicht am 27.08.2019

Psychologisch tiefgreifender, nachhaltiger Roman

Sakari lernt, durch Wände zu gehen
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REZENSION – Eine wahre Begebenheit hat sich der deutsche Schriftsteller Jan Costin Wagner (46) als Ausgangspunkt für seinen bereits 2017 veröffentlichten, kürzlich als Taschenbuch im Goldmann-Verlag erschienenen ...

REZENSION – Eine wahre Begebenheit hat sich der deutsche Schriftsteller Jan Costin Wagner (46) als Ausgangspunkt für seinen bereits 2017 veröffentlichten, kürzlich als Taschenbuch im Goldmann-Verlag erschienenen Roman „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ genommen, den sechsten Band seiner in 14 Sprachen übersetzten Kriminalreihe um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa. Im Sommer 2013 stieg ein verwirrter Mann am Berliner Alexanderplatz nackt ins Wasser des Neptunbrunnens und drohte, sich selbst mit einem Messer zu verletzen. Beim folgenden Polizeieinsatz wurde er von einem Beamten irrtümlich erschossen. In Wagners Roman geschieht dies im Marktplatzbrunnen der finnischen Stadt Turku. Bei ihm ist es der 19-jährige Sakari, der auf der Suche nach seinem Engel Emma, seiner „Fee des frühen Morgens“, durch die durchlässige Wasserwand steigt und vom Polizisten Petri Grönholm in einer Reflexhandlung erschossen wird. Petri versucht in seiner Verzweiflung, mehr über diesen jungen Menschen zu erfahren, und sucht Hilfe bei seinem Kollegen Kimmo.
Kommissar Kimmo Joentaa, der nach dem frühen Tod der Ehefrau allein für seine kleine lebensfrohe Tochter Sanna sorgen muss, sucht die Eltern des Toten auf und stößt auf Spuren einer drei Jahre zurückliegenden Familientragödie, die nicht nur den jungen Sakari in den Wahnsinn getrieben hat, sondern gleich zwei benachbarte Familien hat verzweifeln lassen. Während sowohl der damalige Motorradunfall – der 16-jährige Sakari hatte seine ein Jahr jüngere Freundin Emma aus dem Nachbarhaus unerlaubt auf eine Spritztour mitgenommen, bei der diese zu Tode kam – als auch der aktuelle Todesfall am Brunnen in einer Zeitungsmeldung nur wenige Zeilen in nüchternem Wortlaut ausmachen würden, lässt Wagner in seinem Roman den Kommissar tief in die Träume und Albträume seiner Protagonisten eintauchen und zeigt voller Dramatik, Melancholie und Mitgefühl, wie die Hinterbliebenen beider Familien noch Jahre nach dem Motorradunfall mit der aller Leben verändernden Tragödie umgehen, sie aus dem Bewusstsein verdrängen, um weiterleben zu können, oder haltlos am Schicksal zerbrechen.
Jan Costin Wagners sechster Kimmo-Joentaa-Roman ist wieder kein typischer Kriminalroman. Nicht die Ermittlungsarbeit nach einem Todesfall steht im Vordergrund, sondern die alleingelassenen Menschen, ihre Stimmungen, ihre Verzweiflung, ihre Hoffnung. Wagner schreibt voller Poesie und malerisch in Farben. Blau ist die Farbe der Sehnsucht, des Himmels und der Engel, Gelb steht für Sonne und Leben. Während Sakari als Unfallverursacher auf der Suche nach Emma, seinem Engel, in den Wahnsinn abgleitet und, als Patient ins betreute Wohnen abgeschoben, in seinem Appartement großflächige Landschaftsbilder mit blauem Himmel und gelben Feldern malt und „durch Wände zu gehen“ lernt, wollten seine Eltern Auna und Magnus vergessen und haben mit dem nachgeborenen Sohn Valtteri ein neues Leben begonnen. Leena, die Mutter des damaligen Unfallopfers Emma, kann dagegen nicht loslassen, „tanzt mit dem Tod“, indem sie nachts die Gedenkseite im Internet pflegt. Ihr Ehemann Stefan hat die Familie verlassen und fliegt als Pilot in ein anderes Leben, während der erst elfjährige Sohn David als „Mann im Haus“ für die Mutter und seinen kleinen Bruder Erik sorgen muss. Niemand spürt, dass er auf Dauer damit völlig überfordert ist, unmerklich daran zerbricht und schließlich „die Sonne auslöscht“. Wagners Roman „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ ist kein Krimi, sondern ein psychologisch tiefgreifender, ein ergreifender Roman, der auch nach der letzten Seite noch lange Zeit nachwirkt.

Veröffentlicht am 17.08.2019

Gesellschaftsroman zur anspruchsvollen Unterhaltung

All die unbewohnten Zimmer
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REZENSION – Es ist sicherlich ein riskantes Wagnis, gleich vier Ermittler – drei davon die Protagonisten eigenständiger Kriminalreihen – gemeinsam in einem Roman auftreten und agieren zu lassen. Doch in ...

REZENSION – Es ist sicherlich ein riskantes Wagnis, gleich vier Ermittler – drei davon die Protagonisten eigenständiger Kriminalreihen – gemeinsam in einem Roman auftreten und agieren zu lassen. Doch in seinem neuen Roman „All die unbewohnten Zimmer“ ist dem schon mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis und anderen Ehrungen ausgezeichneten Bestseller-Autor Friedrich Ani (60) dieses literarische Kunststück meisterhaft gelungen. Selbstverständlich belässt der Autor jedem seiner Protagonisten den ihm eigenen Charakter, lässt sie sogar über weite Strecken parallel zu einander ermitteln. Doch schließlich führt er die verschiedenen Handlungsstränge und damit zugleich die vier Ermittler in einer staunenswerten Choreographie zu einem überraschenden Finale zusammen.
Diese Vier sind der frühere Mönch und heute heutige Kommissariatsleiter Polonius Fischer, sein inzwischen pensionierter Kollege Jakob Franck, den man aus dessen eigener Buchreihe als mitfühlenden Überbringer von Todesnachrichten kennt, der frühere Kriminalbeamte und jetzige Vermisstenfahnder Tabor Süden sowie Fariza Nasri, die aus der Provinz nach München zurückgekehrte Kriminalbeamtin mit syrischen Wurzeln. Auch wenn diese Vier anfangs noch getrennt agieren, führt sie letztlich die Aufklärungsarbeit um die Ermordung eines jungen Streifenpolizisten zusammen.
Dieser Polizistenmord auf offener Straße – oder war es Totschlag? – erregt zwangsläufig die Aufmerksamkeit bei Medien und Öffentlichkeit. Zunächst unauffällig, dann immer bedrängender baut Friedrich Ani die aktuellen Probleme und Fragen unserer Tage in die Handlung ein - die gesellschaftliche und wirtschaftliche Spaltung von Ost- und Westdeutschland, die Sensationsgier vieler Print- und sozialen Medien, die Folgen der für viele Bundesbürger übermäßig scheinenden Migrationswelle, die mögliche Überforderung von Polizei und Justiz sowie das aus all diesem resultierende Erstarken der Rechtspopulisten mit seinen bedrohlichen radikalen Ausuferungen.
„Der Kriminalroman zwingt zum Hinschauen in die Gegenwart, das Drama des in seinem Lebenszimmer gefangenen Menschen gelingt mir mit dem Krimi am besten, ohne dass es mir auf Mord und Totschlag und spektakuläre Plots ankäme. In meinen Krimis bestimmen die Langsamkeit und das Schweigen den Handlungsablauf“, hat Friedrich Ani einmal über seine Art zu schreiben gesagt. Zwar ist Mord und Totschlag der Ausgangspunkt auch dieses neuen Romans, doch ist dies für Ani nur der Auslöser für die dann einsetzende Handlung. Darin analysiert Ani – wie sein Polonius Fischer – das Unscheinbare, die tief verborgenen Hintergründe, die menschlichen Abgründe, die Täter zu ihrer Tat verleiten, manchmal sogar zu zwingen scheinen. Dabei ist Langsamkeit und beredtes Schweigen – wie wir es vor allem bei Tabor Süden erleben – ein dramatisch wirksames Mittel zur Schaffung dieser in Anis Werken oft beklemmenden Atmosphäre.
Diese ihm eigene Art zu schreiben, die gelegentlich an seinen Schriftstellerkollegen Ferdinand von Schirach denken lässt, macht auch Friedrich Anis neuen Roman „All die unbewohnten Zimmer“ wieder so lesenswert. Trotz der Kriminalhandlung ist auch Anis neues Werk kein Krimi, sondern ein ausgezeichneter Gesellschaftsroman. Dabei sorgen die bis zum Schluss anhaltende Spannung und die markanten Charaktere wieder für anspruchsvolle Unterhaltung.

Veröffentlicht am 28.07.2019

Ein zum Nachdenken anregender literarischer Genuss

Kaffee und Zigaretten
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REZENSION - Es gibt wohl keinen zweiten zeitgenössischen Schriftsteller, der wie Ferdinand von Schirach (55) plötzlich als neuer Stern am Literaturhimmel aufgetaucht ist und seitdem alle anderen überstrahlt. ...

REZENSION - Es gibt wohl keinen zweiten zeitgenössischen Schriftsteller, der wie Ferdinand von Schirach (55) plötzlich als neuer Stern am Literaturhimmel aufgetaucht ist und seitdem alle anderen überstrahlt. Erst als 45-Jähriger landete der frühere Promi-Anwalt vor zehn Jahren mit dem Erzählungsband „Verbrechen“ auf Anhieb einen Bestseller. Seitdem folgte Jahr für Jahr ein neuer, jeder vielfach übersetzt, manche verfilmt. Ob Erzählung, Essay, Theaterstück, Roman oder der bemerkenswerte philosophische Dialog „Die Herzlichkeit der Vernunft“ (2017) mit Alexander Kluge – jedes Buch ist anders, jedes aufs Neue überraschend wie auch sein neuestes Buch „Kaffee und Zigaretten“.
Es ist eine nur 190 Seiten umfassende Sammlung von Notizen, Beobachtungen und kurzen Erzählungen. Schirach beschreibt flüchtige Momente des Glücks, von Einsamkeit und Melancholie, er schreibt über Entwurzelung und die Sehnsucht nach Heimat, denkt über Kunst und Gesellschaft und als langjähriger Strafverteidiger über die Würde des Menschen nach. „Wir erschufen eine Ethik, die nicht den Stärkeren bevorzugt, sondern den Schwächeren schützt. Das ist es, was uns im höchsten Sinn menschlich macht: die Achtung vor unserem Nebenmenschen.“ Von dieser Überzeugung ausgehend, ist es nicht weit zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen: „Hass ist der Anfang. Es ist immer der Hass, der aus der Dummheit kommt.“
Ferdinand von Schirach will uns nicht belehren. Aber er vertritt eine klare Haltung - kurz und knapp, vor allem klug formuliert. Eigentlich ist es eher das Ungesagte, dass in seinen Texten für Nachhaltigkeit sorgt - wie in Kapitel 19: Zehn kurze Zeilen, die uns, morgens beim Frühstück gelesen, den ganzen Tag lang beschäftigen können. Schirach gibt uns Lesern nur Anstöße zum Nachdenken, ohne seine eigenen Gedanken moralisierend vor uns auszubreiten.
Nur in wenigen Passagen vertritt der in einem Jesuiten-Internat humanistisch geschulte Autor seine Meinung zu Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft eindeutiger: „Die gebundene Ausgabe von 'Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich' von David Foster Wallace kostet 20 Euro. Das Ausmalbuch für Erwachsene mit dem Titel 'Alpen' ist sieben Euro teurer.“ Die Beobachtungen seiner Mitmenschen und seine daraus gezogenen Erfahrungen münden im Satz: „Irgendwann hat man keine Vorbilder mehr. Man weiß zu viel. Zu viel über sich selbst und zu viel über die anderen.“ Dies lässt den Autor an seine Jugend denken: „Ich träumte von der Zeit, als wir glaubten, dass uns alles gelingen würde, weil wir nur wenig wussten und weil die Wirklichkeit noch keine Macht über uns hatte.“
Geben Schirachs Texte nun Erdachtes oder selbst Erlebtes wider? Es dürfte beides und von beidem eine Mischung sein. Es sind 48 völlig unterschiedliche Texte, ohne jeden Zusammenhang untereinander, teils nur zehn Zeilen kurz, teils nur fünf Seiten lang. Aber jeder transportiert eine Botschaft, für deren Vermittlung andere Autoren Romanlänge brauchen. Eben diese Kürze seiner Geschichten, seine knappen Sätze, in denen jedes einzelne Wort sorgsam abgewogen und feinsinnig gefeilt scheint, sind es, die Schirachs Bücher so faszinierend, so einzigartig, so geistig anregend, so lesenswert machen.

Veröffentlicht am 28.06.2019

Was bedeutet Heimat?

Nicht Anfang und nicht Ende
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REZENSION - Ein sprachlich und atmosphärisch wunderbares und beeindruckendes Buch ist der 1970 erstveröffentlichte Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ des Schweizer Schriftstellers Plinio Martini (1923-1979), ...

REZENSION - Ein sprachlich und atmosphärisch wunderbares und beeindruckendes Buch ist der 1970 erstveröffentlichte Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ des Schweizer Schriftstellers Plinio Martini (1923-1979), der zuletzt 2016 in deutschsprachiger Neuausgabe im Limmat-Verlag (Zürich) erschien. In seinem 240-seitigen „Klassiker der Schweizer Literatur“, einer berührenden Liebes- und Auswanderergeschichte, erzählt uns Martini, der selbst im kleinen Dorf Cavergno im Maggiatal als Sohn eines Bäckers mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und später dort und im Nachbarort Cevio als Volksschullehrer tätig war, vom kargen und harten Leben der alpinen Dorfbewohner in den Jahren zwischen den Weltkriegen.
Während heute die Schweiz im Ruf steht, ein Steuerparadies, das Land der Reichen und ein teures Urlaubsziel zu sein, schildert Martini in seiner melancholischen Liebeserklärung an die Heimat eine trostlose Region voller Armut, in dem die Bewohner mangels anderer Nahrung von Kastanien und Polenta, die Ärmsten oft sogar nur von Wassersuppe leben mussten. „Wir waren eine Insel außerhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes", lässt der Autor seinen Ich-Erzähler Gori sagen. "Schon damals begannen die Sommergäste ins Val Bavona und bis auf die Alpweiden vorzudringen, um uns zu besichtigen, als ob wir Rothäute wären.“ Damals träumten die jungen Männer des Maggiatals nur noch von der Auswanderung ins gelobte Land Amerika und einer späteren Rückkehr mit vielen Dollars in den Taschen.
Der Autor lässt uns Gori aus Cavergno seine Lebensgeschichte im Rückblick erzählen. Er war - wie viele junge Männer des Maggiatals schon vor ihm - tatsächlich 1929 nach Kalifornien ausgewandert, da er in der Heimat nur Hunger und Armut kannte und keine Aussicht auf Arbeit hatte. Nach einem langweiligen Leben als einsamer Cowboy auf einer Farm weitab jeglicher Zivilisation, kehrte er erst 20 Jahre später, krank vor Heimweh, in sein geliebtes Maggiatal zurück, in dem er einst seine einzige große Liebe Maddalena zurückgelassen hatte. Bei seiner Rückkehr findet er sein Maggiatal nicht mehr so vor, wie er es einst kannte. Maddalena ist schon vor Jahren gestorben, seine alte Mutter ist behindert und der Vater gebrechlich. Das ganze Maggiatal hat sich verändert. Die in der Fremde ersehnte Heimat ist selbst fremd geworden. Am liebsten würde er wieder in die USA zurückkehren. „Mein Friede besteht in dem Wissen, dass ich, wo ich auch sein mag, immer an das denken werde, was ich verloren habe.“
Dieser Roman, der mich in seiner Poesie und Liebe zum Maggiatal, seiner Ausdruckskraft, der Naturverbundenheit und auch gelegentlichen Härte stellenweise an den grandiosen Roman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ (2016) des Österreichers Gerhard Jäger (1966-2018) erinnerte, wirkt so ungemein authentisch, als wäre es Plinio Martinis Autobiographie. Tatsächlich ist es etwas Ähnliches. Zwar sind alle Figuren fiktiv – mit Ausnahme des katholischen Pfarrer Don Giuseppe, der seine Dorfgemeinde fest im Griff hat. Doch die Handlung basiert auf realen Erlebnissen und tatsächlichen Begebenheiten. Schließlich hatte der Autor als Einwohner des kleinen Dorfes Cavergno selbst unter ärmlichen Verhältnissen leben müssen und war als dessen späterer Dorfschullehrer über viele Jahre ein Teil des dortigen Geschehens.
„Nicht Anfang und nicht Ende“ ist die ergreifende Geschichte von sehnsüchtigem Fernweh und krankhaftem Heimweh. „Häuschen, die sich mit offenen Türen eng zusammendrängten, um einander Gesellschaft zu leisten; zu einer Tür hinaus, zur nächsten hinein, und überall bist du zu Hause, unter Leuten deiner Art, die dich kennen und gern haben", heißt es in Martinis Roman über das Leben im Maggiatal. Erscheint diese Enge zwar bedrückend, bleibt sie doch vertraute Heimat und sichert Geborgenheit, während sich die Auswanderer in den Weiten Kaliforniens verlieren. Trotz seines erbarmungslosen und entbehrungsreichen Lebens war das kleine Dorf Cavergno und das Maggiatal dem Autor und seinem Protagonisten Gori immer die Heimat.

Veröffentlicht am 10.06.2024

Nachhaltige Erzählung

Nebel
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REZENSION – Wie man aus Schicksalsschlägen lernen kann, sich nicht selbst aufzugeben, nicht zu verzweifeln, hat der in der DDR aufgewachsene promovierte Pysiker Stefan Fourier (75) am eigenen Leib erfahren. ...

REZENSION – Wie man aus Schicksalsschlägen lernen kann, sich nicht selbst aufzugeben, nicht zu verzweifeln, hat der in der DDR aufgewachsene promovierte Pysiker Stefan Fourier (75) am eigenen Leib erfahren. Nach seiner Flucht im Jahr 1987 sah er sich gezwungen, im Westen noch einmal ganz von vorn anfangen und sich ein neues Leben aufzubauen. Anfangs arbeitete er als Manager und Unternehmensberater und veröffentlichte entsprechende Sachbücher. Inzwischen ist er als Essayist, Aphoristiker und Romancier tätig, schreibt Fabeln und Kurzgeschichten, „in denen ich Gefühle und Gedanken ausdrücke“ und widmet sich „besonders Themen, die Menschen in ihrem Inneren umtreiben“. Dabei bewegt er sich gern „im Grenzbereich zwischen Fiktion und Wirklichkeit, weil sich das Leben nun mal genau zwischen den 'objektiven Realitäten' und unseren Wahrnehmungen davon abspielt“.
Eine solche Geschichte um „das Wissen über die Unwägbarkeiten des Lebens“ ist Fouriers neues, nur 88 Seiten starkes Büchlein im praktischen A6-Taschenformat, das sich auch als nachhaltiges Geschenk für Angehörige oder gute Freunde eignet: In „Nebel. Hinter der Angst ist das Leben“, im Juni erschienen beim Verlag tredition, berichtet der Ich-Erzähler von seinem schweren Unfall, der ihm von einem Moment auf den anderen jegliche Hoffnung auf ein berufliches und gesellschaftliches Fortkommen nahm. Nur kurz zuvor schwärmte er noch: „Meine Zukunft in der Firma schillert in verlockenden Farben. Demnächst werde ich Partner, denn mein Projekt in Dubai läuft fantastisch. Irgendwann wird der nächste Schritt kommen, in die Geschäftsführung. Ich will nach oben, an die Spitze.“
Doch da geschieht der Auto-Unfall. Thorax-Quetschungen sind die Folge, mehrere komplizierte Frakturen der Beine – es besteht sogar Gefahr, die Beine zu verlieren – und starke Blutungen. Ist jetzt alles aus? Was wird aus den Zukunftsplänen des Erzählers, aus seinem Projekt in Dubai und seinem Fortkommen in Dubai? Ein ambitionierten Kollege wartet doch nur darauf, das lukrative Projekt zu übernehmen. Existenzangst macht sich im Erzähler breit. War's das also? Gibt es für ihn noch eine Zukunft? Oder ist er schon Teil der Vergangenheit?
Wie gehen wir mit unseren Ängsten um, die aus der Ungewissheit auf uns eindringen? In seiner kurzen Erzählung lässt Stefan Fourier seinen Protagonisten und damit uns Leser über die Abhängigkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachdenken. Wo beginnt unsere Zukunft? Können wir sie selbst aktiv beeinflussen und gestalten? Fourier macht sich in der Person seines Ich-Erzählers Gedanken über die oft unerwarteten Wendungen des Schicksals, über unsere Ängste und den Umgang mit ihnen. Selbstaufgabe ist der falsche Weg! Schmerz und Leid muss man auszuhalten lernen, denn – wie die Ärztin am Krankenbett des Erzählers sagt – „wo Schmerz ist, da ist Leben.“
Probleme müssen gelöst, Ängste überwunden werden. Denn erst „wenn die Angst schwindet und sich der Nebel lichtet, gelingt der Blick auf das Leben“. Auch wenn der Nebel sich noch nicht völlig aufgelöst hat, lohnt es sich, Schritt für Schritt einen vielleicht noch unsicheren, weil unbekannten Weg in eine andere, eine neue Zukunft zu wagen. Man darf keine Angst vor einem falschen Schritt haben, meint Fourier: „Das Leben zu meistern, heißt nicht immer alles richtig zu machen oder immer Erfolg zu haben“, schreibt er im Epilog seines Büchleins. Wichtiger ist, „das Leben auszuhalten, und in dem Moment, in dem die Zukunft in der Gegenwart erscheint, das zu tun, was man für richtig hält. Und dabei frohen Mutes zu sein.“ Es gilt nach Meinung des Autors also, aus dem „Wissen über die Unwägbarkeiten des Lebens Mut und Zuversicht zu schöpfen. Stefan Fouriers kurze Erzählung „Nebel. Hinter der Angst ist das Leben“ ist eine sinnstiftende Lektüre für eine ruhige Stunde der Besinnung.