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Veröffentlicht am 09.07.2022

Unterhaltsamer Krimi mit dem jungen Edgar Allan Poe

Der denkwürdige Fall des Mr Poe
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REZENSION - „In zwei oder drei Stunden werde ich tot sein“, beginnt Erzähler Augustus „Gus“ Landor im Roman „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ seine Geschichte. Und doch reicht ihm die Zeit, um ausführlich ...

REZENSION - „In zwei oder drei Stunden werde ich tot sein“, beginnt Erzähler Augustus „Gus“ Landor im Roman „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ seine Geschichte. Und doch reicht ihm die Zeit, um ausführlich auf 500 Seiten über seine Ermittlungen zur Aufklärung von zwei Morden an jungen Kadetten im Herbst 1830 an der US-Militärakademie West Point zu berichten. Der ehemalige New Yorker Polizeidetektiv hat sich aus Gründen, die wir in dem bereits 2006 im Original, aber erst jetzt nach 16 Jahren auf Deutsch im Insel Verlag veröffentlichten Kriminalroman des amerikanischen Schriftstellers Louis Bayard ganz am Schluss erfahren, als 48-jähriger „Constable im Ruhestand mit schwacher Lunge und Kreislaufproblemen“ in einem Haus nahe der Militärakademie zurückgezogen. Er wird nun von der Kommandantur beauftragt, diese beiden Morde ohne großes Aufsehen aufzuklären.
Der erste Mord hatte einen grausamen Fortgang: Der in der Krankenstation der Militärakademie zur Untersuchung aufgebahrte Leichnam war mitten in der Nacht gestohlen worden. Als man ihn wiederfand, war dem toten Kadetten das Herz entnommen worden. Schon bald wird ein zweiter Kadett ermordet. Da die Situation immer rätselhafter wird, Gus Landor aber verdeckt ermitteln soll und ihm der unbegleitete Zugang zum Militärgelände verboten bleibt, fordert er einen Kadetten als Assistenten an, der seine Kameraden und das Geschehen innerhalb des Kasernengeländes für ihn beobachten und ihm regelmäßig berichten soll. Landors Wahl fällt auf den poetisch veranlagten Edgar Allan Poe (1809-1849), der viele Jahre später durch seine Kriminal- und Schauergeschichten weltberühmt werden sollte, zum jetzigen Zeitpunkt aber gerade im Sommer 1830 als Kadett in West Point aufgenommen worden war. Die Kommandeure sind von Landors Wahl nicht begeistert: In seinem Vierteljahr an der Akademie war Poe bereits zum disziplinarischen Problemfall geworden, durch Alkoholexzesse aufgefallen und hatte etliche Strafpunkte angesammelt.
Die Einbindung einer realen Person in eine fiktive Handlung ist bei US-Autor Bayard nichts Neues: In „Die Geheimnisse des schwarzen Turms (2011) ist der Chef der Pariser Geheimpolizei, François Vidocq (1775-1857), einer der Protagonisten, in „Algebra der Nacht“ (2012) ist es der englische Mathematiker und Universalgelehrte Thomas Harriott (1560-1621). In „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ erfahren wir nun sehr viel Interessantes über die wilden Jugend- und Entwicklungsjahre Edgar Allan Poes, der nach dem Tod seiner Mutter ungeliebt bei Pflegeeltern aufwachsen musste, sich wohl auch deshalb als 18-Jähriger bei der US-Army verpflichtet hatte und nun 1830 Offizier werden wollte. In Bayards Roman sind Poes Berichte an seinen Auftraggeber Landor keine militärisch nüchternen Beobachtungsprotokolle, sondern in ihrem literarischen Stil lässt der Autor schon den späteren Meister der Kurzgeschichte erkennen.
Bayards Buch wirkt in seiner szenischen Ausführlichkeit und in seinem Sprachstil weniger wie ein Krimi, sondern eher wie ein – wegen der Biografie Poes – auch literarisch interessanter Roman. Erst gegen Schluss wird er durch eine überraschende Wendung noch zum Krimi, wodurch auch der Romantitel „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ eigentlich erst verständlich wird. Der lockere Plauderton des Autors oder seines Erzählers, der gelegentlich auch direkt seine „sehr geschätzten Leser“ anspricht, macht den Roman zu einer recht unterhaltsamen Lektüre, deren 500 Seiten man trotz einzelner Längen gern liest. Anschließend ist es wohl unvermeidbar, dass man sich – durch diesen Roman neugierig geworden – noch ausführlich mit der Biografie des Schriftstellers Edgar Allan Poe beschäftigt, der zum Zeitpunkt der Romanhandlung in West Point im Jahr 1830 bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht hatte und neun Jahre später durch seine Kurzgeschichte „Der Untergang des Hauses Usher“ berühmt wurde.

Veröffentlicht am 22.06.2022

Gut unterhaltend, aber steigerungsfähig

Ein Giro in Triest
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REZENSION – Die Hafenstadt Triest ist nicht zum ersten Mal Schauplatz eines Romans des österreichischen Schriftstellers Christian Klinger (56), der nach Verlagsangabe seit 2017 dort seinen Zweitwohnsitz ...

REZENSION – Die Hafenstadt Triest ist nicht zum ersten Mal Schauplatz eines Romans des österreichischen Schriftstellers Christian Klinger (56), der nach Verlagsangabe seit 2017 dort seinen Zweitwohnsitz hat. Bereits in „Blutschuld“ (2017), dem vierten Fall seines Wiener Ermittlers Marco Martin, sowie in der Familiensaga „Die Liebenden von der Piazza Oberdan“ (2011) machte Klinger die Stadt an der Adriaküste zum Ort der Handlung. In seinem kürzlich im Picus Verlag veröffentlichten Roman „Ein Giro in Triest“, Auftakt zu einer historischen Krimireihe, widmet sich Klinger allerdings vollends der heutigen Hauptstadt der italienischen Region Friaul-Julisch Venetien, die über 500 Jahre zum österreichischen Kaiserreich gehörte und erst 1918 zu Italien kam.
In seinem Triest-Krimi geht der Autor in diese letzte Phase der von Österreichern, Italienern, Slowenen und anderen Nationalitäten besiedelten habsburgischen Hafen- und Handelsstadt zurück und lässt seinen jungen Inspektor Gaetano Lamprecht im Jahr 1914 im Umfeld von Monarchisten, nationalistischen Italienern (Irredentisten) und der italienisch-slawischen Unterwelt ermitteln. Schon der italienisch-deutsche Name des Inspektors der Triester Polizei zeigt dessen eigene gespaltene Identität, ist doch sein Vater ein Österreicher und die Mutter eine Italienerin. Scheint es Gaetano Lamprecht anfangs nur mit einem vorgetäuschten Selbstmord eines Soldaten zu tun zu haben, wandelt sich Klingers Roman bald von einem historischen Krimi in einen interessanten Politkrimi, der die politisch brisante Situation in der Vielvölkerstadt aufzeigt: Gerade sind der österreichische Thronfolgerpaar, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Ehefrau Sophie, am 28. Juni 1914 in Sarajewo von Gavrilo Princip, einem Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung Mlada Bosna, ermordet worden. Die Särge des Paares sollen über Triest nach Wien gebracht werden. Doch jetzt drohen Nationalisten mit der Entführung der Särge, was Gaetano verhindern soll. In einem Netz aus Verschwörungen und Korruption gelingt es dem noch jugendlich-forschen und gelegentlich auch unüberlegt handelnden Kriminalisten nur mühsam, die Verschwörer zu entlarven und letztlich dadurch auch seinen Mordfall zu lösen.
Der Soldatenmord und die Jagd nach den Särgen des Thronfolgerpaares geben dem historischen Roman allerdings nur einen Handlungsrahmen, weshalb in „Ein Giro in Triest“ auch keine rechte Spannung aufkommen will. In erster Linie schildert das Buch die schwierige Situation in Triest im politischen wie gesellschaftlichen Umgang mit und zwischen den Bewohnern so unterschiedlicher Nationalitäten, die jede für sich um ihre Rechte und Anerkennung kämpft. Doch diese komplexe Vielfalt beschreiben zu wollen, lähmt zwangsläufig den Handlungsablauf und nimmt dem Krimi die Spannung.
Mag die geschichtliche Recherche dem Autor gelungen sein, was nur Historiker beurteilen können, übertreibt der Autor allerdings dann, wenn er der Handlung wieder zu mehr Spannung verhelfen will: Es ist doch wenig glaubhaft, wenn sein junger Inspektor, so gelenkig und sportlich dieser als trainierter Radrennfahrer auch sein mag, auf offener See ein Kriegsschiff in voller Fahrt nur mit Hilfe eines herabgelassenen Taus entert. Auch die nachfolgende Handlung an Bord scheint kaum glaubwürdig, langweilt zudem in ihrer Detailfreudigkeit.
In seiner Danksagung nennt Autor Klinger ausdrücklich seinen Schriftsteller-Kollegen und Landsmann Günther Neuwirth (55) als Ratgeber. Dieser hat mit seinen beiden historischen, nur wenige Jahre früher in Triest spielenden Krimis „Dampfer ab Triest“ (2021) und „Caffè in Triest“ (2022) mit dem galanten Ermittler Bruno Zabini die Messlatte hochgelegt. Wird man nun von Klinger selbst zum Vergleich gezwungen, muss man feststellen, dass sein „Giro in Triest“ für sich allein betrachtet sich zwar gut lesen lässt, doch gegenüber Neuwirth stilistisch und atmosphärisch noch ein Stück aufzuholen hat.

Veröffentlicht am 14.06.2022

Politisch interessanter historischer Roman

Kaiserstuhl
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REZENSION – Auch in „Kaiserstuhl“, dem dritten kürzlich im List Verlag erschienenen Roman ihrer historischen Buchreihe, lässt Schriftstellerin Brigitte Glaser (67) die Gründungsjahre der deutschen Bundesrepublik ...

REZENSION – Auch in „Kaiserstuhl“, dem dritten kürzlich im List Verlag erschienenen Roman ihrer historischen Buchreihe, lässt Schriftstellerin Brigitte Glaser (67) die Gründungsjahre der deutschen Bundesrepublik wieder lebendig werden. Nach ihrem Bestseller „Bühlerhöhe“ (2016), dem 1952 während der Kanzlerschaft Konrad Adenauers im gleichnamigen Schlosshotel nahe Baden-Baden spielenden Roman, und dem Folgeband „Rheinblick“ (2019) über den Machtkampf Willy Brandts im Wahljahr 1972 mit seinen Parteigenossen Horst Ehmke, Helmut Schmidt und Herbert Wehner in Bonn geht die Autorin in ihrem dritten Band nun wieder zehn Jahre zurück – in den Herbst und Winter 1962 während der Schlussverhandlungen zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag.
Die politische Situation bei der von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Präsident Charles de Gaulle angestrebten Beendigung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ schildert Glaser am Beispiel ihrer badisch-elsässischen Grenzbewohner: In einem Weindorf am badischen Kaiserstuhl lebten bei Kriegsende die Kriegerwitwe Henny Köpfer, Tochter eines Freiburger Weinhändlers, und Paul Duringer, ein aus dem elsässischen Straßburg stammender französischer Soldat, gemeinsam mit dem dreijährigen Kriegswaisen Kaspar auf dem Hof der alten Bäuerin Kätter, Hennys Schwiegermutter und Pauls Tante. Doch die familiengleiche Gemeinschaft zerbrach, als Henny die Hochzeit mit Paul platzen ließ. Paul verschwand daraufhin, Henny baute die Weinhandlung ihres Vaters in Freiburg wieder auf und Kaspar blieb bei der „Großmutter“ zurück. Erst knapp 20 Jahre später treffen Henny und Paul wieder aufeinander. Grund ist die Suche nach einer Champagnerflasche aus einem Nazi-Raubzug im Elsass, die Paul im Auftrag des französischen Sicherheitsdienstes finden soll. Dieser Champagner soll angeblich nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags von Adenauer und de Gaulle als Zeichen der Aussöhnung getrunken werden.
Vor dem realen politischen Hintergrund erzählt Glaser in einer interessanten Mischung literarischer Genres vom wechselhaften Schicksal der Menschen in der badisch-elsässischen Grenzregion: „Kaiserstuhl“ ist einerseits ein historischer Roman um die Geschehnisse des Jahres 1962 sowie ein Politkrimi, andererseits aber auch ein Heimat- und Schicksalsroman über die Beziehungen zwischen den Bewohnern beider Seiten des Rheins mit ihren wechselseitigen und je nach politischer Lage wechselnden Sehnsüchten und Ängsten. Glaser lässt dabei ihre Figuren, deren Umfeld und Alltagsleben recht authentisch wirken und nutzt hierzu Akzente der damaligen Mode, zitiert zeitgenössische Schlager- und Jazztitel sowie damals aktuelle, teilweise heute noch als Klassiker bekannte französische Filme der Nouvelle Vague.
Glasers Roman mag mit seinen schnellen und harten Szenenwechseln sowie durch häufige Zeitsprünge zwischen Kriegs- und Nachkriegsjahren anfangs etwas verwirren und die Lektüre erschweren. Doch je tiefer man in die Handlung eindringt, umso besser fügen sich die Puzzle-Teile zum vollständigen und lebendigen Bild jener Wirtschaftswunderjahre in der noch jungen Bundesrepublik, als die Menschen an ihre Zukunft und die Politiker an die Neuausrichtung des geopolitischen Machtsystems dachten. Brigitte Glaser macht deutlich, dass dabei die von wenigen Zeitgenossen geforderte Aufarbeitung von Kriegsverbrechen vielen nicht nur ungelegen kam, sondern sogar politisch unerwünscht war. „Kaiserstuhl“ wird bei Älteren manche Erinnerung aufkommen lassen und liefert Jüngeren manche historisch interessante Information.

Veröffentlicht am 26.05.2022

Historisch interessant und sehr authentisch

Der blonde Hund
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REZENSION - Nach ihren historischen Berlin-Krimis „Der weiße Affe“ (2017) und „Die schwarze Fee“ (2019) folgte im Februar im Pendragon Verlag mit „Der blonde Hund“ Kerstin Ehmers dritter Fall für den jungen, ...

REZENSION - Nach ihren historischen Berlin-Krimis „Der weiße Affe“ (2017) und „Die schwarze Fee“ (2019) folgte im Februar im Pendragon Verlag mit „Der blonde Hund“ Kerstin Ehmers dritter Fall für den jungen, aus dem provinziellen Wittenberge (Elbe) stammenden Kommissar Ariel Spiro, der nun inmitten politischer und sozialer Wirren der Zwanziger Jahre in der Reichshauptstadt rätselhafte Mordfälle aufzuklären hat.
Diesmal wird im November 1925 eine Leiche aus einem Berliner Kanal gefischt, die bald als ein Journalist vom „Völkischen Beobachter“, dem Presseorgan der erstarkenden Nationalsozialisten, identifiziert wird. Doch der Fall erweist sich als kompliziert, zumal es in derselben Nacht noch ein zweites, schwer verletztes Opfer – einen jungen Mann – gegeben haben soll, das allerdings nicht mehr auffindbar ist. Erst der später auftauchende Ausweis des jungen Mannes lässt einen Zusammenhang erkennen: Der ermordete Journalist nutzte als „Ziehvater“ des früheren Waisenjungen, den er „Canis“ (Hund) nannte, schamlos aus. Auf der Suche nach diesem „blonden Hund“, den er als Zeugen braucht, kommt Spiro in Sachsen und Ostpreußen mit den Artamanen in Kontakt, einem vom 25-jährigen Heinrich Himmler als Jugendbewegung gegründeten radikal-völkischen Siedlungsbund.
Während Spiro keine Zeit für Freundin Nike Fromm hat, befasst sich diese als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sexualwissenschaft des Dr. Magnus Hirschfeld dort mit einem schwer misshandelten Strichjungen. Beim Versuch, die Verursacher dieser Misshandlung zu finden, gerät sie ins Umfeld homosexueller Perversitäten. An diesem Beispiel zeigen sich die negativen Auswüchse damaligen Bemühens um sexuelle Freiheit, deren unterschiedliche Facetten ebenso stimmig in die Romanhandlung eingebaut sind wie der damals in den Salons der gehobenen Gesellschaft gepflegte Spiritismus und die Verbreitung der von Rudolf Steiner gegründeten Anthroposophie.
So schildert Kerstin Ehmer auch in ihrem dritten Krimi wieder auf sehr eindrucksvolle Weise das politische und gesellschaftliche Leben in der Reichshauptstadt zur Zeit der überhaupt nicht goldenen Zwanziger Jahre in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Politisch erleben wir das allmähliche Erstarken der Nationalsozialisten, die zu einer bedrohlichen Macht heranwachsen, ohne von der Bevölkerungsmehrheit schon als Gefahr erkannt zu werden. Für die NSDAP ist es die Zeit der „Säuberungen“, in der sie sich von brutalen, in den Vorjahren noch nützlichen Kämpfern befreit, um künftig als seriöse national-konservative Partei politischen Einfluss zu gewinnen. Die Voraussetzungen sind gut: Der Antisemitismus zeigt sich bereits offen in allen Schichten der Gesellschaft.
Ihre atmosphärisch dichte Schilderung dieses vielschichtigen, prallen und turbulenten Berliner Lebens in einer schwierigen Zeit voller Widersprüche verknüpft die Autorin mit einem spannenden Kriminalfall. Sowohl Ariel Spiro als auch seine Freundin Nike Fromm geraten darin in einen unaufhaltsamen Strudel aus politischer Macht und brutaler Gewalt, aus dem sie sich nicht befreien können. Zwar klären sich die Mordfälle trotz aller Hindernisse am Ende auf, doch die eigentlich schuldigen Hintermänner bleiben unentdeckt. Zu weit reichen inzwischen schon die Tentakel der Nazi-Führung – sogar bis in Spiros Kriminalkommissariat. So steht Kerstin Ehmers Kommissar letztlich nicht als erfolgreicher Ermittler da, sondern als ziemlich hilfloser Kriminalist, dem auch die Unterstützung seiner Vorgesetzten versagt bleibt. Dieser offene Schluss des Romans lässt seine Leser nachdenklich zurück, denn wir alle wissen, wie die Zeitgeschichte weitergeht. Wer sich für historische Krimis über die Zeit der Weimarer Republik interessiert, sollte diesen in Sprachstil und Authentizität ausgezeichneten Roman „Der blonde Hund“ lesen.

Veröffentlicht am 14.05.2022

Literarisch interessant, spannend geschrieben

Mary Shelley
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REZENSION – Schon 2017 hatte die Publizistin und Schriftstellerin Barbara Sichtermann (79) ihre Romanbiografie über die englische Schriftstellerin Mary Shelley unter dem Titel „Mary Shelley – Leben und ...

REZENSION – Schon 2017 hatte die Publizistin und Schriftstellerin Barbara Sichtermann (79) ihre Romanbiografie über die englische Schriftstellerin Mary Shelley unter dem Titel „Mary Shelley – Leben und Leidenschaften der Schöpferin des 'Frankenstein'“ erstmals veröffentlicht. Nach fünf Jahren erschien nun im Februar im Osburg Verlag eine überarbeitete Ausgabe unter dem neuen Titel „Mary Shelley – Freiheit und Liebe“ über die aufregenden, zu Shelleys Zeit skandalösen Jugendjahre sowie das später weit weniger spektakuläre Autoren- und Witwenleben der Verfasserin, die bereits 1818 durch ihren anfangs noch ohne Autorennamen veröffentlichten ersten Science-Fiction-Roman „Frankenstein oder Der junge Prometheus“ bekannt geworden war.
Sichtermanns unbedingt lesenswertes Werk als „Romanbiografie“ zu bezeichnen, ist im Grunde tief gestapelt, denn mit dieser Kategorisierung würde man ihr Buch leichtfertig mit den heute vielzählig als Auftragsarbeiten in Serie erscheinenden Unterhaltungsromanen über berühmte Frauen vergangener Jahrhunderte gleichsetzen. Der literaturwissenschaftliche Terminus der „Biografie“ wird ihrem Buch wesentlich gerechter, auch wenn die Autorin zweifellos romaneske Passagen nutzt, um uns Lesern das Verständnis historischer, soziologischer oder literarischer Zusammenhänge zu erleichtern.
Sichtermann schildert das ungewöhnliche Leben der Mary Shelley (1797-1851), einer freiheitsliebenden, emanzipierten und willensstarken Frau, Tochter des Sozialphilosophen und Autors William Godwin, des Begründers des philosophischen Anarchismus, und der Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Mary Wollstonecraft. Von beiden in Charakter und Lebensanschauung schon als Mädchen geprägt, verfolgt Mary nicht nur konsequent ihren Traum vom Schreiben eigener Werke, sondern verlässt als 16-Jährige das Elternhaus und brennt mit ihrem Geliebten, dem fünf Jahre älteren, in Literatenkreisen bekannten und skandalumwitterten Dichter Percy Shelley (1792-1822) durch.
Die Jugendjahre Mary Shelleys bis zu Percys frühem Tod vor der toskanischen Küste nehmen den Großteil der Biografie ein, sind sie doch auch die aufregendsten und durch ihre Bekanntschaften mit Schriftstellern und Dichtern ihrer Zeit auch die literarisch interessantesten. Ihr späteres Leben ist weit weniger spektakulär, wenn auch für Mary selbst nicht weniger aufreibend, leidet sie doch als alleinerziehende Witwe wegen nachfolgend literarischer Misserfolge ständig unter Geldmangel. Erst nach der von ihr kommentierten Neuausgabe aller Werke ihres verstorbenen Mannes hat sie ein leidliches Auskommen, das ihr sogar 1840 und 1842/43 ausgedehnte Reisen quer durch Europa bis nach Italien erlaubt – in Erinnerung der wenigen glücklichen Jahre mit Percy Shelley.
Sichtermann hat mittels unzähliger Zitate aus Marys Tagebüchern und Briefen sowie aus literarischen Werken und Dokumenten ihres Ehemannes und ihres Bekanntenkreises ein literaturwissenschaftlich hochinteressantes Buch verfasst. Zudem liefert die Biografie wissenswerte Einblicke nicht nur in Mary Shelleys Privat- und Familienleben, sondern zugleich in die damals durch Folgewirkungen der Französischen Revolution in Unruhe versetzte monarchisch geprägte englische Gesellschaft. Dennoch ist Sichtermanns Romanbiografie – und hier hilft dann doch die romaneske Aufbereitung aller Fakten – eine spannend zu lesende Lebensgeschichte einer ungemein interessanten Frau des frühen 19. Jahrhunderts, die nicht nur für Fans der britischen Schriftstellerin oder ihres Frankenstein-Romans zur Lektüre empfohlen werden kann.