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Veröffentlicht am 21.09.2016

Ein Roman über die Gegenwart, über Chaos und psychische Instabilität.

Wir kommen
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"Wir […] stritten über Zeug, das uns beschäftigt, weil uns sonst wenig beschäftigt." (Seite 24)

"Wir kommen" behandelt aktuelle Themen die wohl viele hier und da betreffen. Wo steht man im Leben? Wo will ...

"Wir […] stritten über Zeug, das uns beschäftigt, weil uns sonst wenig beschäftigt." (Seite 24)

"Wir kommen" behandelt aktuelle Themen die wohl viele hier und da betreffen. Wo steht man im Leben? Wo will man hin? Ist man glücklich mit seinem Leben? Wie ändere ich etwas in meinem Leben, was mich unglücklich macht, aber doch mein Leben strukturiert? Es handelt sich um einen Roman mit wenig Handlung aber viel Innendarstellung. Die Meinungen der Leser werden wohl stark auseinanderdriften. Entweder man mag es, oder man mag es nicht.

Ronja von Rönne (1992 geboren) lebt in Berlin und Grassau. Sie arbeitet als Redakteurin im Feuilleton der Welt und bloggt auf ihrer Seite, dem Sudelheft. Der Roman Wir kommen ist ihr Debüt.

Nora ist die Hauptfigur von "Wir kommen". Ihre Freundin Maja aus Kindheitstagen ist tot, doch das will und kann Nora nicht glauben. Da Nora nachts immer wieder Panikattacken hat, geht sie zum Therapeuten. Doch zu allem Unglück in ihrem Leben macht dieser nun Urlaub und rät ihr, ihre Gefühle in einem Tagebuch festzuhalten. Und genau diese Tagebucheinträge gestalten das Buch. Nora berichtet also über ihr Leben, welches keine besonderen Höhepunkte aufzuweisen scheint. Sie befindet sich mit Karl, Leonie und Jonas in einer Vierer-Beziehung, die keinen von ihnen glücklich zu machen scheint. Außerdem ist da noch Leonies Tochter, ein immerzu schweigendes Kind. Ihre Beziehung droht auseinander zu brechen und so beschließen sie, selbst eine Auszeit am Meer zu machen und flüchten regelrecht aus ihrem Alltag.

Zunächst einmal muss ich zugeben, dass bei der Durchsicht des Verlagsprogramms bei mir erst einmal kein Interesse an diesem Werk geweckt wurde. Erst durch einen erneuten Hinweis in Form des Blogger Newsletters wurde ich auf dieses Buch aufmerksam. Genau genommen hat das Thema Mutismus mein Interesse an dem Buch geweckt. Ich bin selbst Mutter eines zeitweise schweigenden Kindes und da hat mich das Thema gleich interessiert. Vielleicht bin ich deshalb mit einer falschen Hoffnung in dieses Buch gestartet. Denn das schweigende Kind ist eigentlich nur Beiwerk einer Geschichte um das völlig chaotische und aus den Fugen geratene Leben vierer Personen.
"Wir seien vier Egoisten, die sich vor lauter Angst aneinanderklammerten, obwohl wir uns eigentlich hassten. Es gebe kein Konzept, und es habe nie eins gegeben, denn Angst-vor-allein-Sein sei kein Konzept, sondern feige." (Seite 182)
Die Melancholie in der Gruppe ist deutlich spürbar: „heute hatten wir alle gut performt, unsere Rollen gefunden, die schon Morgen wieder bröckeln würden“ (Seite 62). Nora ist zutiefst verzweifelt, sie kann und will ihr Leben nicht selbst bestimmen und so begibt sie sich immer wieder in die Abhängigkeit anderer. Zunächst in Majas, dann ins Karls. Außerdem flüchtet sie sich in Tagträume. Die Panikattacken in der Nacht scheinen auf ein tiefes Trauma hinzuweisen. Das Mädchen Emma-Lou, welches kaum spricht, scheint in Nora eine Stütze zu suchen. Doch Nora kann diese Stütze nicht sein, da sie selbst kurz vor dem Zusammenbruch steht. Merkwürdig ist hier die Position, die Nora einnimmt. Zum einen scheint sie zu spüren, dass der Mutismus des Mädchens krankhaft ist und empfindet Mitleid mir ihm, doch gleichzeitig ist sie nicht in der Lage ihre Meinung und ihre Gefühle darüber und über ihr eigenes Dasein zu äußern. Die Geschichte treibt vor sich hin. Die Protagonisten strampeln im seichten Gewässer „um zu retten, was schon kaputt schien“ (Seite 81) „und das letzte, was [Nora] wollte, war loslassen“ (Seite 68).
Am Ende der Erzählung werden einige offene Fragen aufgelöst. Was hat es mit Maja und ihrem Tod auf sich? Wer ist der Vater von Emma-Lou? Eigentlich ist der Höhepunkt der Erzählung der Schluss und man fragt sich, ob nach dem ständigen Chaos wirklich so leicht eine heile Welt entstehen kann.

Insgesamt war das Buch für mich eher mittelmäßig und ich konnte mich einfach nicht mitreißen lassen. Für mich ergab das Verhalten der Protagonisten keinen Sinn. Das Thema des mutistischen Kindes ist ein Beiwerk, das meines Erachtens zur Handlung nicht wirklich etwas beitrug. Auch, das Leonie keine Anstalten macht, ihrem Kind zu helfen, wirkt für mich unglaubwürdig. Mein Fazit, kann man lesen, muss man aber nicht. Schade, denn eigentlich ist die Geschichte dahinter wirklich vielversprechend.

Veröffentlicht am 21.09.2016

Der Verfall und die Lichtblicke eines an Demenz erkrankten Menschen

Ein halber Held
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Auf Radio Eins habe ich einen Beitrag zu diesem Buch gehört, in dem auch der Autor Andreas Wenderoth zu Wort kam. Mit viel Humor berichtete er über die Krankheit seines Vaters und weckte somit mein Interesse ...

Auf Radio Eins habe ich einen Beitrag zu diesem Buch gehört, in dem auch der Autor Andreas Wenderoth zu Wort kam. Mit viel Humor berichtete er über die Krankheit seines Vaters und weckte somit mein Interesse an diesem Buch. Denn Demenz ist eine Krankheit, die jeden von uns irgend wann einmal ereilen kann und sie birgt nicht nur das Vergessen der Vergangenheit, sondern auch das Problem sich im Hier und Jetzt des eigenen Lebens zu verlieren.

„Du kannst dich nicht in die Zukunft wenden, wenn du deine Vergangenheit vergessen hast“, hat Umberto Eco mal gesagt. (Seite 47)

Andreas Wenderoth (geboren 1965) studierte in Berlin Politologie und Geographie. Danach arbeitete er als freier Autor für Zeitungen wie GEO und Die Zeit. Außerdem arbeitete er für den WDR und Deutschland-Radio Kultur. Er bekam den Theodor-Wolff-Preis und war für diverse andere Preise (beispielsweise dem Deutschen Reporterpreis) nominiert.

Andreas Wenderoth beschreibt das Leben seines Vaters Host Wenderoth, vom Beginn seiner Krankheit an. Der Vater, der 27 Jahre lang Reporter beim RIAS war, war ein Mann der sich stets über Worte definierte. Doch eines Tages wird klar, er ist krank, die Diagnose: vaskuläre Demenz. Der Vater, der Stück für Stück seine Erinnerung verliert und somit auch sein bisheriges Leben und seine Zukunft, hadert mit seiner Krankheit. Auch die mit betroffenen Verwandten und Pfleger kommen in diesem Buch nicht zu kurz. Was bedeutet es für die Angehörigen, wenn ein Familienmitglied an Demenz erkrankt? Was müssen die Pfleger alles über sich ergehen lassen? Und vor allem, was bedeutet es für den Erkrankten selbst?
Klar ersichtlich ist, dass der Sohn den Verfall seines Vaters mit diesem Buch versucht zu verarbeiten. So kommt es zu mancherlei Wiederholungen, Anekdoten und Auffälligkeiten die dem Autor wohl ständig im Geiste herumspuken. Andreas Wenderoth gelingt es, das Auf und Ab der Krankheit zu beschreiben und so kommen auch die hellen Momente des Vaters, als er die Treppe zur Wohnung seines Sohnes empor steigt oder wie er seine Lage mit Selbstironie bewältigt, zum Ausdruck.

Eine immer wiederkehrende Frage in Bezug auf die Erkrankung und das verhalten erkrankter Personen ist die, ob „sich der wahre Charakter eines Menschen erst in der Krankheit und Not zeigt oder ob erst die Krankheit ebendiesen Charakter verändert“ (Seite 258). Andreas Wenderoth erkennt Anlagen im Charakter seines Vaters, die schon vor der Erkrankung bestimmend waren und nun in Kombination mit der Demenz verstärkt hervor treten.

Der Autor bedient sich einer äußerst bildhaften Sprache: „Mit ausgefransten Hirn sitzt er da und wartet darauf, dass er den Geist aufgibt.“ (S. 281) Mit ernsten Worten aber auch mit dem nötigen Witz, um solch einen Verfall überhaupt mit ansehen und verarbeiten zu können, erzählt Wenderoth über die Demenz seines Vaters und über deren Auswirkungen im Leben aller beteiligten Personen. Das Leben des Vaters wird Stück für Stück zurück gespult.

"Die Kindheit ist das erste Kapitel des Lebens. Und sie wird auch sein letztes sein. In ihr kreuzt sich sein Leben. Auf der sich verkürzenden, rückwärts verlaufenden Lebensskala, liegt der Tod nun immer näher bei der Geburt." (Seite 134)

Der Anfang des Buches war sehr informativ. So erfuhr man einiges zum Thema Demenz und ganz konkret zur vaskulären Demenz, was nichts mit Alzheimer zu tun hat. Die Mitte des Buches war etwas langatmig, was an den wiederkehrenden Anekdoten und anderen Wiederholungen lag. Zum Ende hin fesselte mich dieses Buch aber wieder. Es war ergreifend, mit zu erleben, wie das Alter und die Krankheit einem Menschen und seine Angehörigen hilflos und oft auch ratlos machen. Aber auch wenn der Vater durch die Demenz seine Sprache einbüßen musste, so erfreuten mich einige seiner Überlegungen sehr, denn sie zeigen, dass auch der Mangel der Sprache überbrückt werden kann, wenn man im Bildhaften bleibt:

"du wirst doch in Ruhe nachher mal aufräumen, zunächst mal in deinem Kopf. Das ist das Wichtigste." (Seite 7)

Das erinnerte mich an meinen eigene Großvater, der aufgrund eines Schlaganfalls seine Sprache verlor. Wie er vor einer Attraktion im Freizeitpark stand und sagte „Das würde ich auch mal fahren, wenn ich mir sicher sein könnte, dass dann alles in meinem Kopf wieder richtig gerüttelt werden würde.“ Es zeigt, dass Humor das wichtigste Mittel ist, um mit solchen Schicksalsschlägen fertig zu werden.

Veröffentlicht am 21.09.2016

Wenn Kinder ihre Sprache verlieren

Es wird gut, kleine Maus
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Seitdem meine Tochter in der Kita verstummt ist, habe ich mich verstärkt mit dem Thema Mutismus auseinander gesetzt. Da dieses Thema auch vor dem mutistischen Kind nicht einfach verschwiegen werden darf, ...

Seitdem meine Tochter in der Kita verstummt ist, habe ich mich verstärkt mit dem Thema Mutismus auseinander gesetzt. Da dieses Thema auch vor dem mutistischen Kind nicht einfach verschwiegen werden darf, habe ich auch nach Kinderbüchern mit dem Thema Mutismus gesucht. Dieses schön illustrierte Werk hat meine Schwester durch einen Aushang in der Kita entdeckt und mich darauf aufmerksam gemacht. Es handelt sich um ein sehr schön illustriertes Buch, welches eine bildhafte Sprache hat.

Zunächst einmal ist es aber wichtig, kurz zu erläutern, worum es bei der Erkrankung „Mutismus“ überhaupt geht. Es handelt sich beim Mutismus um eine Kommunikationsstörung. Kinder und auch Erwachsene, die organisch völlig gesund und auch fähig sind, zu sprechen, verstummen in bestimmten Situationen oder in Gegenwart bestimmter Menschen. Man kann zwischen verschiedenen Formen des Mutismus unterscheiden: dem elektiven (oder selektiven) Mutismus, welcher in bestimmten Situationen auftritt, dem totalen Mutismus und dem akinetischen Mutismus, welcher neurologisch bedingt ist.

Das vorliegende Werk Es wird gut kleine Maus behandelt das Thema Mutismus ausgelöst durch eine Verlusterfahrung. Die Problematik wird aus der Sicht eines Kindes beschrieben, welches vor kurzem seine Mutter verloren hat. Das Kind, welches weder Name noch Geschlecht hat, erzählt von seinem Leben ohne Mutter. Es beschreibt, dass der Vater sich auf einmal so anders verhält, dass die eigenen Gedanken durcheinander geraten sind und kein Laut mehr über die Lippen kommt. Erst die kindliche Neugier bringt die Sprache wieder zurück und führt auch Vater und Kind wieder zueinander.

Zunächst einmal kann ich sagen, dass das Buch meiner Tochter gefallen hat. Einige Tage wurde es immer wieder hervor geholt und gelesen. Das Interesse flachte dann aber doch recht schnell ab, was vielleicht an dem geringen Text im Buch lag. Sie ist inzwischen 5 Jahre alt und wir lesen gemeinsam schon eher Kinderromane.
Die Bilder sind wirklich sehr liebevoll und mit Foto-Collagen gestaltet, wirken aber auch etwas düster. Diese Düsternis unterstützt den Hintergrund der Geschichte, nämlich den Tod der Mutter. Zu abstrakt war mir aber die Beschreibung, dass „das Wort mit den drei Buchstaben […] den anderen Wörtern den Weg aus meinem Mund [versperrt]“ (Seite 4). Damit konnte meine Tochter zunächst nichts anfangen. Allerdings ist diese Phänomen, dass etwas den Weg aus dem Mund versperrt, nicht weit her geholt. Eine ähnliche Beschreibung diesbezüglich hatte mir meine Tochter auch geschildert, als ich sie fragte, wieso sie in der Kita nicht sprechen kann.
Aber Kinder, die noch nicht schreiben und lesen können, werden diese Beschreibung des Wortes mit den drei Buchstaben nicht verstehen und somit auch einen wichtigen Teil des Buches vielleicht nicht nachempfinden können.

Warum genau der Vater sich anders als sonst verhält wird leider auch nicht in der Geschichte aufgeklärt. Dass er selbst mit dem Verlust seiner Frau fertig werden muss und deshalb sehr traurig und manchmal auch vergesslich ist. Außerdem wird die Spitzmaus im Text mit einem grauen Kopf beschrieben, in der Foto-Collage ist sie aber blau. Das fiel meiner Tochter auch sofort auf und riss sie leider etwas aus der Geschichte heraus.

"Wir schauen hinauf zu den Sternen und Schweigen." (Seite 34)

Die bunten Bilder, die wie bereits erwähnt auch etwas düsteres an sich haben, werden mit einer reduzierten Sprache verbunden. Es handelt sich also um ein Buch, für welches man sich Zeit nehmen sollte. Mit einem einfachen Vorlesen ist es hier nicht getan. Man muss sich gemeinsam mit dem Kind näher mit der Geschichte auseinandersetzen.
Der Schluss gefiel mir besonders gut. Die Sprache kommt wieder, aber auch Schweigen ist in Ordnung und in gewissen Momenten wichtig und heilend.

Als Elternteil eines mutistischen Kindes muss ich allerdings darauf hinweisen, dass das Buch vielleicht eine zu plötzliche Heilung suggeriert. Dies ist in der Realität leider nicht der Regelfall, denn eigentlich ist es ein langer und schwieriger Weg, oftmals auch mit Rückschritten, den die Eltern mit ihrem Kind gehen müssen, um die Sprache des Kindes wieder zu finden.

"Mir fliegen die Worte aus dem Mund." (Seite 29)

Alles in allem handelt es sich um ein liebevoll gestaltetes Buch für Kinder, die an Mutismus leiden, aber auch für Kinder, die mit dem Thema Mutismus in Kontakt kommen, beispielsweise, weil sie ein betroffenes Kind kennen. Die Geschichte veranschaulicht die Problematik recht gut, hat aber auch ihre Defizite, die durch den vorlesenden Erwachsenen kompensiert werden sollten.

Veröffentlicht am 21.09.2016

Ein wundervolles Buch, welches die Seele berührt.

Bei Kälte ändern die Fische ihre Bahnen
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Ein unvorhersehbares Naturereignis reißt ganz unterschiedliche Menschen aus ihrem Alltag und bringt sie gleichzeitig zueinander und mit sich ins Reine. Pierre Szalowski ist ein wunderschöner Roman gelungen, ...

Ein unvorhersehbares Naturereignis reißt ganz unterschiedliche Menschen aus ihrem Alltag und bringt sie gleichzeitig zueinander und mit sich ins Reine. Pierre Szalowski ist ein wunderschöner Roman gelungen, der einen nicht los lässt, auch wenn man die letzte Seite bereits erreicht hat.

Pierre Szalowski lebt in Montreal. Sein Arbeitsfeld ist vielseitig, so ist er beispielweise Autor, Journalist, Grafiker, Film- und Fernsehproduzent, Software-Entwicklter und Pressefotograf. Bei Kälte ändern die Fische ihre Bahnen ist sein erster Roman. Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Le froid modifie la trajectoire des poissons. 2009 erhielt er dafür den Grand Prix de la Relève littéraire Archambault.

Es ist Weihnachten, ein elf-jähriger Junge erfährt, dass seine Eltern sich trennen werden. Schockiert von diesen Neuigkeiten flieht der Junge in sein Zimmer und bittet den Himmel um Hilfe. Sein Wunsch geht in Erfüllung, durch einen heftigen Eisregen wird ihm sein Vater wieder zurück gebracht. Gleichzeitig gerät aber auch das Leben vieler anderer Menschen in Montreal aus den Fugen.

„Ich schämte mich für das, was ich angerichtet hatte. Wenn es geholfen hätte, mein Problem zu lösen, hätte es mir nichts ausgemacht, aber so… völlig zwecklos.“ (S. 119)

Aber gleichzeitig sorgt jener Eisregen dafür, dass Menschen sich begegnen, die jahrelang Seite an Seite gelebt, sich aber nie richtig wahrgenommen haben: Alex, der rebellierende Nachbarsjunge lebt bei seinem alleinerziehenden Vater Alexis. Dem Vater ist Halt und Perspektive im Leben verloren gegangen. Simon und Michel, ein homosexuelles Paar, die sich vor der Außenwelt verstecken und ein Outing nicht wagen. Julie, eine hübsche Frau, die sich das Glück in einer guten Partnerschaft erhofft, dabei aber nur von den Männern auf ihr Äußeres reduziert wird. Boris der Einzelgänger mit Spleen für Fische. Und dann jener verzweifelte Junge, dessen Eltern sich trennen wollen. Alle finden sie auf Umwegen zueinander.

Ganz verschiedene Erzählstränge verbinden sich zu einer schönen und gelungenen Erzählung, die ans Herz geht. Am Ende bleibt die Frage offen, ob der Eisregen dem Jungen zur Hilfe kam, oder ob alles nur ein glücklicher Zufall war. Wer weiß schon genau, was zwischen Himmel und Erde existiert.

Der Sprachstil ist flüssig und voller schöner Bilder, wie ein unter der Eislast geknickter Baum (S. 132), der die verschiedenen Charaktere mit ihren unterschiedlichen Problemen widerspiegelt.

Seit langem stand dieses Buch in meinem Regal ungelesener Bücher und war zu Unrecht in einer der hinteren Ecke verschwunden. Ich bin sehr froh, diesen kleinen Schatz daraus befreit zu haben. So konnte dieses Buch zu einem meiner Lieblinge werden. Es hat einen Platz in der vorderen Reihe verdient, denn die eigentlich unspektakulären Leben der darin vorkommenen Protagonisten sind zu einem schönen und lesenswerten Ganzen verbunden worden. Es macht einfach Freude die Geschichte, die Pierre Szalowski so leicht und einfühlsam erzählt, miterleben zu dürfen.

Veröffentlicht am 21.09.2016

Ein paar Worte die so schwer über die Lippen gehen

Der Junge in der Nussschale
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Der Junge in der Nussschale behandelt auf kindgerechter Ebene das Thema „Mutismus“. Es zeigt dem Leser, dass man es schaffen kann, seine Ängste zu überwinden und dass es sich lohnt immer wieder einen neuen ...

Der Junge in der Nussschale behandelt auf kindgerechter Ebene das Thema „Mutismus“. Es zeigt dem Leser, dass man es schaffen kann, seine Ängste zu überwinden und dass es sich lohnt immer wieder einen neuen Versuch zu starten, um sein Ziel zu erreichen. Dieses Kinderbuch lebt von seinem umfangreichen Text und den ganz besonderen Illustrationen, die auch von einem Kind hätten stammen können.

Anne Gauß erzählt die Geschichte von Emil, der sein Leben lang in einer Nussschale steckt und dadurch nur schwer mit der Außenwelt in Kontakt treten kann. Doch er findet eine Zauberin, die ihn sanft aber bestimmt auf dem Weg zu einem Leben ohne Nussschale und somit ohne Einschränkungen und ohne Ängste begleitet. Am Ende steht ein starker Junge, der er aus eigenem Antrieb schafft, seine Sprache einzusetzen.

„Er konnte sich doch so schlecht bewegen in seiner Schale. Also blieb er regungslos. Und stumm.“ (Seite 9)

Anne Gauß schafft es in ihrem Vorwort „Ein paar Worte..“ den Eltern mutistischer Kinder Mut zu machen und beschreibt in kurzen aber präzisen Worten das Krankheitsbild und einen möglichen Weg aus der Krankheit heraus. Die Autorin fordert die Eltern auf, sich zu trauen, sich Hilfe zu suchen und gemeinsam mit dem Kind tätig zu werden. Denn ein Leben in Angst ist kein erfülltes Leben.

Die Geschichte des jungen Emil steht dann im Mittelpunkt. Im Vergleich zu meinem zuletzt rezensierten Buch Es wird gut kleine Maus, bekommt der Hauptprotagonist einem Namen und durch die Zeichnungen auch ein Gesicht. Er erhält eine Identität und das Kind kann sich in Emil hinein versetzen. Die Nussschale, in welcher sich der Junge befindet symbolisiert die Eingeschränktheit in Kommunikation und Bewegung und trifft das Problem beim Mutismus so sehr gut. Mutistische Kinder sprechen in gewissen Situationen nicht, sie haben Ängste, die sie nicht immer beschreiben können, die sie aber hindern einfach zu sprechen. Oftmals frieren aufgrund der Unsicherheit dann auch Mimik und Gestik des Kindes ein. Das Kind ist isoliert und verliert den Kontakt zur Außenwelt.
Die betroffenen Kinder wissen selbst nicht, wie sie sich verhalten sollen, was sie tun sollen, um ihre innere Barriere zu überwinden. Und auch der Umwelt fällt es oftmals schwer, darauf zu reagieren.

Anne Gauß lässt eine Zauberin erscheinen. Diese ist eine Person, die Mitgefühlt hat und auf das Kind zugeht. Ihre ruhige und besonnene Art gibt Emil Halt und Sicherheit. Für Emil ist es gut zu erleben, dass er so, wie er im Moment ist, eben mit seiner Nussschale, trotzdem liebenswert ist. Die Zauberin ist vertrauensvoll und nimmt sich Zeit, um Emil auf dem Weg zur Heilung zu begleiten und herauszufordern. Dabei lernt Emil auch den Angsthasi kennen, ein Hase, der einen Knoten in den Ohren hat, weil er so besser mit seiner Angst umgehen kann. Emil lernt, dass er nicht alleine ist und das gibt ihm Kraft, seine Aufgaben zu bewältigen. Die kleinen Erfolgsmomente sind eine wahre Befreiung für Emil und im Lauf der Geschichte ist die Steigerung seiner positiven Gefühle ganz deutlich zu erkennen.

„Das verstand der Junge und fühlte sich sicher.“ (Seite 11)
„Fröhlich rannte er nach Hause.“ (Seite 19)
„Glücklich lief der Junge zurück zur Zauberin.“ (Seite 29)

Im Nachwort macht die Autorin den Eltern nochmals Mut. Ich spreche aus eigener Erfahrung und kann nur betonen, dass nicht nur die Kinder, die von der Krankheit Mutismus betroffen sind, Hilfe brauchen. Auch die Eltern müssen wissen, wie sie in gewissen Situationen reagieren sollten. Manch einer könnte vielleicht der Ansicht sein, dass in der Geschichte Emil zu starkem Druck ausgesetzt ist. Allerdings ist auch zu bedenken, dass ein mutistisches Kind einen gewissen (aber schwachen) Druck braucht, um an seiner Situation etwas ändern zu können.

Dieses Buch ist ein wahrer Schatz für ängstliche, schüchterne und mutistische Kinder, deren Eltern und auch anderen Kindern und Erwachsenen, die mit der Krankheit Mutismus in Kontakt kommen. Meine Tochter hat mit mir das Buch mit großem Interesse gelesen und das Bild mit der Nussschale trifft den Nagel auf den Kopf.