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Veröffentlicht am 02.04.2020

Josef Stalin, Lion Feuchtwanger und Lotte Germaine

Metropol
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Es gibt in Moskau keine Hunde mehr.

Zum Inhalt »Metropol« Eugen Ruge
Eugen Ruge erzählt in »Metropol« einen weiteren Teil der Geschichte seiner Familien. Dieser Teil ergänzt »In Zeiten des abnehmenden ...

oder


Es gibt in Moskau keine Hunde mehr.

Zum Inhalt »Metropol« Eugen Ruge
Eugen Ruge erzählt in »Metropol« einen weiteren Teil der Geschichte seiner Familien. Dieser Teil ergänzt »In Zeiten des abnehmenden Lichts«. Großmutter Charlotte wird zur Protagonistin des Romans.

Zeitgeschehen und Hintergrund
Der Leser wird in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und vor dem Zweiten Weltkrieg entführt. Die Habsburger Monarchie ist gestürzt. Die russische Oktoberrevolution 1917 endete mit der Machtübernahme der linksrevolutionären Bolschewiki. Das Ziel war die Oktoberrevolution auf eine Weltrevolution zu erweitern und die »Diktatur des Proletariats« zu errichten. Dafür wurde die Komintern, als straff organisierte kommunistische Weltpartei gegründet, um die Koordination und Leitung mit dem Ziel »Weltrevolution«, zu übernehmen.

Zu Beginn der 1920er Jahre, nach der Konsolidierung der Sowjetmacht, war die Partei für den Staat und das Ziel Weltrevolution verantwortlich. Das ändert sich wiederum 1924 nach dem Tod Lenins und dem folgenden Machtkampf, den Josef Stalin gewann. Ab 1927 war Stalin der alleine Herrscher. Die Komintern wurde zu seinem persönlichen Instrument und Werkzeug. Er trieb die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft voran und forcierte die Industrialisierung.

Ab 1934 begannen die Moskauer Schauprozesse mit den »Säuberungen«. Seine politischen Gegner, ein Großteil der höheren Parteifunktionäre und Minister wurden in diesen öffentlichen Prozessen, die von der Weltöffentlichkeit als Inszenierung entlarvt wurden, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Jegliche Opposition wurde ausgeschaltet. Der Personenkult um Stalin wurde immer größer.

Auch der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger spielt eine Rolle in »Metropol«. Er war 1937 zwei Monate Ehrengast, Gesprächspartner Stalins und Beobachter im zweiten Moskauer Schauprozess. Während dieser Zeit erschien in der Sowjetunion eine Gesamtausgabe seiner Werke und der Roman »Die Geschwister Oppenheim« wurde verfilmt. Lion Feuchtwanger schrieb darüber das Buch »Moskau 1937«, das er selbst einen »Reisebericht für meine Freunde« nannte.

Lotte und Jean Germaine
Charlotte, die in Deutschland mit Haftbefehl gesucht wurde, gehörte zu den deutschen Kommunisten, die aus Angst vor den Nationalsozialisten nach Russland flohen. Nun in Moskau sind Charlotte und ihr Lebensgefährte Wilhelm für die Komintern tätig. Aus Charlotte und Wilhelm werden Lotte und Hans Germaine.

Stalin weitet seine Macht aus und verfolgt gnadenlos alle Gegner. Lotte und Hans erleben die zweite Säuberungswelle. Mit Schrecken erfahren die beiden, dass einer dieser »Volksfeinde« M. Lurie – Mossej Lurie, der eigentlich Alexander Emel hieß, sein soll.

»Charlotte hört ihr Herz pochen, so laut, dass es Wilhelms Schnarchen ein paar Schläge lang übertönt. Vorbereitung von Anschlägen auf Stalin, Molotov, Woroschilow … Unglaublich, was vor sich geht. Fast spürt sie etwas wie Wut. Wozu die ständigen Parteisäuberungen und Überprügungen?«

Kurze Zeit später werden die Beiden ohne Angabe von Gründen von ihren Aufgaben bei der Komintern freigestellt und im berühmten Moskauer Hotel »Metropol« interniert. Eineinhalb Jahre in einem Hotel fast schon eingeschlossen. Nun gibt es eine Zweiklassengesellschaft im Metropol. Zahlende Gäste und internierte Genossen. In dieser Zeit werden aus Genossen schnell Volksfeinde und von denen wird die Partei gesäubert.

Gegen Ende des Buchs erfährt der Leser, dass Wilhelm und Charlotte denunziert wurden.

Eugen Ruge - Metropol Weltkugel
Der Aufbau »Metropol« Eugen Ruge
Im Prolog bereitet Eugen Ruge den Leser auf die Geschichte von Charlotte vor. Im Epilog erzählt der Autor die Hintergründe und die erstaunliche Entstehungsgeschichte des Buchs.

Der Schriftsteller zeigt das Geschehen aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Der Leser nimmt die Position von Hilde (der ersten Frau Wilhelms), Wassili Wassiljewitsch Ulrich, Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR und Vorsitzender dieser Schauprozesse.

»Das Schlimme ist, dass man nicht weiß, was er denkt. Vermutlich ist das seine Stärke. Lehnt sich zurück, hört zu. Raucht sein Pfeifchen … Das konnten sie alle nicht, Trotzki, Sinojew, Kamenew: schweigen. Mussten immer reden, sich in den Vordergrund spielen. Während Stalin im Hintergrund seine Fäden spinnt.«

Der Schwerpunkt liegt aber auf der Perspektive von Charlotte.

Alle drei haben ihre persönlichen Probleme, aber auch Schwierigkeiten mit dem System und Stalins Säuberungsaktionen.

Im Buch wurden die im Text vorkommenden Briefe als Bild, entweder von Hand, oder mit der Maschine geschrieben, eingefügt. Das gefällt mir gut. Das wirkt sehr authentisch.

Das Ebook ist im Scoobe Katalog enthalten.

"Metropol" Eugen Ruge 1
Das Hörbuch »Metropol« Eugen Ruge

Die ungekürzte Hörbuchfassung »Metropol« wird wirkungsvoll und beeindruckend von Ulrich Noethen und Ulrike Krumbiegel gelesen. Der Audioinhalt hat eine Länge von 12 Stunden und 29 Minuten. Das Hörbuch wurde am 8. Oktober 2019 im Argon Verlag veröffentlicht.

Ich habe »Metropol« mit Audible gehört. Der andere Teil der Geschichte der Familie Ruge trägt den Titel »In Zeiten des abnehmenden Licht«, und ist ungekürzt im Bookbeatkatalog enthalten.

Eugen Ruge

Der Schriftsteller, Dokumentarfilmer und Drehbuchautor Eugen Ruge ist der Sohn von Wolfgang Ruge, der selbst gegen Mitte und Ende der 1930er Jahre in Moskau Geschichte studierte und den selbst Stalins Terror erlebte, bis er wegen seiner deutschen Herkunft nach Kasachstan deportiert wurde und ein Jahr später als Zwangsarbeiter in ein Straflager des Gulags in den Nordural verschickt wurde. Erst 1956 gelang Wolfgang Ruge mit Frau und Sohn, die Ausreise in die DDR und er wurde einer der bekanntesten Historiker, der sich intensiv mit dem Aufstieg des Faschismus beschäftigte.

1988 siedelte Eugen Ruge in die Bundesrepublik über. 2011 veröffentlichte er seinen mit dem deutschen Buchpreis gekrönten Debütroman »In Zeiten des abnehmenden Lichts«. Darin trägt der Historiker Kurt Umnitzer die Züge von Wolfgang Ruge.

Kritik »Metropol« Eugen Ruge

»Grand Hotel Abgrund« von Stuart Jeffries war das letzte Buch, das ich rezensierte. Es ist ein Buch über die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Die Frankfurter Schule beschäftigt sich mit den Theorien des Marxismus. Deswegen war es für mich unheimlich interessant, ein Buch über die praktische Umsetzung dieser Theorien zu lesen. Wie lebt man in einem Staat, der von einem machthungrigen Faschisten regiert wird. Eugen Ruge hat vor Ort recherchiert. Er hat sich intensiv mit der Geschichte seiner Großmutter beschäftigt. Eine Großmutter, deren Geheimnis er erst langsam entblättert.

Der Autor gibt einfühlsam die Resignation, Angst und Handlungsstarre der Beteiligten wieder. Hotelgäste in einem Grand Hotel, die in Schockstarre auf ihre Abholung, Verhandlung und im schlimmsten Fall sogar Hinrichtung warteten. Keiner kann dem Anderen trauen.

»Metropol« von Eugen Ruge ist ein Buch, das aufhorchen lässt. Ein Buch, das den Leser daran erinnert, wie wichtig es ist, unsere Demokratie zu stärken und gegen jeglichen Faschismus, unabhängig davon in welchem Kleid dieser erscheint, Links oder Rechts, zu schützen.

Ich wusste nicht viel über diese Zeit und habe beim Lesen viel über den Zeitgeist und der Ära des Marxismus unter Stalin erfahren, das mich ermunterte, ein wenig weiter über diese Zeit zu recherchieren.. Eugen Ruge hat einen Roman geschrieben, der sich nicht nur mit den historischen Daten dieser Zeit beschäftigt, sondern auch mit dem Elend der Menschen.

Ich kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen.

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Veröffentlicht am 01.04.2020

Spannender Kurzkrimi

Zur Sache, Mädels
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„Zur Sache Mädels“ Ina Kloppmann (Rezension)
»Zur Sache Mädels« ist der zweite Teil der »Short Storys to go«-Reihe für zwischendurch & unterwegs. Ina Kloppmann hat mit diesen kurzen Romanen bzw. Texten ...

„Zur Sache Mädels“ Ina Kloppmann (Rezension)
»Zur Sache Mädels« ist der zweite Teil der »Short Storys to go«-Reihe für zwischendurch & unterwegs. Ina Kloppmann hat mit diesen kurzen Romanen bzw. Texten oder Kurzgeschichten eine kleine Buchgattung gewählt, die in kurzer Zeit gelesen werden kann, aber trotzdem spannend und in sich geschlossen ist. Ein prima Büchlein für einen Arztbesuch, oder sonstigen Beschäftigungen, bei denen Warten angesagt ist. Lesen ist immer gut.

In »Befreit«, dem ersten Teil der Reihe, zeigt die Autorin, wie Linda alle Anzeichen verdrängt und ihren Traum von der großen Liebe unbedingt aufrecht erhalten will, solange bis sie in Lebensgefahr gerät. Ina Kloppmann hat in diesem Kurzkrimi wieder einmal ein brisantes Thema aufgegriffen.

Nun in »Zur Sache Mädels« geht es um eine Frau, die aufgrund ihrer Lebensweise mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Ina Kloppmann geht auf Tabuthemen ein. Es geht um physische und psychische Gewalt. In »Befreit« und »Hassliebe« geht es um Frauen, die den falschen Mann lieben und dadurch zum Opfer werden. Auch den Kampf mit Vorurteilen, hat Ina Kloppmann schon in »Anders« beleuchtet.

Wir kennen alle diese Missstände und kennen jemand, der wiederum jemanden kennt, der damit zu kämpfen hat oder hatte.

Zum Inhalt »Zur Sache Mädels«

»Zur Sache Mädels« ist ein gesellschaftskritischer Krimi, eine kleine Liebesgeschichte und eine Botschaft der Autorin. Suzan, die Mutter einer erwachsenen Tochter, die noch zuhause lebt, bessert sich ihr Gehalt der Anwaltskanzlei mit der Organisation von Toy-Partys.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Suzan lernt Gregor auf Aufsehen erregende Weise kennen. Aber die Verbindung der beiden wird weggewaschen. Zur gleichen Zeit erlebt Suzan die negativen Seiten des Internets und einiger Menschen.

Ja! Der Umgang mit den sozialen Medien ist nicht immer einfach. Wie reagiert man auf verbale Angriffe? Was unternimmt man, wenn das Mobbing nicht aufhört? Wie viel Informationen gibt man über sich an die Öffentlichkeit?

Ina Kloppmann unterhält den Leser auf 75 Seiten mit Humor, Spannung und den Schwächen der Gesellschaft.

Fazit »Zur Sache Mädels«

Die Reihe der Short Storys gefällt mir sehr gut. Ich habe immer etwas zum Lesen dabei. Dank E-Books ist das ja kein Problem. Die Geschichte kann man in einer Stunde lesen. Ich mag es, wenn Geschichten abgeschlossen werden. Gerade beim Arzt, Friseur oder sonstigen »Warteorten«.

Die zugrunde liegende Story »Problem Mobbing« ist ein aktuelles Problem. Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen.

Ich finde es immer wieder gut, wenn auf die Tücken der sozialen Medien hingewiesen wird und vor Vorurteilen gewarnt wird.

Das Buch hat mich gut unterhalten und nachdenken lassen. Vielen Dank!

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Veröffentlicht am 09.03.2020

Von Walter Benjamin bis zu Jürgen Habermas

Grand Hotel Abgrund
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Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries (Rezension)
Inhalt
Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries (Rezension)
Von Walter Benjamin bis zu Jürgen Habermas
Der Titel „Grand Hotel Abgrund“
Inhalt „Grand ...

Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries (Rezension)
Inhalt
Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries (Rezension)
Von Walter Benjamin bis zu Jürgen Habermas
Der Titel „Grand Hotel Abgrund“
Inhalt „Grand Hotel Abgrund“
Der Aufbau „Grand Hotel Abgrund“
Die Entstehungsgeschichte „Grand Hotel Abgrund“
„Die Dialektik der Aufklärung„
Die Kritische Theorie „Grand Hotel Abgrund“
Kritik „Grand Hotel Abgrund“
Weitere Rezensionen
Bibliografie
Von Walter Benjamin bis zu Jürgen Habermas
„Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?“ „Grand Hotel Abgrund.“ S. 9.

Mit diesem Zitat von Theodor Wiesengrund Adorno lässt Stuart Jeffries sein Buch „Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit“ beginnen.

Der Titel „Grand Hotel Abgrund“
Die führenden Köpfe des Frankfurter Instituts, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Friedrich Pollock, Franz Neumann und Jürgen Habermas waren Theoretiker, die in erster Linie den Faschismus kritisierten, aber nicht der „elften These über Feuerbach“ von Karl Marx folgten.

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Ebenda, S. 9.

Der Titel stammt ursprünglich von Georg Lukács, der den Mitgliedern der Frankfurter Schule vorwarf, dass diese in einem schönen Hotel, das „mit allem Komfort ausgestattet“ – am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Absurdität, dem „Grand Hotel Abgrund“ residierten, dessen früherer Bewohner schon Arthur Schopenhauer war.

1969 kamen die Anführer der Studentenbewegung Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit. Sie wollten die kritische Theorie in die Praxis überführen. Der daraus abgeleitete Aufruf überstieg bei weitem die Grenzen zivilen Ungehorsams. Es war ein gewaltsam-autoritärer Aufruf zum Handeln – befreiende Aktionen. Jürgen Habermas wählte dafür die Bezeichnung „linker Faschismus“. Später zog er den Ausdruck zurück.

Lediglich Herbert Marcuse sympathisierte mit politisch militanten Aktionen und nahm in San Diego selbst an entsprechenden Aktivitäten teil.

Stewart Jeffries wagt die Vermutung, dass Walter Benjamin, der als Impulsgeber der Frankfurter Schule gilt, wenn er sich nicht in Paris 1940 das Leben genommen, sondern die Studentenbewegung noch erlebt hätte, auf Seiten, der auf die Barrikaden steigenden Studenten gewesen wäre.

Inhalt „Grand Hotel Abgrund“
Stuart Jeffries erzählt die Gründungsgeschichte des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“, der Menschen dahinter und die Geschichte des Gebäudes. Die Protagonisten sind Walter Benjamin, Theodor Wiesengrund Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas. Gleichzeitig lässt er den Leser an deren Leben teilhaben. Walter Benjamin, seine Flucht nach Paris und sein Tod aus verzweifelnder Angst sind genauso Teil der Geschichte, wie das Leben und Wirken der Philosophen im Exil der USA. Habermas und Horkheimer kehrten Anfang der 1950er Jahre wieder nach Deutschland zurück, während Fromm und Marcuse in den USA blieben.

Der Aufbau „Grand Hotel Abgrund“
Stuart Jeffries „Grand Hotel Abgrund“ hat sieben Teile, die zeitlich bis auf den ersten Teil 1900-1920, in Dekaden angeordnet sind.

Der Autor benennt chronologisch die Ziele der Frankfurter Schule, die Grenzen des Positivismus, des Dialektischen Materialismus und der Phänomenologie, mithilfe der kritischen Philosophie Kants, Hegels Dialektik und Marxscher Schriften zu überwinden.

Die Entstehungsgeschichte „Grand Hotel Abgrund“
Der erste Forschungsschwerpunkt war die Untersuchung sozialer Phänomene. „Studien über Autorität und Familie“ und „Die autoritäre Persönlichkeit“.

Der zweite Forschungsschwerpunkt war die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Marxismus selbst. Daraus folgte das Konzept der kritischen Theorie, die Jürgen Habermas in den 1960er Jahren auf eine neue Stufe stellte.

Die Frankfurter Schule erstellt eine kritische Gesellschaftsanalyse, die den Zusammenhang zwischen subjektiver Vernunft und kapitalistischer Gesellschaftsordnung beleuchtet.

Die wichtigste Frage überhaupt war wohl, warum das Denken der Aufklärung, in die Barbarei des Nationalsozialismus umschlagen konnte.

Das Institut arbeitete interdisziplinär mit Psychoanalyse (Erich Fromm), Philosophie (Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno), Kulturtheorie (Walter Benjamin) und Soziologie (Leo Löwenthal) in Frankfurt und während der NS-Zeit im amerikanischen Exil an einer umfassenden Gesellschaftskritik.

„Die Dialektik der Aufklärung„
Das Hauptwerk „Die Dialektik der Aufklärung“ entstand in den 1940er-Jahren im Exil. Die Aufklärung endete in neuer Unterwerfung und Abhängigkeit, das wird auf die Vorherrschaft eines Vernunftideals zurückgeführt, dessen Ziel vollständige technische Naturbeherrschung, auch der menschlichen Natur (Bedürfnisse, Leidenschaften) war, das den Menschen überrollte. Adorno und Horkheimer zeigen ihre Theorien anhand Homers „Odyssee“.

Die Kritische Theorie „Grand Hotel Abgrund“
In der kritischen Theorie fließen die Denkrichtungen von Karl Marx – Kritik der politischen Ökonomie und der Psychoanalyse von Sigmund Freud zusammen, weshalb sie auch als Freudo-Marxismus bezeichnet wird.

Die religionsphilosophische These: Gott ist eine falsche Hypothese, Theologie ist sinnlos. Für Horkheimer und Habermas steht fest, dass Gott durch Geschichte, moderne Naturwissenschaften (Evolutionismus, Darwinismus und dogmatischen Marxismus widerlegt. Das Christentum sei eine Lüge.

Die Epoche des metaphysischen Denkens ist vergangen. Gott ist in der kritischen Theorie nur ein Phantasieprodukt der Menschen. Die „Moderne“ als Epoche des Massen-Atheismus. „Gott ist tot.“ Die Wiederbelebung des Nietschezianischen Atheismus.

Schon Jean Paul Sartre, Albert Camus und der christliche Schriftsteller Fjodor Dostojewski thematisieren die daraus folgenden Probleme, wie dass der absolute Bezugspunkt, die höchste Instanz fehlt, in ihren Schriften Gottes Tod. Warum sollen wir gut sein? Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt.

Ideologie ist eine der Grundlagen sozialer Strukturen.

Grand Hotel Abgrund Stuart Jeffries
Kritik „Grand Hotel Abgrund“
„Doch sind die Texte aus dem Kreis der Frankfurter Schule nutzbringend auch für uns, die wir gegenwärtig in einer anderen Art von Dunkel leben. Wir leben nicht in einer Hölle, die von den Denkern der Frankfurter Schule geschaffen wurde – vielmehr in einer Hölle, die sie uns helfen kann zu verstehen. Es ist also ein guter Zeitpunkt, ihre Flaschenpost zu öffnen.“
Ebenda. S. 21.

Mit diesen Worten endet das Vorwort und beginnt meine Kritik. Es könnte keinen besseren Zeitpunkt geben, die Flaschenpost zu öffnen. Unsere politische Lage ist schwierig und wir sollten uns wieder auf unsere Vernunft und unsere Werte besinnen und nicht vergessen, dass die Freiheit unser höchstes Gut ist.

Stuart Jeffries „Grand Hotel Abgrund“ liest sich genauso spannend wie ein Roman. Er stellt die Fakten dar und lässt seine Protagonisten Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Erich Fromm zum Leben erwachen und ihre Thesen erläutern.

Ich hatte mich mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Aufklärungsbegriff aus der „Phänomenologie des Geistes. Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben“ beschäftigt. Aber während Hegel das Problem dialektisch auflöst, erklärt Adorno in „Die Dialektik der Aufklärung“, dieselbe für gescheitert.

Kann man das Projekt „Aufklärung“ überhaupt jemals als beendet betrachten oder sollten wir den Weg zur „Aufklärung“ besser als einen Habitus ansehen, den wir jeden Tag einüben müssen? Gerade in unserer Zeit

Dieser Artikel ist lediglich eine laienhafte Darstellung der Frankfurter Schule und ihrer Philosophie. Zugrunde gelegt war „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries. Nicht berücksichtigt wurde Jürgen Habermas Richtungswechsel zur Sprachphilosophie, die negative Kritik und „Die Befreiung der Sexualität“ und weitere. Auch diese Themen werden in vorliegendem Buch beleuchtet.

„Grand Hotel Abgrund“ gefällt mir sehr. Das liegt mit daran, dass ich vor einigen Monaten „Zeit der Zauberer“ von Wolfram Eilenberger gelesen und rezensiert habe, das die Zeit der 1920er-Jahre und Walter Benjamin, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Ernst Cassirer beleuchtet. Sozusagen war „Grand Hotel Abgrund“ nur ein Schritt weiter im philosophischen Weltgeschehen.

Vielleicht konnte ich im Sinne der Aufklärung – engl. Enlightment, ein wenig Licht ins Thema bringen und zum kritischen Lesen und Denken ermuntern.

„Sapere Aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
Immanuel Kant.

Dieses Buch ist ein kleines Mosaikstück auf dem Weg der Aufklärung, das ich wärmstens empfehle.

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Veröffentlicht am 10.02.2020

Mischung aus Krimi, Thriller oder Space Opera

Exodus 2727 - Die letzte Arche
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Sciencefiction, Kriminalroman, SpaceOpera oder Thriller?
Zum Inhalt von: „Exodus 2727 – Die letzte Arche“ von Thariot
„Exodus 2727“ von Thariot wirft den/die Leserin gleich mitten ins Geschehen und lässt ...

Sciencefiction, Kriminalroman, SpaceOpera oder Thriller?
Zum Inhalt von: „Exodus 2727 – Die letzte Arche“ von Thariot
„Exodus 2727“ von Thariot wirft den/die Leserin gleich mitten ins Geschehen und lässt keine Zeit zum Atem holen. Er/sie gerät sogleich in eine Intrige, einen Verrat, und ein spannendes Kampfszenario. In dem neuen Buch von Thariot ist nichts so, wie es scheint.

Die USS London wird mit 490 Besatzungsmitgliedern und 3 Millionen Embryos auf eine Expedition zu einem fernen Planeten geschickt, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Das Ziel ist 49 Lichtjahre entfernt. Die Reise dauert über 100 Jahre.

Durch einige Vorkommnisse wird die vierzigjährige Ärztin Jazmin Harper, die Nr. 3 in der Rangliste, zur Nr. 1 des Raumschiffs und die KI, namens „Mutter“, überträgt ihr die Kommandogewalt.

Schon nach kurzer Zeit geschehen mysteriöse Dinge auf dem Schiff, für die es keine vernünftige Erklärung gibt.

Worum geht es in „Exodus 2727 – Die letzte Arche“ von Thariot?
Was sind die Risiken einer Reise, bei der die Mannschaft Jahre oder sogar Jahrzehnte auf einem Raumschiff „gefangen“ ist?

Wie moralisch muss oder darf Wissenschaft sein?

Ist Künstliche Intelligenz oder artificialis Intelligence für die Menschheit ein Fluch oder ein Segen?

Wie humanoid dürfen Roboter sein? Was sind die Risiken, wenn man Androiden nicht mehr von Menschen unterscheiden kann?

Ist es, vertretbar Menschen zu züchten, zu klonen?

Wie man sieht, hat Thariot einige Zukunftsvisionen eingebaut, die große Risiken bergen?

Sprachlicher Aufbau „Exodus 2727 – Die letzte Arche“ von Thariot
Das Geschehen wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Im Fokus des Haupthandlungsstrangs steht das Geschehen auf der USS London, meistens aus Jazmin Harpers Sicht.

Der zweite Handlungsstrang wird aus der Sicht ihres Bruders, Atticus Finch Harper, erzählt. Dabei erfahren wir viel über den Vater Duncan Harper, dem Entwickler des Raumschiffs, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz,

Der Autor erinnert den/die Leser
in geschickt an bekannte und beliebte Scifi-Serien. Wir begegnen zwei Drohnen, die den Namen R2 und D2 tragen.

Auch an einen berühmten amerikanischen Klassiker erinnert er uns. Wer kennt nicht „Wer die Nachtigall stört?“ (Originaltitel „Killing a Mocking Bird“)? Der Protagonist Atticus Finch gab seinen Namen an Jazmine Harpers Bruder weiter und offenbart, damit sofort den Charakter des Corps, ohne es viel beschreiben zu müssen, das übernimmt der Leser selbst.

Das Hörbuch „Exodus 2727 – Die letzte Arche“ von Thariot
Das Hörbuch wird von Mark Bremer gesprochen und hat eine Hördauer 12 Stunden und 47 Minuten. Das ungekürzte Hörbuch ist im Bookbeat Katalog enthalten.

Meine Kritik zu „Exodus 2727 – Die letzte Arche“ von Thariot
Der Roman ist eine Mischung aus Raumschiff Enterprise (Star Treck), Star Wars und ein wenig Blade Runner.

Ein Raumschiff mit Crew verirrt sich in der „Unendlichen Weite des Weltalls“. Die Crew kämpft gegen die Außenwelt. Die Crew kämpft gegen den „Lagerkoller“. Immer mal wieder wird ein Verräter entlarvt. Die einzelnen Protagonisten werden manchmal von der eigenen Vergangenheit eingeholt.

Der Autor spielt mit dem/der Leser
in und wirft ihm Segmente oder Namen aus Filmen, Serien und Literatur zu, dadurch fühlt sich der/die Leserin schnell im Weltenbau und der Geschichte wohl. Es vermittelt das Gefühl von „Nachhause kommen“.

Auch „Wer die Nachtigall stört“, ein gesellschaftskritischer Roman (Rassismus), der oftmals im Fach Englisch zum Lehrplan gehört, wird von Thariot, als Spiegel benutzt.

An der Figur Atticus Finch Harper lässt sich das gut erklären: Atticus Finch Harper in „Exodus 2727“ erhält nicht nur den Namen der Hauptfigur, sondern noch dazu den Nachnamen der Schriftstellerin. Der/die Leser
in, der „Wer die Nachtigall stört“ kennt, weist dem Charakter aus dem Thariot Roman nach wenigen Worten, die Eigenschaften des Originalcharakters zu. Thariot liefert dazu noch ein paar rassistische Dialoge zwischen einem Verräter und Jazmin Harper. Und schon hat Thariot den/die Leserinin sozusagen mit der nötigen Atmosphäre ausgestattet.

Aber Vorsicht vor Stereotypen! Es ist wichtig, dass Thariot für die Figur Atticus persönliche Züge entwickelt, die sich eindeutig von Harpers Originalfigur unterscheiden. Im vorliegenden Roman spielt Atticus die Rolle, eines unbestechlichen Aufklärers, der die versteckte Wahrheit offenlegt. Im weitesten Sinne ein Whistleblower.

Der Roman ist gut konstruiert und am Schluss wird alles, was nicht passt, passend gemacht durch den Auftritt von Damon Harper (Deus ex machina). Der Schöpfer erklärt sein Werk als Halo Figur !

Wie gefällt mir der Roman? Das ist gar nicht so einfach.
Der Roman hat mich sofort für sich eingenommen. Die Idee mit Atticus Finch Harper fand ich genial. Sicherlich spricht es dafür, dass Thariot ein Fan der Figur und/oder der Autorin ist.

Aber er ist halt konstruiert, aber auf geniale Weise. Er gefällt mir mit einigen Abzügen ganz gut. Er ist absolut spannend und voll mit Action! Es ist wie bei einer Schnitzeljagd, du hangelst dich von Entdeckung zum nächster Rätsel, um auch diese zu entschlüsseln, Die Lösung birgt oft weitere Rätsel. Man hat kaum ruhigere Sequenzen. Ich hatte den Roman in 2-3 Tagen gelesen.

Wenn die Figur des Atticus Finch Harper nicht aufgetreten wäre, hätte sich am Haupthandlungsstrang nichts geändert. Ist es überflüssig? Aber vielleicht hast du eine andere Meinung, dann würde ich mich sehr über einen Kommentar freuen.

Viel Spaß beim Lesen! Für jeden Scifi Liebhaberin, dem/der Raumschiffabenteuer mit Crew gefallen. Thariot zeigt uns eine intelligente Zukunft mit winzigen Fehlern im Detail.

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Veröffentlicht am 31.01.2020

Literarisches Action Painting

Canto
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„Canto“ von Paul Nizon (Rezension)
Inhalt
„Canto“ von Paul Nizon (Rezension)
„Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“
Wer ist Paul Nizon?
Zum Inhalt „Canto“ von Paul Nizon
Worum geht es dann?
Die sprachliche ...

„Canto“ von Paul Nizon (Rezension)
Inhalt
„Canto“ von Paul Nizon (Rezension)
„Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“
Wer ist Paul Nizon?
Zum Inhalt „Canto“ von Paul Nizon
Worum geht es dann?
Die sprachliche Gewalt in „Canto“ von Paul Nizon – oder Literarisches Action Painting
Warum bezeichnet sich Paul Nizon in „Canto“ als „Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“?
„Canto“ – Warum dieser Titel?
Kritik „Canto“ von Paul Nizon
Bei der Recherche zu „Canto“ stieß ich auf das Buch „Die Republik Nizon“
Video mit Paul Nizon „Schreiben ist Leben“, Neue Zürcher Zeitung
Weitere Rezensionen und Links zum Buch
„Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“
Suhrkamp veröffentlicht 56 Jahre nach der Erstausgabe eine Neuausgabe von „Canto“, anlässlich des 90. Geburtstages von Paul Nizon. Dieses Werk steht schon lange auf meiner Leseliste.

Ich hörte schon einiges über „Canto“, wusste nichts Konkretes, aber dieser Kommentar auf Seiten des Verlags,

„Paul Nizon nennt für sich zwei Geburtsdaten: das Jahr, in dem er in Bern zur Welt gekommen ist, und das Jahr, in dem er sich mit dem Canto selber zur Welt gebracht habe. 1929 und 1963.“
Auszug aus: Nizon, Paul. „Canto.“

hat mich neugierig gemacht. Warum hat es dem Autor dieses Gefühl gegeben? Und ich begann zu lesen.

Schon nach wenigen Seiten geriet ich in einen Strudel der Emotionen und konnte nicht glauben, dass dieses Werk tatsächlich Anfang der sechziger Jahre entstanden ist.

„Canto“ verstehe ich als Teil von Paul Nizon. „Canto“ kommt man nur dann nahe, wenn man sich auch mit seinem Autor beschäftigt.

Also beginnen wir erst einmal mit Paul Nizon.

Wer ist Paul Nizon?
1959 veröffentlicht der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon bei Scherz in Bern seinen Erstling, den Prosaband, „Die gleitenden Plätze“. Einige Persönlichkeiten des Literaturbetriebs, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Carl Seelig und weitere, werden auf ihn aufmerksam. Er wird mit einem Stipendium des Schweizer Instituts nach Rom eingeladen.

Diese „römischen“ Erlebnisse verändern sein Leben. Er kehrt zurück in die Schweiz, wird leitender Kunstkritiker bei der Neuen Zürcher Zeitung. Aber er kann die Enge des Berufs- und Ehelebens nicht dauerhaft ertragen. Seine Frau verlässt ihn, er kündigt bei der Neuen Zürcher Zeitung und schreibt „Canto“ – über sein römisches Jahr. 1962 gibt er das Manuskript dieser Auftragsarbeit bei Suhrkamp ab. Siegfried Unseld (Verleger / Suhrkamp) hält ihn für ein Genie.

Doch entgegen der Voraussage bleibt Paul Nizon in Deutschland ein Geheimtipp. Die Franzosen lieben ihn.

Zu einer ausführlicheren Zeittafel über Paul Nizons Vita verweise ich auf die Suhrkamp Verlagsseite.

Jan Küveler („Welt“ Feuilleton) schrieb über ihn:

„Es wäre ein Irrtum, Nizon für eitel zu halten. Nizon pflegt stattdessen ein erotisches Verhältnis zum eigenen ich, eins von der unstillbaren Art, er spürt in sich hinein, tastet sich ab und wird mit der Skulptur doch nie fertig.“

Zum Inhalt „Canto“ von Paul Nizon
Dieser Prosaband erzählt das Jahr in Rom, das Paul Nizon so beeindruckte. Es ist keine Geschichte, es hat keinen Plot – und doch bin ich beim Lesen unglaublich nah beim Autor. Ich glaubte, selbst zu spüren, was Paul Nizon beschreibt.

Worum geht es dann?
Es geht um Paul Nizon. Er durchlebt Rom, mit allen seinen Sinnen. Es ist ein manisches Aufsaugen sämtlicher Gefühlswallungen und Empfindungen, erzeugt von einer sich immer schneller drehender Helix mit Namen Paul Nizon. Wirklich außergewöhnlich dabei ist, dass er den Leser nicht nur beim Lesen auf diese Reise mitnimmt, sondern auch beim Fühlen. Man könnte versucht sein zu sagen, die Spiegelneuronen springen umgehend auf Paul Nizons Worte an und lassen dich die Emotionen umgehend spüren.

„Den wir als Ich leben ließen, den lassen wir laufen, uns zu suchen. Zusammenzusuchen aus den Plätzen für Lebensminuten, den Minutenplätzchen in Rom. Der ist Stipendiat in Rom. Der liegt auf dem Bauch unter dem Baum mit dem Ding. Der möchte hinaus aus dem Bann, der ihn auf Bauch warf und hinein in das Ding. Das hier Rom heißt.“
Auszug aus: Nizon, Paul. „Canto.“

Der Autor schlendert durch Rom. Wie ein Minnesänger betet er die Geliebte an. Wer aber ist die Geliebte? Die Stadt Rom? Oder sind es die (geliebten) Gefühle, Empfindungen, Reize und Begegnungen, ihm die diese Stadt beschert?

Die sprachliche Gewalt in „Canto“ von Paul Nizon – oder Literarisches Action Painting

Paul Nizon spricht eine bildgewaltige Sprache. Er bereichert und formt die Sprache in einer Art Rausch zu überwältigenden Bildern, denen man nicht fliehen kann.

Dieser Text ist für jeden Sprachwissenschaftler ein Füllhorn an literarischen Stilmitteln. Der Autor erzählt uns von „zirpender Milch“ und „fauchender Maschine“. Und er beschreibt Rom, wie er die Stadt empfindet. Er erzählt auch von Frauen, Huren, Gabriella.

„Lacht. Mit Schluchzern in der Stimme. Über sich, über Mauro, über die Rosen, über dies verrückte, heiße, schöne Tier Rom, dessen Glieder von dunkel gekleideten Menschen wimmeln, dessen Kadaver von losgelassenen Wagen juckt, dessen Leib dampft, kocht, blendet. Und sie muß nun wirklich zurück. Um die Koffer zu holen. Mit dem Rosenstrauß in durchsichtigem Zellophan. Wie eine Gefeierte. Allein nach dem Applaus.“
Auszug aus: Nizon, Paul. „Canto.“


Warum bezeichnet sich Paul Nizon in „Canto“ als „Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“?
Er selbst sagt, es sei „ein vorübergehendes Amt ehrenhalber“. Der Hurenhirt „kennt die Stunden des Schichtwechsels“. Er kennt die Mädchen und sieht keine Huren, sondern Frauen, Menschen.

Ja, wie man sehen kann, ist der Text so aussagekräftig, dass ich eigentlich gar nicht zum Ende kommen kann. Ich höre jetzt damit auf und sage nur noch: „Canto“ ist der erste Teil der siebenbändigen Ausgabe der „Gesammelten Werke“.

„Ich klammerte mich an fühlbare, greifbare Dinge, weil ich durch mein Fehlen von Handlung und Einfall nichts anderes besaß. Ich hatte nicht den geringsten Plan, und ich ersetzte diesen Mangel durch eine mu-sikalische Struktur, die an eine Sonate in drei Sätzen denken läßt.“
Auszug aus „Die Republik Nizon“

„Canto“ – Warum dieser Titel?
Der Titel bedeutet: Ich singe. Was hat das mit dem Inhalt zu tun? Es ist mir unbegreiflich, dass es kein Hörbuch zu „Canto“ gibt. Wenn man den Text laut liest, hört man, dass sich der Text in eine Art Ballade verwandelt. Aus dem rein visuellen Text, wird eine hörbare Botschaft. Ich stelle es mir als Hörbuch, gelesen von einem Sprecher, wie z. B. Burghart Klaußner, großartig vor.

Kritik „Canto“ von Paul Nizon
Eine Buchbewertung finde ich immer schwierig. Habe ich wirklich alle Fakten objektiv gesehen und bewerte ich angemessen? Aber dieses Buch ist so außergewöhnlich, dass man es nur lieben oder schrecklich finden kann. Ich liebe es, wenn ein Autor mit der Sprache spielt. Ich liebe es, wenn der Autor mit Worten malt, und sich vor meinem inneren Auge, andere nennen es Kopfkino, ein Film entwickelt, der einzigartig ist. Aber hier entwickelt sich noch dazu eine Filmmusik! Also halten wir fest: Es ist ein einzigartiges Buch. Paul Nizon steht in dem Ruf, ein Egomane, ein Erotomane zu sein, der sich um die „Nizon-Republik“ dreht.

Ich würde es ein klein wenig anders sehen. Paul Nizon liebt die Abgründe und Höhen, die Gefühle, Begegnungen, das Leben überhaupt und vor allem, wie der „Mensch Paul Nizon“, darauf reagiert, und das möchte Paul Nizon „in einer Sonate ähnliche Struktur“ dem Leser darreichen. Und er liebt die Freiheit, die für ihn über Allem steht.

Du, als Leser, musst entscheiden, ob du dieser Form eine Chance geben möchtest. Ich empfehle es, du triffst einen sehr offenen empathischen Autor, dem es sehr wichtig erscheint, im Hier und Jetzt des Augenblicks zu leben und alles aus diesem Wimpernschlag herauszusaugen und für die Ewigkeit festzuhalten und zu verschriften.

Ein Leseerlebnis, der etwas anderen Art, eine Lautmalerei der Gefühle.


Bei der Recherche zu „Canto“ stieß ich auf das Buch „Die Republik Nizon“
Eine Biographie in Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière.“, zur Hilfe. In diesem Buch spricht Paul Nizon selbst über seine Bücher. Das Buch ist im Haymon Verlag erschienen.

Ein herzliches Dankeschön geht an den Suhrkamp Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.

Canto Paul Niizon Cover
Canto Paul Nizon
Erschienen: 11.11.2019
Leinen, 254 Seiten
ISBN: 978-3-518-42904-4
Auch als ebook erhältlich
Video mit Paul Nizon „Schreiben ist Leben“, Neue Zürcher Zeitung

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