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Veröffentlicht am 27.03.2023

Die Sprache ist reine Poesie

Der Inselmann
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Was für eine Sprache! Dieser recht schmale Roman erzählt so vieles. Über Einsamkeit, Sprachlosigkeit, dysfunktionale Familien und eigene Stärke. All dies mit einem melancholischen Grundton in ...

Was für eine Sprache! Dieser recht schmale Roman erzählt so vieles. Über Einsamkeit, Sprachlosigkeit, dysfunktionale Familien und eigene Stärke. All dies mit einem melancholischen Grundton in einer beeindruckenden, poetischen Sprache. Protagonist ist Hans, den wir im Grunde genommen fast sein ganzes Leben begleiten. Als Zehnjähriger zieht er mit seinen Eltern auf eine Insel in einem See. Für die Eltern ist es wohl eher eine Flucht, nach Innen statt nach Außen. Denn es ist Anfang der 60er in der DDR. Dies wird aber nur mittels einiger weniger Andeutungen klar. Hans fühlt sich sofort wohl auf der Insel, er ist ein stiller Junge, der die Natur liebt und im Hund des vorherigen Bewohners einen neuen Freund findet. Seinen einzigen Freund aus Kindertagen musste er in der Stadt zurücklassen. Ansonsten trauert er der Stadt und der Schule jedoch nicht nach, Hans ist eher Mobbing Opfer als ein Star. Aber er ist gut im Ertragen. Er erträgt, dass er seine Eltern mehr liebt als diese ihn, er erträgt die Sprachlosigkeit in der Familie und die Einsamkeit auf der Insel. Doch als die Schulaufsicht kommt und Hans nun jeden Tag eine Stunde über den See rudern muss, um zur Schule zu gehen, wird sich Hans irgendwann verweigern - was dramatische Folgen haben wird. Aber auch das wird Hans ertragen. Denn sein Ziel bleibt: Er will auf die Insel zurück!

Dem Autor Dirk Gieselmann ist mit "Der Inselmann" ein fulminanter Debutroman gelungen. Sprachlich ausgefeilt und inhaltlich wunderbar und zunehmend schwebend zwischen den Zeiten und zwischen Erinnerung, Traum, Wunsch und Realität. Nicht alles ist klar definiert und Sozialkritik ist (wenn überhaupt) nur unterschwellig zu spüren. Erzählt wird ein einsames Leben eines stillen und wortkargen (aber nicht sprachlosen) Menschen, der mit großer innerer Stärke ein alles andere als einfaches Schicksal lebt. Ein wenig hat es mich an "Ein ganzes Leben" von Robert Seethaler erinnert.

Ich habe es sehr genossen, das Buch zu lesen. Trotz der relativ wenigen Seiten habe ich oft innegehalten, um den Text wirken zu lassen.
Ich hatte das große Glück, den Autor im Rahmen des "Leseclubfestivals" in Köln persönlich kennenzulernen und dort mit anderen Leser:innen über den Roman zu sprechen. Daher weiß ich jetzt, dass der Autor gerne viele weiße Seiten eingefügt hätte, um zum Pausieren und Nachfühlen einzuladen. Und, warum das Buch der Inselmann heißt - und wie der Autor die Sprache entwickelt hat. Es war eine sehr interessante Diskussion. Auch dafür ganz großen Dank an alle, die mitdiskutiert haben.
Und eine große Empfehlung für dieses sehr besondere Buch.

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Veröffentlicht am 21.03.2023

Über die Münchner Schickeria - Und über Freundschaft

Roxy
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In den 80er Jahren war München "The Place to be". Coole Bars & Diskotheken, jede Menge Promis und die legendäre Schickeria. Damals war München "in", denn Berlin war noch geteilt und schwer zu ...

In den 80er Jahren war München "The Place to be". Coole Bars & Diskotheken, jede Menge Promis und die legendäre Schickeria. Damals war München "in", denn Berlin war noch geteilt und schwer zu erreichen, Hamburg kühl & edel und Köln fing gerade erst an, interessant zu werden. In den 80ern war ich oft in München, weil mein damaliger Freund dort studierte und so als Mädchen vom Lande haben mich damals die Lässigkeit und das Flair beeindruckt. Und die vielen tollen Bars. Auch wenn ich kaum in den sogenannten "In" Läden, wie dem Titelgebenden Roxy war.
Das ist bei Marc, dem Protagonisten dieses Romans anders. Obwohl er eher aus der Mittelschicht (Vater mittlerer Beamter beim BND, Mutter Lehrerin) und aus einem Neubaugebiet am Rand der Stadt stammt. Er bekommt durch seinen Freund Robert, genannt Roy, Zugang zu Glanz & Glamour. Denn Roys Vater hat Geld ohne Ende. So gibt es für die Jungs auch mal Urlaub auf einer Yacht im Mittelmeer oder in der Familienvilla in Saint Tropez. Und abends öffnen sich in München die Tore zum Roxy, vorbei am Spalier derjenigen, die nicht reinkommen und nicht dazu gehören.
Nach dem Abitur gehen die Freunde dann zunehmend getrennte Wege. Marc wird Schauspieler und Roy? Der muss kein Geld verdienen, sein Vater hat genug. Und seine Ambitionen und beruflichen Versuche sind nicht gerade erfolgreich....Und stirbt Roy mit Ende vierzig und Marc fährt zur Beerdigung. Während der langen Autofahrt lässt er die alten Zeiten und die Freundschaft zu Roy Revue passieren. .....
Im Gegensatz zu Titel und Klappentext ist dieser Debütroman weniger ein Buch über die Münchner Schickeria als vielmehr eine eingehende Betrachtung der Themen Freundschaft und Entscheidungen. Warum wählen wir welche Freunde? Was beeinflusst unsere Entscheidungen? Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn wir andere Wege eingeschlagen hätten? Haben wir zu oft gezögert und so Chancen verpasst?

Mir haben die Gedanken im Roman zu diesen Themen gefallen. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, weil es vor allem ein ziemlich typischer Coming-of-Age Roman ist, der (neben allen schwierigeren Themen) auch diese besondere Zeit im Leben, in der noch alles möglich erscheint, lebendig werden lässt. Besonders die Passagen, die auf der Yacht, in Barcelona und in Saint Tropez spielen, waren für mich aufgrund der abrupten Wechsel zwischen Glamour, heruntergekommenen Vierteln in Barcelona und der Einsamkeit der Jungs in der großen Villa sehr eindringlich.

Als Schauspieler fand ich die Rollen, die Johann von Bülow spielt, bisher weniger interessant. Als Autor hat er mich positiv überrascht.

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Veröffentlicht am 27.02.2023

Was für ein warmherziger und sprachlich herausragender Roman

Sibir
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Sibir (russisch) Sibirien (deutsch). So werden vereinfachend alle Gebiete hinter dem Ural bezeichnet. Dorthin wird Josef Ambacher 1945 von der Sowjetarmee mit seiner Familie verschleppt. Als ...

Sibir (russisch) Sibirien (deutsch). So werden vereinfachend alle Gebiete hinter dem Ural bezeichnet. Dorthin wird Josef Ambacher 1945 von der Sowjetarmee mit seiner Familie verschleppt. Als sie in der weiten Steppe von Kasachstan ankommen, haben es viele nicht geschafft. Aber Josef wird überleben und irgendwann nach West-Deutschland ausreisen können. Und fortan mit den Dschinn der Steppe kämpfen. Seine Tochter Leila wird in Friedenszeiten und relativem Wohlstand in der Lüneburger Heide aufwachsen. Doch auch sie wird geprägt von den Erinnerungen der Familie und vom Gefühl des "Nicht-Dazu-Gehörens".

" (...) einen Zusammenhang herzustellen (...) all jener, die mit uns am Stadtrand wohnten. Der Begriff RAND kennzeichnete gut unsere Gemeinschaft (...) ich und die anderen Kinder aus unserer Siedlung saßen nie, nie in der Mitte der Klasse, sondern stets an der Seite, ein wenig abgerückt (...). Instinktiv spürten wir, dass unsere Eltern von denjenigen in der Mitte der Gesellschaft kritisch beäugt wurden, belächelt oder schlicht nicht beachtet" (S.15f)

Eine neue Dynamik erhält dieses Gefühl 1990, als nach dem Fall der Mauer neue Aussiedler ankommen und der Vater sich erneut mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht, die er eigentlich verdrängen und vergessen wollte.

Eigentlich spielt der Roman abwechselnd in den Jahren 1945 und 1990 und erzählt die Geschichte des Vaters und seiner Tochter abwechselnd. Durch geschickt eingestreute Anmerkungen werden aber auch Zusammenhänge dargestellt und die gesamte Geschichte deutlich und verständlich. Und wenn auch viele Geschehnisse tragisch sind, so durchzieht das Buch doch eine große Wärme und Menschlichkeit und eine große Liebe zu den Menschen, die von historischen Ereignissen durch die Welt gewirbelt werden und alle ihre Kraft aufbringen müssen, um zu überleben. Das geht nicht ohne Wunden ab. Die Autorin ist mir schon mit ihrem ersten Roman "Katzenberge" positiv aufgefallen, dort erzählt sie ebenfalls eine Familiengeschichte von Flucht und Vertreibung, von ewiger Heimatlosigkeit, Entwurzelung und dem Gefühl eines ständigen Provisoriums. Diese Geschichte geht in die gleiche Richtung und ist ebenfalls von der eigenen Familiengeschichte der Autorin inspiriert.
Beeindruckend ist die herausragende, bildhafte und gut verständliche Sprache des Romans, die eine einzigartige Stimmung mit sich bringt. Voller Ruhe und Wärme, trotz aller schlimmen Ereignisse. Denn immer wieder gibt es einen Sonnenstrahl im Elend, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Die Lektüre tut daher irgendwie gut. Zusätzlich werden wichtige historische Ereignisse erzählt, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Daher: Eine ganz große Lesempfehlung!

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Veröffentlicht am 05.01.2023

Ein kleines Eifeldorf im Verlauf der Zeitgeschichte

Ginsterhöhe
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Wollseifen, ein kleines Dorf in der Nordeifel auf der Dreiborner Höhe. Das Klima ist rau, die Böden sind karg und trotzdem hängen die Dorfbewohner an ihrer Heimat und versuchen, ihr Leben so ...

Wollseifen, ein kleines Dorf in der Nordeifel auf der Dreiborner Höhe. Das Klima ist rau, die Böden sind karg und trotzdem hängen die Dorfbewohner an ihrer Heimat und versuchen, ihr Leben so gut und anständig zu leben wie möglich.
Albert ist einer der Bauern des Dorfes und kehrt mit einer schweren Gesichtsverletzung aus dem 1. Weltkrieg zurück. Seine junge Frau wendet sich entsetzt von ihm ab. Aber sein kleiner Sohn fasst Zutrauen und bei Leni, der Witwe seines gefallenen Kameraden, findet er Verständnis. Bald wird sich Albert mit den Verhältnissen arrangieren, seinen Hof erfolgreich vergrößern und wieder seinen Platz im Dorf finden. Aber es ziehen erste Schatten auf, die Nationalsozialisten haben auch in diesem kleinen Dorf ihre Statthalter und Leni wird vom führenden Dorf-Nazi der Hof gemacht. Und dann gibt es Gerüchte, dass ganz in der Nähe mit Burg Vogelsang ein wichtiges Schulungslager der NSDAP errichtet werden soll....
Wir verfolgen die Geschichte dieses Dorfes und seiner Bewohner in diesem Roman vom Ende des 1. Weltkriegs bis zur Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Die große Politik macht auch vor den kleinsten Dörfern nicht halt, obwohl die Menschen dort nur in Ruhe ihr Leben leben möchten. Das wird in diesem Buch eindrucksvoll dargestellt. Erzählt wird realistisch, beschreibend und eher nüchtern. Die große Spannung und große Emotionen fehlen in sprachlicher Hinsicht in diesem Roman (obwohl es reichlich Tragik gibt). Deshalb hat es das Buch nicht ganz in die Liste meiner absoluten Lieblingsbücher geschafft. ich bin selbst in der Nordeifel aufgewachsen und mich hat die Geschichte alleine deshalb sehr interessiert. Aber für mich hätten es etwas mehr Emotionen und etwas mehr "Show and don´t tell" sein dürfen, um das Ganze zu einem literarischen Erlebnis zu machen. Andererseits: Die Nordeifler sind so. Ziemlich wortkarg manchmal (außer beim Feiern) und über Probleme denkt man am besten gar nicht erst nach (darüber reden schon mal gar nicht) man kann eh nichts ändern. Das Leben in der Eifel war schon immer hart und hat die Menschen geprägt. Daher passt der Erzählstil irgendwie doch.
Das weitere Buch "Perlenbach" der Autorin (auf das es hier im Roman leichte Hinweise gab) werde ich also auch lesen.

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Veröffentlicht am 22.12.2022

Sprachlich hervorragender Roman über die Kraft von Literatur und Kultur

Unsre verschwundenen Herzen
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Der Roman "Our Missing Hearts" (Originaltitel) spielt in einer (beängstigend) nahen Zukunft in den USA. Nach einer schweren Wirtschaftskrise hat man Asien und vor allem China als Schuldigen dafür ausgemacht ...

Der Roman "Our Missing Hearts" (Originaltitel) spielt in einer (beängstigend) nahen Zukunft in den USA. Nach einer schweren Wirtschaftskrise hat man Asien und vor allem China als Schuldigen dafür ausgemacht und eine Unterdrückungsmethode namens PACT entwickelt, die vor allem den asiatisch-stämmigen Amerikanern das Leben schwer macht. Man soll sich jetzt auf die alten amerikanischen Werte besinnen, patriotisch sein und schädliche Elemente meiden und melden. Davon ist auch der 12 jährige Bird betroffen, dessen Mutter chinesisch-stämmige Amerikanerin war und vor Jahren aus seinem Leben verschwunden ist. Sein Vater hat seinen Job als Dozent in Harvard verloren, arbeitet jetzt als Hilfskraft in der Bibliothek und lebt mit seinem Sohn in zwei Zimmern im Studentenwohnheim. Das Leben ist karg und die Devise ist: Nicht auffallen. Denn oft werden Kinder von nicht-systemkonformen Eltern aus den Familien genommen. Dies erfährt Bird über seine Schulfreundin Sadie, die in einer Pflegefamilie lebt aber unbedingt zu ihren Eltern zurück will. Als dann noch ein Brief mit Zeichnungen bei Bird ankommt, beschließt er, auf die Suche nach seiner Mutter zu gehen.....und erfährt so, warum und wie ein Gedicht seiner Mutter mit dem Titel "Our Missing Hearts" zum Symbol für den Widerstand werden konnte.

Dieser Roman ist keine leichte Kost. Sehr anspruchsvoll, sowohl vom Thema also auch von der Sprache her. Wobei das Buch sich gut lesen lässt. Wenn man zwischendurch nicht einfach aufhören muss, weil alles zu beängstigend realistisch und nah erscheint. Wenn man die Situation in den USA, die Präsidentschaft von Trump, den Handelskrieg mit China und die Entwicklungen in Deutschland mit Reichsbürgern, Querdenkern usw. betrachtet, dann sind wir ganz ganz nah dran an einer solchen Situation.

Zum Glück gibt es im Buch auch Lichtblicke. Denn es gibt Widerstand und Hilfen für die verlorenen Kinder. Organisiert auch und vor allem durch Bibliotheken, Künstler und Kulturschaffende. Damit eröffnet die Autorin (leicht) positive Ausblicke und Hoffnungen.

Dies war auch das Resümee am Ende einer Veranstaltung im Literaturhaus Köln, als ich die Autorin live erleben durfte. Widerstand und Menschlichkeit kommen oft aus der Kultur. Kann uns das Hoffnung geben? Ich hoffe es sehr.

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