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Veröffentlicht am 02.10.2022

Beziehungen

Gott schütze dieses Haus
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Verlassen haben mich die so durch und durch britisch anmutenden Kriminalromane um die beiden Protagonisten Thomas Lynley und Barbara Havers, geschrieben von der waschechten, in Ohio geborenen und im so ...

Verlassen haben mich die so durch und durch britisch anmutenden Kriminalromane um die beiden Protagonisten Thomas Lynley und Barbara Havers, geschrieben von der waschechten, in Ohio geborenen und im so unbritischen Kalifornien aufgewachsenen Amerikanerin Elizabeth George in den vergangenen 33 Jahren nie. Von Zeit zu Zeit brachte sie einen weiteren Lynley/Havers-Band auf den Markt, in den ersten Jahren voller Spannung erwartet – aber irgendwann wurde George eher eine mir selbst auferlegte Pflichtlektüre, gelesen mehr aus Treue zu den beiden Protagonisten und als Tribut an die ungewöhnlichen, tiefschürfenden, immer spannenden, oft erschütternden, hervorragend aufgebauten und gekonnt erzählten Geschichten, mit denen mich die ersten acht Bände immer wieder aufs Neue zu begeistern wussten. Nun, die Krimis wurden mit der Zeit schwächer, leider auch wesentlich umfangreicher, dadurch geschwätziger, auf jeden Fall langatmig bis schließlich regelrecht langweilig. Das freilich geschieht nicht selten, wenn man eine erfolgreich begonnene Buchreihe endlos in die Länge zieht, anstatt sie auf dem Höhepunkt auslaufen zu lassen!
Nachdem der bislang letzte, bereits der 21. Band der Serie, für mich eine einzige ärgerliche Enttäuschung war, ist es nun an der Zeit, Lynley und Havers in Frieden ziehen zu lassen, was immer auch die Autorin ihnen noch zugedacht hat – und stattdessen, schon um der langjährigen Freundschaft willen, die mich mit dem ungleichen Detektivgespann verbindet, die frühen Kriminalromane der Elizabeth George wiederzulesen, unbedingt aber diejenigen, die mich noch über die Maßen fesselten, beginnend mit dem allerersten (wiewohl man mit Band 4 feststellen wird, dass er eigentlich der zweite Band ist), nunmehr hier zu besprechenden Buch, „A Great Deliverance“ (deutscher Titel „Gott schütze dieses Haus“), der mich beim erneuten Lesen nicht weniger gefangennahm, nicht weniger beeindruckte, als damals, 1989.
Ja, den einen oder anderen Kritikpunkt gibt es wohl, ein antiquiertes Setting selbstredend, ein Hintergrund, den man heute so nicht mehr in Romane einbauen würde - was aber nicht ins Gewicht fällt, denn in sein Erscheinungsjahr passt dies allemal! Aber auch gewisse Längen waren nicht zu übersehen, unnötige Detailverliebtheit, die freilich in den späteren Bänden viel prononcierter sind, und mir wahrscheinlich nur deshalb auch hier in diesem so starken Roman aufgefallen sind. Dem Gesamtbild tun sie jedoch noch keinen Abbruch. Genauso wenig wie ad absurdum getriebene Stereotypen, wenn es um zwei unausstehliche und völlig überflüssige, außer einer einzigen Aussage, die auch von anderer Seite hätte kommen können, nichts zur Fortführung der Handlung beitragende amerikanische Nebenfiguren geht, über die ich letztlich hinwegsehen kann, denn die hervorragenden Charakterisierungen der Hauptfiguren wie auch der meisten Nebenpersonen, ihr Verhältnis zueinander, ihre Entwicklung und Verflechtung untereinander und mit dem gar grausigen Mordfallall, der im Mittelpunkt der Handlung steht, lassen alle kleineren Makel in den Hintergrund treten. Vielschichtig sind sie, alles andere als eindimensional – und auch wenn der adlige Scotland Yard-Inspector Thomas Lynley ein so tadelloser wie typischer britischer Gentleman ist, so ist er, von seinen inneren Dämonen geplagt, die sich dem Leser langsam offenbaren, alles andere als der vom Leben verwöhnte, der strahlende und siegreiche Held, als den ihn die ihm zur Seite gestellte ruppige und verbitterte, wegen ihrer Unfähigkeit und ihres Unwillens zur Zusammenarbeit mit ihren Kollegen zum Streifendienst degradierte Barbara Havers gerne sehen und gerade deshalb verachten möchte.
Die sperrige Kollegin mit dem massiven Minderwertigkeitskomplex und einem Bündel familiärer Sorgen, das sie um jeden Preis unter Verschluss halten möchte, wird im Laufe der schwierigen Ermittlungen, die sie mit dem 8. Earl of Asherton, alias Thomas – Tommy – Lynley, im ländlichen Yorkshire anzustellen gezwungen ist, eines Besseren belehrt werden, zu ihrer größten Verwirrung den unbändigen Hass auf ihn und alles, was er verkörpert, nicht aufrechterhalten können, je näher sie den sehr menschlichen, mitfühlenden und verständnisvollen Inspektor kennenlernt. Und was sie selbst betrifft, so wird auch der Blick des Lesers auf sie am Ende nicht mehr der sein, den er vielleicht am Anfang gehabt hatte!
Ja, um Beziehungen vor allem geht es in „A Great Deliverance“, mehr als in jedem anderen der Folgebände, um die Beziehung zwischen den beiden Polizisten, privaten, von leidenschaftlichen wie schmerzvollen Gefühlen geprägten Beziehungen des Inspektors zu seinen Freunden Simon St. James, dessen Frau Deborah und der bezaubernden Lady Helen, mit denen ihn eine tiefe, durchaus schuldbehaftete und spannungsreiche Freundschaft verbindet und die auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden in dem von Elizabeth George ersonnenen Universum. Von den nur langsam sichtbar werdenden Beziehungen der Bewohner des kleinen Ortes Keldale in den Yorkshire Moors, in dem sich das zunächst so eindeutig erscheinende, aber je tiefer Lynley und Havers bohren, immer mehr Fragen aufwerfende Verbrechen ereignet hat, erfährt der Leser, Beziehungen, deren Bande Lügen, Geheimnisse und Versagen sind. Schließlich aber geht es, auf schreckliche Weise, um die Beziehung zwischen dem enthaupteten Opfer William Teys und seiner Tochter, der unförmigen, von allen bemitleideten, aber schmählich, schamvoll und feige von allen im Stich und mit ihren Nöten völlig allein gelassenen Roberta, die sich zu dem Mord an ihrem allseits geachteten Vater bekennt und danach in undurchdringliches Schweigen verfällt, bis gegen Ende der Geschichte und dann in einer unvergesslichen, intensiven, den Leser bis ins Mark erschütternden Szene die Mauern einstürzen und nur Ruinen und verbrannte Erde zurücklassen. Sich allmählich enthüllende düstere, gar finstere und unbedingt erschröckliche Familiengeheimnisse decken weitere unerwartete Beziehungen auf, die den Leser entsetzt innehalten lassen und bei dem einen oder anderen die Frage aufkommen lassen mögen, ob gewisse Morde oder Tötungen wirklich strafrechtlich geahndet werden sollten...
Doch genug an dieser Stelle! Wer einen wirklich guten, klug und anspruchsvoll geschriebenen Kriminalroman, dem ich unbedingt das Attribut „literarisch“ zueignen möchte, zu schätzen weiß, wird mit Elizabeth Georges preisgekröntem Erstlingswerk auf seine Kosten kommen. Garantiert!

Veröffentlicht am 01.09.2022

Rajas steiniger Weg zurück ins Leben

Der Weg aus der Finsternis
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Bereits im Klappentext des Einführungsbandes der inzwischen vollendeten siebenbändigen Kashmir-Saga, „Das Haus des Friedens“ für den Simone Dorra verantwortlich zeichnet, erfährt man, dass es hier um die ...

Bereits im Klappentext des Einführungsbandes der inzwischen vollendeten siebenbändigen Kashmir-Saga, „Das Haus des Friedens“ für den Simone Dorra verantwortlich zeichnet, erfährt man, dass es hier um die Geschichte zweier Familien in Kashmir und Indien geht, die einander über einen Zeitraum von vierzig Jahren „in Freundschaft eng verbunden“ sind. Spielt der erste Band nahezu vollständig in dem landschaftlich grandiosen, jedoch von politischen Unruhen stark beeinträchtigten Tal im Norden des indischen Subkontinents, in dem man die dort beheimateten Protagonisten, Vikram Sandeep, seine spätere Frau Sameera und das von Vikram gegründete Waisenhaus mit seinen jungen Bewohnern, kennenlernt, so werden nun, im zweiten Band, die indischen Handlungsträger, Raja Sharma und seine zunehmend wachsende Familie eingeführt.
Die „zweite Hälfte“ des Autorinnengespanns, Ingrid Zellner, bezeichnet ihr Buch, „Der Weg aus der Finsternis“, gar als „Ausreißerband“ - und in gewisser Weise ist es das auch, gab es die Geschichte Rajas doch bereits, bevor sich die beiden Autorinnen zusammentaten, um eben jenes Epos zu schreiben, das mich, die ich es inzwischen zur Gänze kenne, so vollkommen wie unerwartet in seinen Bann gezogen hat, von Band zu Band mehr, und das für mich so perfekt und berührend, in den buntesten Farben schillernd, voller wunderbarer, zu Herzen gehender Szenen und grandioser Vorstellungskraft ist, dass es Seinesgleichen sucht!
Der „Ausreißerband“ steht seinem Vorgänger in nichts nach; er ist nicht nur ebenso gut und souverän erzählt, sondern er hat darüber hinaus all das, was letzteren auszeichnet; er erzählt eine mitreißende Geschichte, ist voller Zauber und Romantik, gleichzeitig voller Dramatik und Spannung – und er ermöglicht es dem Leser, den „anderen“ Helden, eben jenen Raja aus Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra, genauso gut kennenzulernen, wie einst Vikram im so wunderschönen wie gefahrvollen Kashmir. Er bringt die beiden kraftvollen, unvergesslichen Protagonisten zusammen – und genau jenes Zusammentreffen bildet die Rahmenhandlung der hier zu besprechenden Geschichte, die immer wieder eingeblendet und mit der Haupthandlung verflochten wird.
Rajas Geschichte! Ja, aber gleichzeitig lesen wir hier die Geschichte seiner Familie, die er nach 25 Jahren Gefängnisaufenthalt wieder trifft. Davon und von noch Vielem mehr erzählt Raja Vikram im Schein des Lagerfeuers im Garten des Dar-as-Salam, des Waisenhauses, in der Nähe von Srinagar, nachdem beide durch Zufall die Bekanntschaft des jeweils anderen gemacht haben, eines Zufalls, der, man wird das in den weiteren Bänden lesen, zum Schicksal der Familien Sandeep und Sharma und noch einer ganzen Anzahl weiterer Mitwirkender werden wird!
Ein Fremder bietet dem nach einer Reifenpanne ein wenig ratlosen, recht ungehaltenen Ex-Agenten Sandeep Hilfe an – und die Kinder, die er gerade von der Schule abgeholt hatte, sind sofort begeistert und bestehen darauf, den Fremden in ihr Heim, das Haus des Friedens, einzuladen. Ungewöhnlich ist das insofern, als es sich bei Vikrams und Sameeras Ziehkindern ausnahmslos um schwer traumatisierte Waisen oder Halbwaisen handelt, die sich somit eher scheu und abwartend verhalten. Nicht so Raja gegenüber, denn um diesen handelt es sich bei dem hilfreichen Fremden natürlich, Raja, der einen Freund nach Kashmir begleitet hatte und bereits am nächsten Tag wieder abreisen würde! Trotz großer Skepsis gibt der äußerst misstrauische ehemalige Agent der indischen Abwehr dem Drängen seiner Zöglinge nach – und erfährt in einer denkwürdigen, weichenstellenden Nacht die Geschichte des freundlichen Mannes mit dem sanften Gemüt, der er zunächst vorsichtig und eher abwehrend, dann aber mit wachsendem Interesse, Betroffenheit und größter Faszination lauscht. Dass am Ende dieser langen Nacht aus den beiden Fremden Freunde geworden sind, Freunde für ein ganzes Leben, verwundert den Leser kaum, denn so unterschiedlich die Männer auch zu sein scheinen, in ihren wesentlichen Charaktereigenschaften stimmen sie überein, wie man im Laufe der Geschichte bereits mehr als nur erahnen kann und in jedem einzelnen Band, der folgen wird, bestätigt findet.
Die Geschichte, die Raja erzählt, die er Vikram, der Zufallsbekanntschaft anvertraut, lässt niemanden kalt, nicht den mit allen Wassern gewaschenen, mit der dunklen Seite des Lebens nur allzu vertrauten ehemaligen Elite-Soldaten, der so viel gutzumachen hat, und schon gar nicht den Leser. Wir erleben mit, wie ein nach 25 Jahren Haft in die Freiheit entlassener, verzagter und hoffnungsloser Raja die ersten zögerlichen Schritte zurück ins Leben macht, und wir leiden mit ihm unter der Ablehnung, gar des Hasses, der ihm von seiner Familie entgegengebracht wird, als er sich den Seinen zu nähern versucht. Nicht viel ist von dem ehemaligen Heißsporn, dem lebenslustigen und sorglosen jungen Mann übriggeblieben, der er war, bevor er in die Fänge einer Justiz geriet, die einen das Schaudern lehren kann, und bestraft wurde für eine Tat, an die er sich zwar nicht erinnern kann, die er aber angesichts vermeintlich drückender Beweise eingestanden hat, von der er aber sehr bald, durch einen der vielen Zufälle, glückliche wie unglückliche, die Rajas Geschichte durchziehen, entdeckt, dass er sie nie begangen hatte. Sich zu rehabilitieren – vor der Familie und der Welt – scheint recht aussichtslos. Doch Raja gibt nicht auf. Gegen alle Widerstände und sämtliche üblen Machenschaften seitens seiner rachsüchtigen, vor rein gar nichts zurückschreckenden Antagonisten und dank seiner ihm innewohnenden Kraft und der Willensstärke, die eine seiner vielen außergewöhnlichen Charaktereigenschaften ist, und mit Unterstützung vor allem seines ihm ergebenen Freundes Vishal gewinnt er Stück für Stück zurück, was ihm genommen wurde. Doch die vielen Jahre, die man ihm gestohlen hat, verlorene Jahre, wie man geneigt ist zu sagen, kann niemand ungeschehen machen.
Doch halt! Verloren waren diese Jahre, von deren Schrecken man während der Lektüre eine ziemlich genaue Vorstellung bekommt, ohne dass die Autorin allzu sehr ins Detail geht, nicht! Erlittener Schmerz, tiefes Leid, ausweglose Verzweiflung haben Raja verwundet an Leib und Seele, haben ihm Narben zugefügt, die ein Leben lang bleiben. Doch sie haben ihn weder gebrochen noch verrohen lassen. Vielmehr haben sie ihn zu dem Menschen gemacht, der uns in der Kashmir-Saga begegnet: voller Güte und Freundlichkeit, Sanftmut, Mitgefühl und großem Einfühlungsvermögen. Und so passt das Zitat von Khalil Gibran, das Ingrid Zellner ihrem Roman voranstellt, geradezu perfekt, scheint es doch genau unseren Helden zu meinen: „Das größte Leid bringt die stärksten Seelen hervor; die stärksten Charaktere sind mit Narben übersät“.
Bliebe noch anzumerken, dass Ingrid Zellner nicht nur eine zu Herzen gehende Geschichte geschrieben hat, in der sie mit Bravour alle gefährlichen Klippen umschifft, die bei einer solchen Erzählung unweigerlich auftauchen müssen, denn wenn Liebe und viel Gefühl im Spiel sind, kann man leicht Gefahr laufen, ins Sentimentale und damit unerträglich Unglaubwürdige abzurutschen. Nicht unsere Autorin freilich (und genauso wenig ihre Co-Autorin!). Ja, ihr Roman ist voller Gefühl, aber gleichzeitig eben auch voller Zartheit, Echtheit, Authentizität. Das schließt jegliche Seichtheit aus! Sie erzählt gleichzeitig auch eine Geschichte, die zu ihrem Hintergrund passt, dem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, um genau zu sein, vor dem sie sich entfaltet und dessen Kenntnis wichtig ist für Verständnis und Würdigung der Handlung. Ingrid Zellner versäumt es nicht, immer wieder diesbezügliche Informationen einzustreuen, fast unauffällig, also genau so, wie es für einen Roman wünschenswert ist. Man erfährt auf diese Weise eine Menge über das Land, seine Sitten und Gepflogenheiten, viel Fremdartiges, Erschreckendes, Archaisches, sehr Gegensätzliches, vieles, das einem nicht gefallen kann, das zwiespältige Gefühle aufkommen lässt. Doch wo Licht ist, ist natürlich auch Schatten – und manchmal sogar, wundersamerweise, überstrahlt ein einziges Licht auch die allertiefsten, allerdunkelsten Schatten. Raja ist so ein Licht, ist ganz gewiss das hellste Licht der gesamten Kashmir-Saga, die an Lichtern, an Leuchtpunkten, an strahlenden Charakteren nicht arm ist....

Veröffentlicht am 29.08.2022

Hoffnung, Mut und Zuversicht, was auch immer kommen mag

Der Strom des Lebens
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Seit ein paar Jahren begleitet mich die Kashmir-Saga nun bereits. Der erste Band, „Das Haus des Friedens“, hat mich seinerzeit bewegt, wie nur wirklich gute und mitreißende Bücher es vermögen. Die so sympathischen, ...

Seit ein paar Jahren begleitet mich die Kashmir-Saga nun bereits. Der erste Band, „Das Haus des Friedens“, hat mich seinerzeit bewegt, wie nur wirklich gute und mitreißende Bücher es vermögen. Die so sympathischen, wie auch facettenreichen Protagonisten ins Herz zu schließen, war leicht, ihrem Werdegang und ihren Schicksalen zu folgen immer wieder ein emotionales Abenteuer. Nie war es einfach, sich nach Beendigung der sechs Vorgängerbänden von ihnen und dem wunderschönen, vom Unheil verfolgten Kashmir-Tal an den Ausläufern des Himalaya, seit Jahrzehnten Spielball politischer Interessen unterschiedlicher Staaten, in dem die Saga, nehmen wir einmal den zweiten Band aus, zum Großteil angesiedelt ist, zu trennen. Doch der nächste Band würde ja folgen...
„Der Strom des Lebens“ nun bedeutet den endgültigen Abschied, bedeutet das Ende einer so bunten wie gefahrvollen und oft genug aufwühlenden, den Atem stocken lassenden, immer tief berührenden Geschichte, in der man sich verlieren, die einen alles um sich herum vergessen machen kann, denn zu ihr in Distanz zu treten ist kaum möglich. Die beiden Autorinnen, Simone Dorra und Ingrid Zellner, erzählen ihre Saga unglaublich gut, lebendig, schlüssig, stets nachvollziehbar, voller berauschender Phantasie - und ganz offensichtlich mit großer Lust am Fabulieren. Und dies durchgängig! Eine Buchreihe, die keine Schwächen aufweist und genau aus dem Stoff gemacht ist, aus dem die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht oder das unvergessliche Epos „Palast der Winde“ oder sogar, um auf einen anderen Kontinent überzuwechseln, „Vom Winde verweht“ und die „Louisiana-Trilogie“ gewebt sind – exotisch, abenteuerlich, gefährlich, tragisch-traurig, dabei heiter, romantisch und zum Weinen schön!
Im Abschlussband der Kashmir-Saga, der bereits in der Zukunft spielt, über die man freilich nur spekulieren kann, die aber meines Erachtens und in Kenntnis der eigentlich seit Jahren unverändert angespannten bis geradezu dramatischen Situation in dem Land zwischen den Mächten – die übrigens immer wieder auch in den sieben Bänden der Saga thematisiert wird - durchaus realistisch erscheint, begegnen die Hauptfiguren, Vikram und Sameera Sandeep und Raja Sharma, dem Leser in nunmehr fortgeschrittenem Alter, doch unverändert idealistisch, tatkräftig und trotz der Prüfungen, die sie die Autorinnen haben erleiden und, mit unübersehbaren Blessuren an Körper und Seele, bestehen lassen, keinesfalls gebrochen, nicht wirklich müde geworden und nach wie vor voller Hoffnung, was ihr Herzensprojekt, das Waisenhaus Dar-as-Salam, dem seine schwersten Zeiten noch bevorstehen sollen, zum einen und die Zukunft ihrer so gefährdeten Heimat, immer wieder bedroht von Anschlägen fanatischer Fundamentalisten oder schlichtweg Terroristen, anbelangt.
Was sich am Ende des direkten Vorgängerbandes, „Flug mit dem Wind“, bereits abzeichnete, die Übergabe des Waisenhauses in jüngere Hände, ist im hier zu besprechenden letzten Band bereits vollzogen: Eines der von Vikram ins Dar-as-Salam geholten und von ihm und seiner Frau Sameera voller Liebe, Verständnis und Toleranz aufgezogenen Waisenkinder erweist sich als der beste Nachfolger, den Vikram sich nur wünschen konnte. Sein Lebenswerk ist in guten Händen – und eigentlich könnte er sich nun zurücklehnen und, gemeinsam mit Ehefrau und Freund, die Früchte seines Schaffens genießen! Oder etwa doch nicht?
Wer, wozu ich nur raten kann, die sechs Vorgängerbände gelesen hat, hat mehr als nur eine Ahnung von dem, was Vikram und die Seinen erwartet, weiß gar schon zu Beginn der Lektüre, an dem sich bereits dunkle, regelrecht rabenschwarze Wolken am Horizont abzeichnen, dass das, was da kommt, das Leben aller im Dar-as-Salam verändern könnte! Natürlich werden Vikrams immer noch zahlreiche Feinde keine Ruhe geben, selbstverständlich werden sie sich Perfides einfallen lassen, um dem Helden, dem nunmehr alt und grau gewordenen Löwen, der bereits so viele Gefahren gemeistert hat, das Leben schwerzumachen oder ihm sogar das Lebenslicht auszublasen.
Das Verhängnis, so fürchtet man, wird wohl unaufhaltsam seinen Lauf nehmen, obwohl die Autorinnen ihre Leser durch immer wieder eingestreute längere oder kürzere Passagen unbeschwerter Freude und des Friedens, oft gewürzt mit dem liebenswürdigsten Humor, ablenken von dem Bösen, das sich da im Hintergrund zusammenbraut – und das dann unvermittelt, scheinbar ohne Vorwarnung, hereinbricht auf die Protagonisten und ihre Familien. Gerade letzteren, vor allem den längst erwachsenen Ziehkindern der Sandeeps, kommt in „Der Strom des Lebens“ eine gewichtige Rolle zu, quasi eine Fortführung dessen, was in Band Sechs seinen Anfang genommen hatte. Wir lernen sie immer besser kennen, die so unterschiedlichen Ziehgeschwister, verfolgen ihren Lebensweg mit großer Anteilnahme, teilen den Stolz ihrer Eltern auf das, was sie aus sich gemacht haben, genauso wie deren Verzweiflung, wenn sich ihr Schicksal auf eine nicht erwartete, tragische Weise erfüllt.
„Der Strom des Lebens“! Der Titel, den das Autorenduo seinem Schwanengesang zugewiesen hat und der nicht besser hätte gewählt sein können, durchzieht den Roman genauso, wie es diejenigen seiner jeweiligen Vorgänger getan haben. Der Strom des Lebens ist unaufhaltsam, er steht nicht still, fließt immer weiter, bringt Veränderungen, bringt Glück, ebenso wie Leid; er reißt die Menschen, die sich in seinen Strömungen verfangen und aufgeben, mit – und trägt doch die Hoffnung auf Zukunft in sich, wenn man sich seinen Untiefen nicht ergibt, wenn man sich trotz aller tiefer und tiefster Täler, durch die man sich gerungen hat, nicht zerstören lässt, wenn man, wie die Protagonisten in Simone Dorras und Ingrid Zellners Kashmir-Saga, seinen mannigfaltigen Feinden ein „dennoch“ entgegensetzt, ihnen signalisiert, dass sie sich nicht beugen werden, was immer sie auch versuchen mögen, und dass weder Gewalt, noch Mord, noch Terror die Oberhand behalten werden!
Eine gewaltige Botschaft! Eine, die den würdigen Abschluss der Kashmir-Saga bildet, dieses Liedes der Hoffnung, dessen Melodie aus Freundschaft, Solidarität, Liebe und Treue gewoben ist und die noch lange in den Lesern nachklingt. Unvergesslich und ihresgleichen suchend!

Veröffentlicht am 09.03.2022

Brandstiftung, um den Ausverkauf einer schönen Insel anzuprangern

Sylter Flammenmeer
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Eduard Koch ist Sylter mit Leib und Seele! Hier wurde er geboren, hier arbeitet er bei der Polizei und hier wohnt er auch, wiewohl letzteres derzeit mehr als nur ein wenig kompliziert ist. Seine Frau hat ...

Eduard Koch ist Sylter mit Leib und Seele! Hier wurde er geboren, hier arbeitet er bei der Polizei und hier wohnt er auch, wiewohl letzteres derzeit mehr als nur ein wenig kompliziert ist. Seine Frau hat dem seltsamen Fiete den Vorzug gegeben – was man nicht recht verstehen kann, wenn man den überaus sympathischen und gebildeten Ed näher kennenlernt, der ein Familienmensch ist und liebevollsten Umgang mit seinen beiden halbwüchsigen Kindern Lasse und Lotte pflegt. Die Trennung von seiner Frau schmerzt ihn, ebenso wie die Tatsache, dass er es bisher nicht geschafft hat, die räumliche Trennung zu vollziehen. Kurz und gut, Ed , die Kinder und Exfrau Mara leben noch immer unter einem Dach – samt Fiete. Unhaltbar eigentlich, dazu noch möchte die zänkisch-nörgelige Mara Ed heraushaben aus dem gemeinsamen Haus, das nicht etwa sie, sondern Ed dereinst von seiner Tante geerbt hatte. Ihr Wunsch wird sich am Ende des Kriminalromans erfüllen – aber da wird dann nichts, rein gar nichts mehr so sein, wie vor den Brandanschlägen und dem, was sie nach sich ziehen sollten...
Dass Sylt schon lange nicht mehr den Syltern gehört dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Grundstücksspekulanten und Immobilienhaie sind die eigentlichen Besitzer der nördlichsten der Nordfriesischen Inseln, die ob ihrer Schönheit bereits seit Jahrzehnten ein beliebtes Touristenziel ist. Aber nicht nur das! Finanzkräftige Bürger von überallher, längst also nicht mehr nur die unvermeidliche Schikeria, die regelmäßig in den angesagten Lokalen aufschlägt, um sich die gepflegte Kante zu geben, um dann wieder zu verschwinden, erwerben auf der offensichtlich zum Ausverkauf stehenden Insel ein Zweit-, Dritt- oder Viertdomizil. Zu horrenden Preisen, versteht sich! Aber was soll's? Man hat ja Geld im Überfluss! Dass man damit den Menschen, die bereits seit Generationen auf der reizvollen Insel leben und die vor der Überteuerung des Wohnraums kapitulieren und aufs erschwinglichere Festland ziehen müssen, verdrängt, kümmert anscheinend niemanden von denen, die Profit und immer noch mehr Profit machen wollen und, so darf man mutmaßen, auch niemanden von den Neubürgern, die ihre Luxusheime zwar besitzen, sie aber nur selten bis gar nicht aufsuchen. Man kennt das Problem der überteuerten Immobilien zwecks Geldanlage aus deutschen Großstädten und zunehmend auch aus attraktiven kleineren Städten – warum also sollte es auf Sylt anders sein?
Nicht alle freilich wollen diese zum Himmel schreienden Zustände hinnehmen. Es gibt auch solche, die sich dagegen zur Wehr setzen, mit friedlichen Mitteln, oder andere, die mit kriminellen Aktionen ein Zeichen setzen wollen. Und solange niemand dabei zu Schaden kommt... ? Nein! Brandstiftung ist nun einmal eine Straftat, egal, was damit letztendlich bewirkt werden soll. Ed Koch und seine Kollegen sind damit betraut, den oder die Schuldigen zu finden und der Bestrafung zuzuführen, doch treten sie auf der Stelle, denn da ist jemand äußerst clever zu Werke gegangen. Als dann Ed – die Kurzform seines Namens zeugt von seiner Liebe zu dem britischen Inselstaat, der gerade erst seinen Status der 'splendid isolation' zurückgewonnen hat – Witterung aufnimmt und ein Verdacht in ihm aufkeimt, rollt das Unheil mit Macht auf ihn und auch auf seine Familie zu: bei der dritten Brandstiftung nämlich kommt ein Mensch ums Leben und gleichzeitig ereignet sich ein verhängnisvolles Unglück, das Ed völlig durcheinanderwirbelt und ihn die Richtung verlieren lässt, ihn blind macht für das, was tatsächlich geschehen ist und ihn schließlich auch sein persönliches Glück, das gerade erst zart begonnen hatte zu erblühen, kosten wird...
Mit dem ersten Fall für Ed Koch, wie bereits die Ergänzung zum Buchtitel verrät – man freut sich, dem Inselpolizisten wiederbegegnen zu dürfen, nachdem man ihn in „Sylter Flammenmeer“ kennengelernt hat! -, hat der Autor, der unter dem Pseudonym Max Ziegler schreibt, einen ruhigen, unaufgeregten, sich nur langsam entwickelnden und bis zum Ende nur mäßig spannenden Kriminalroman auf den Markt gebracht. Wenn man aber davon absieht und sich auf den Inhalt konzentriert, auf Aufbau und sorgfältige Figurenzeichnung, dann hat man ein wahres Schwergewicht vor sich, ein hervorragend geschriebenes Buch, das nachwirkt, das man auch nach beendeter Lektüre nicht einfach beiseitelegen und vergessen kann. Die Zustände, die den realen und aktuellen Hintergrund des Krimis bilden und die anscheinend niemand in den Griff bekommen kann noch möchte, lassen hilflos-zornige Gedanken aufkommen. Wo Geld im Spiel ist hört die Moral auf? Ganz gewiss ist das so – und der Roman macht daraus auch keinen Hehl. Grundsätzlich gilt mein Respekt denjenigen, die sich zur Wehr setzen, anstatt diese skandalösen Entwicklungen einfach als gottgegeben hinzunehmen. Dass sie sich nicht anders zu helfen wissen, als durch spektakuläre Aktionen darauf hinzuweisen, mag ihnen verziehen werden, selbst wenn die Wahl der Mittel fragwürdig ist und den Tatbestand einer kriminellen Handlung erfüllt.
Doch wie die Leser noch sehen werden, ist die Geschichte keineswegs eindimensional und beileibe nicht so offensichtlich wie es den Anschein haben mag, und am Ende, wenn man nicht tiefer schaut, jeden zufriedenstellend gelöst. Es spricht für die Klasse des Krimis und die Schreib- und Fabulierkunst seines Urhebers, dass man als Leser genau wie Ed das ursprüngliche Verbrechen aus dem Blickwinkel verliert über all den Enthüllungen, die sich im Laufe der Ermittlungen präsentieren – und einem erst durch die Frau, mit der Eduard hofft, eine neue Beziehung eingehen zu können, wieder präsent werden. Das ist richtig gut gemacht – und wären da nicht die häufigen und meines Erachtens unangebrachten Anglizismen, die leider auch Einzug halten in die Geschichte (alles, was man da auf Englisch raushaut, kann man noch viel schöner auf Deutsch sagen, es sei denn, man ist der deutschen Sprache nicht mächtig!) und derer es nicht bedarf, um dem Leser Eds Vorliebe für England klarzumachen, wäre der Krimi große Klasse gewesen! Nun, es wird weitere Fälle mit Eduard Koch geben – und vielleicht ist er dann auch wieder Papa oder Vater anstatt 'Dad', wenn die Kinder bis dahin nicht inzwischen ausgeflogen sind....

Veröffentlicht am 07.03.2022

Für den Rest des Lebens....

Fast am Ende der Welt
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Da haben sich zwei gefunden, denkt nicht nur Kellnerin Kathi, wenn man den langen, dünnen Josef Peukert und den kleinen, untersetzten Attila Bauer in ihrem Münchner Stammlokal zusammenhocken sieht und ...

Da haben sich zwei gefunden, denkt nicht nur Kellnerin Kathi, wenn man den langen, dünnen Josef Peukert und den kleinen, untersetzten Attila Bauer in ihrem Münchner Stammlokal zusammenhocken sieht und ihren Plänen lauscht! Auf's Land wollen sie, raus aus dem Großstadtgetriebe, die Stille suchen sie, das einfache Leben direkt am Busen der Natur. Ob die, vor allem bei dem Schickeria-Gewächs Attila, überschäumende Begeisterung die nicht vorhandene Erfahrung wettmacht, die es nun einmal braucht, wenn man einen zugemüllten, verfallenen Aussiedlerhof im tiefsten Bayern, jenseits aller Zivilisation, wie Siegfriedsruh, das einst als Sobeckhof bekannt war, instandsetzen und ihn schließlich bewirtschaften möchte? Und werden die beiden grundverschiedenen Münchner, deren bisherige Lebensentwürfe Lichtjahre voneinander entfernt waren, überhaupt auf lange Sicht miteinander klarkommen? Ist der gemeinsame, der große Traum als Bindeglied tragfähig genug? Die beiden nicht mehr jungen Herren scheinen sich darüber viel weniger Gedanken zu machen als all die unkenden Menschen in ihrem Umfeld. Sie schmieden Pläne und gehen die Sache an, nachdem das geeignete Objekt einmal gefunden wurde!
Das könnte denjenigen unter den Lesern, die ebenso heimliche Sehnsüchte nach einem einfachen Leben abseits der Hektik der modernen Zeit verspüren, Auftrieb geben, könnte sie ihren ganzen Mut zusammennehmen lassen, könnte man nun vielleicht denken, denn es sieht ganz danach aus, als würde den beiden ein wenig seltsamen Männern ihr Vorhaben gelingen, nachdem zu vernachlässigende Kleinigkeiten wie ein eingestürztes Dach, eine ob der strengen winterlichen Kälte komplett versagende Heizung und zugeschneite Zufahrtswege nach der Zwangsüberwinterung in den jeweiligen Münchner Wohnungen, die beide klugerweise behalten haben, erfolgreich behoben werden. Nun, alles kein oder doch wenigstens kein unlösbares Problem, wenn man über scheinbar unbegrenzte finanzielle Mittel verfügt, wie der ehemals erfolgreiche Antiquitätenhändler Attila, der durch nicht ganz astreine Geschäfte bei den Reichen und, dank Botox und Co., einigermaßen Schönen aus der zweifelhaften feinen Gesellschaft Münchens – aber die Stadt könnte dabei durchaus austauschbar sein, denn die Geldleut' sind überall gleich! - in Ungnade gefallen aber, wie das nun einmal seiner Stehaufmännchennatur entspricht, sicher auf allen Vieren gelandet ist. Und wenn man dank seiner quirligen, durchaus menschenfreundlichen Natur auch in Zeiten, in denen Handwerker so gesucht und so schwer zu bekommen sind wie nie, auf einen Haufen nützlicher Kontakte zurückgreifen kann! Denn obwohl Schreiner von Beruf ist Attila niemand, der praktische Tätigkeiten verrichten könnte oder möchte. Er versteht sich als Organisator – und dieses Metier beherrscht er meisterhaft – und als Ideengeber, worin er, das muss man ihm lassen, geradezu unschlagbar ist. Doch leider verfliegt seine Begeisterung oft genauso schnell, wie sie gekommen ist! Das stellt einerseits ein Risiko für diejenigen dar, die sich mit ihm einlassen, ist anderseits jedoch eine Erleichterung für den besonnenen, vorsichtigen Josef, wenn's der Attila einmal gar zu bunt treibt mit seinen exotischen Einfällen!
Ja, nun ist es an der Zeit, dem Mitbewohner des Paradiesvogels, dem Josef Peukert, ein paar Gedanken zu widmen! Ein merkwürdiger Kauz ist er, der auf seine Art nicht weniger eigenartig ist als sein neugefundener Kumpel mit dem großspurigen Namen, für den ein gewisser Hunnenkönig Pate gestanden haben mag – aber vielleicht, wenn man seinem Vater begegnet, der noch immer die Welt mit seinen verrotteten Ansichten unsicher macht, auch nur der Vorstellung von Originalität seitens der Eltern, die offensichtlich nicht die hellsten Lichter am Kronleuchter waren, entsprungen ist. Ein an Reduziertheit nicht zu übertreffendes Leben hat der Josef geführt, 65 Jahre lang – bis er dem kunterbunt gekleideten Attila begegnete. Bis zu ihrem Tod hat er mit der früh verwitweten Mutter in einer recht geräumigen Wohnung in der Münchner Innenstadt gelebt, wie's ausschaut haben sich die Zwei sogar ein Bett geteilt. Freunde hat er nicht gehabt, auch nicht in der Eisenwarenhandlung, in der er zeitlebens gearbeitet hat, immer pünktlich, immer korrekt, jedes Schräubchen beim Namen nennen könnend, ohne es je an seinen ihm bestimmten Platz angebracht zu haben. Die Stille liebt er, der Herr Josef, das ist das, was ihn wohl am besten beschreibt. Und eine tiefe Sehnsucht hegt er – wie man im Laufe der Geschichte langsam begreift, nach Zugehörigkeit, nach Menschen, ganz wenige reichen ihm, mit denen er eine Familie sein kann. Diese Glückes wird er, der Leser wird es bald feststellen, da draußen auf dem Land teilhaftig, für eine unvergessliche, aber leider nur kurze Zeit. Aber auch wenn er auf traurige Weise verliert, was er immer gesucht hatte – ist ein zwar kurzes, aber intensiv gelebtes Glück nicht tausendmal mehr wert als ein Leben, das nur aus unerfüllten Sehnsüchten besteht? Ob Josef das schließlich auch so sehen wird, bleibt dahingestellt, auch, ob er wirklich bereit ist, sich auf ein neues Abenteuer oder, wenn man so will, eine neue Suche nach dem Glück einzulassen, mit dem unverwüstlichen Attila an seiner Seite.
Zwei interessante Charaktere hat Bernd Schroeder mit den beiden Münchnern, die sich einen Lebenstraum erfüllen, geschaffen. Nicht sofort erschließen sie sich dem Leser, es braucht die gesamte Geschichte mit all ihren Ver- und Entwicklungen, um tiefer in sie hineinzuschauen, sie zu begreifen. Tiefgründigkeit kann man bei Josef früher vermuten als bei Attila, dem man, je mehr man von seinem reichlich unsteten Leben erfährt, in dem er ständig auf der Suche nach etwas Neuem war, in dem eine Begeisterung die andere ablöste, vielleicht vorschnell Oberflächlichkeit attestieren würde, ebenso wie Unzuverlässigkeit und Egoismus. Doch weit gefehlt! Menschen, die ihm etwas bedeuten, lässt er nicht fallen; er kümmert sich, kann eine Beharrlichkeit entwickeln, die seine Sprunghaftigkeit Lügen straft. Dem Josef ist er ein treuer Freund, wobei man eher umgekehrte Rollen erwartet hätte! Dass es schließlich der Josef sein würde, der den gemeinsamen Traum ziehen lässt und einen Rückzieher macht, überrascht. Die Entwicklung der Handlung überrascht ebenfalls, das Ende war ganz und gar nicht vorhersehbar – und ich bin mir auch jetzt, nachdem ich Muße hatte, das Gelesene zu reflektieren, nicht sicher, ob es mir gefällt, ob es das einzig logische war oder ob es nicht noch andere Wege gegeben hätte, die Geschichte enden zu lassen. Enden? Das ist nicht der richtige Ausdruck, denn der Schluss ist im Grunde offen, der Leser kann sich ausmalen, wie das nun weitergeht mit Attila und Josef, oder ob überhaupt. Ob die alte von Sehnsucht von einer neuen abgelöst wird? Zu dem Josef, wie er sich mir zum Abschluss zeigt, würde das nicht passen, ich empfände es als nicht stimmig. Ja, in seiner Figur gibt es für mich nicht nachzuvollziehbare Brüche angesichts dieses, vom Autor gewählten Ausgangs.
Dass ich das Buch dennoch gerne gelesen habe, muss hinzugefügt werden, obschon der schöngeschriebene, einfühlsam erzählte Anfang denn doch nicht gehalten hat, was er versprach und ich darüberhinaus ein eingefügtes Krimielement als vollkommen überflüssig und der Geschichte selbst nicht dienlich erachte, was auch für den unerwarteten und wenig gewinnenden Besuch aus Amerika gilt. Beides stört den ruhigen Fluss der sich langsam und ansonsten folgerichtigen entwickelnden Erzählung mit dem rührend altmodischen Touch, der mich zu Beginn meiner Lektüre so unwiderstehlich in seinen Bann gezogen hatte. Schade, dass dieser Eindruck kein bleibender war und die durchaus realistische Geschichte abgeflacht ist, je weiter sie sich entwickelte. Nicht alles, meine ich, muss an das Vorbild der Realität angepasst werden; in Romanen darf man als Autor über das Schicksal ruhig mal selber bestimmen und es in eine verheißungsvolle Richtung lenken!