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Franziska2503

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Veröffentlicht am 30.06.2018

„Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon.“

Die Schutzbefohlenen
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Befasst man sich mit der Dramenlandschaft Deutschlands nach 1945, so stößt man dabei fast unumgänglich auf die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die in ihren Werken gesellschaftliche Missstände ...

Befasst man sich mit der Dramenlandschaft Deutschlands nach 1945, so stößt man dabei fast unumgänglich auf die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die in ihren Werken gesellschaftliche Missstände aller Art thematisiert und anprangert. Ihr politisch hochaktuelles Stück Die Schutzbefohlenen (2013) ist ein Beitrag zur Flüchtlingspolitik und eine aufrüttelnde Auseinandersetzung mit deren Folgen, denn Jelinek nimmt hier nicht die Sicht der Politik ein, wie es nur allzu oft getan wird, sondern lässt die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen und verschafft ihnen Gehör in einer Gesellschaft, die Leid sonst nur im Fernsehen sieht.
Das Stück hat zunächst wenig mit einem klassischen Theaterstück gemeinsam. Man sucht hier vergeblich nach Akten, einer Handlung oder unterschiedlichen Personen. Es handelt sich um ein postdramatisches Sprechstück, dessen Fokus auf der Rhythmik der Sprache und der Umsetzung auf der Bühne liegt. Gegliedert ist es in 27 kürzere Abschnitte, in denen die Flüchtlinge ihre hoffnungslose und verzweifelte Situation in all ihren Facetten schildern. Da sind zum einen die Trauer um die im Heimatland ermordeten Familien, die Angst um das eigene Überleben und das Gefühl der Fremde, dem im Aufnahmeland andererseits nichts als Hass, Ignoranz und Gleichgültigkeit entgegengebracht wird. Die eigene Kultur und der Glaube wird dem Überleben im fremden Land geopfert. Die neue Religion ist die Bürokratie, der neue Gott der Präsident des Aufnahmelandes. Er wird angebetet, zu ihm wird gefleht, doch barmherzig oder gütig scheint er nicht zu sein, dieser neue Gott.
Der fortwährende Fragemodus und die raffinierten Wortspiele, die zunächst ganz unscheinbar und teils fast humoristisch daherkommen, zeugen doch von einer ungeheuren Sprachgewalt und verweisen auf die Undurchsichtigkeit und Verworrenheit des Bürokratie- und besonders auch des Sozial-Gesellschaftssystems. Das Stück wird auf diese Weise schwer lesbar und es ist daher auch unbedingt zu empfehlen, es sich gesprochen bzw. direkt auf der Bühne aufgeführt anzusehen. Doch schwer lesbar wird es nicht nur aufgrund seiner Sprache. Was es schwer ertragbar macht, ist die schiere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge sowie die absolute Ignoranz all jener, die helfen könnten. Mit Sicherheit war genau das Jelineks Absicht: Es ist ein Stück, das uns wachrütteln soll und uns aus der Passivität und Abwehrhaltung, die sich nur die wenigsten einzugestehen wagen, herausholen soll. Es ist nicht nur ein Plädoyer für Toleranz, die immer nur eine vorübergehende Lösung sein kann, sondern vor allem auch für Anerkennung und die Gleichwertigkeit aller Menschen.
Zu diesem Stück ließe sich trotz seiner Kürze sicher noch einiges sagen, müsste sicher auch noch einiges gesagt werden, doch das ist nicht die Intention des Stückes: Wir müssen etwas tun!

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Veröffentlicht am 27.06.2018

Die Highsociety ohne Geld

Frühling der Barbaren
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Black Friday und Weltwirtschaftskrise- wir alle kennen die größten Krisen des Finanzmarktes und dass Geld Macht bedeutet, dürfte wohl auch jedem klar sein. Falls nicht- Literatur gibt es dazu genügend. ...

Black Friday und Weltwirtschaftskrise- wir alle kennen die größten Krisen des Finanzmarktes und dass Geld Macht bedeutet, dürfte wohl auch jedem klar sein. Falls nicht- Literatur gibt es dazu genügend. Doch was passiert bei einem Zusammenbruch des Finanzmarktes mit der Kultur und den Moralvorstellungen einer Zivilisation? Jonas Lüscher entwickelt zu dieser Frage in seinem Debütroman Frühling der Barbaren ein bildmächtiges Weltuntergangsszenario, das den Leser ab dem ersten Satz zum Grübeln und zur Reflektion über unsere gegenwärtige Gesellschaft anregt. Finanzkrisen, Globalisierung, Leistungsgesellschaft. Auf den gerade einmal 125 Seiten des 2013 erschienen Romans schafft es Lüscher alle großen Probleme der Gegenwartsgesellschaft anzugehen.
Raffiniert stellt Lüscher verschiedene Konfliktsituationen auch auf mehreren Erzählebenen dar. In der Rahmenerzählung berichtet der handlungsunfähige Schweizer Unternehmer Preisling, der sich in einer psychiatrischen Einrichtung befindet, von einer Geschäftsreise nach Tunesien. Diese Binnenerzählung berichtet, wie Preisling zunächst die Produktionsstätten seiner eigenen Firma besucht, wo er in einen Konflikt zwischen Ethik und Wirtschaftlichkeit gerät und dann Zeuge einer dekadenten, protzigen Hochzeit zweier junger Briten, die der Londoner Finanzwelt angehören, wird. In der Nacht nach der Hochzeit bricht die Londoner Börse zusammen und ein Großteil der Hochzeitsgäste verliert sein Vermögen. Als am nächsten Morgen die Kreditkarten gesperrt sind und die Gäste aus dem Hotel geschmissen werden, beginnt die Abwärtsspirale in die Barbarei- wie Lüscher die folgenden Geschehnisse bezeichnet. Auf metaphorisch und immer leicht ironische Weise stellt Lüscher dar, wie schnell sich Zivilisation und Moralvorstellungen auflösen können. Sinnbildlich dafür steht die Opferung genau des Kamels, auf dem die Braut am Tag zuvor noch zum Altar geritten ist.
Auch wenn Lüscher die Highsociety der Finanzwelt mit Blackbarry, Kleidungsstil und offensichtlicher Arroganz vielleicht etwas zu klischeehaft darstellt und das Ausmaß des Absturzes in die Barbarei doch recht utopisch ist, so lässt sich aus dieser Novelle doch etwas lernen, so wie es der Ich-Erzähler Preisling suggeriert- auch und gerade weil man dazu lernen muss, die richtigen Fragen zu stellen. Die Novelle zeigt jedoch nicht nur mit dem Finger auf gegenwärtige Probleme, Lüscher ruft mit der Figur des ewig ausharrenden, handlungsunfähigen Preislings, der immer von allen herumgeschubst wird und auch in Situationen, in denen er helfen könnte, passiv bleibt, jeden einzelnen auf, aktiv zu werden. Schon kleine Handlungen machen einen Unterschied.
Eine Gesellschaftskritik, die nicht nur benennt, sondern bewegt.

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Veröffentlicht am 27.06.2018

Die Seele säubern

Nichts als die Nacht
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„Wer könnte das schon, die Seele säubern?“ Diese rhetorische Frage stellt wohl den thematischen Kern der knapp 160-seitigen Novelle Nichts als die Nacht von John Williams dar. Arthur Marxley, der Protagonist, ...


„Wer könnte das schon, die Seele säubern?“ Diese rhetorische Frage stellt wohl den thematischen Kern der knapp 160-seitigen Novelle Nichts als die Nacht von John Williams dar. Arthur Marxley, der Protagonist, versucht seine Seele durch Verdrängung rein zu waschen von den Erinnerungen seiner Vergangenheit, von Scham, Ekel und Schmerz. Er merkt dabei nicht, wie er geradewegs auf seinen Untergang zusteuert, denn wie die Rhetorik der Phrase schon vermuten lässt, kann niemand seine Erinnerungen vergessen – besonders nicht, wenn man sich wie Marxley permanent zum Vergessen zwingen muss, das genau in diesem Moment zum bewussten Erinnern wird. Es ist die Erzählung über einen jungen Mann, der durch den traumatischen Selbstmord der Mutter zum einsamen, depressiven und ruhelos Umherirrenden wird und dessen Wiedersehen mit seinem Vater zum Schlüsselerlebnis für das unabwendbare Erinnern wird, an dessen Ende schließlich die Katastrophe steht.
Die Seele von Erinnerungen rein waschen – das schien auch John Williams gewollt zu haben, als er die Novelle 1948 nach einem Flugzeugabsturz während des zweiten Weltkriegs mitten im burmesischen Dschungel schrieb. Erst posthum erlangte er durch seinen Roman Stoner, der zum Welterfolg wurde, Berühmtheit und zählt heute zu einem der wichtigsten Autoren der Klassischen Moderne Amerikas. 2017 erschien seine Novelle Nichts als die Nacht auf Deutsch und zu Recht wird dieses Werk von Simon Strauß als „das Buch eines jungen Wilden“ beschrieben, „der wütet, weil er sein Inneres nicht nach außen bringen kann.“
Wüten- das tut Williams wirklich, wenn er in Schachtelsätzen, die in ihrer Kommaanzahl an die Sätze Thomas Manns erinnern, das Chaos und die Verworrenheit des Innenlebens Marxleys darzustellen versucht. Doch es funktioniert: Während Marxley durch die Nacht zu einer aufwühlenden Begegnung mit seinem Vater irrt, schafft Williams es, nach und nach, die so lange unterdrückten Erinnerungen an die traumatischen familiären Vorkommnisse, die für Marxley erst ganz zum Schluss überhaupt aussprechbar werden, aus dem Bewusstseinsnebel des Protagonisten aufsteigen zu lassen. Überhaupt wird mittels Synatx viel über die inneren Befindlichkeiten Marxleys gesagt: Die zahlreichen Passivkonstruktionen zeigen zum Beispiel an, dass der junge Protagonist durch die Nacht getrieben, gestoßen und mitgezogen wird: Von Scham, von Ekel vor der Welt und besonders von den Erinnerungen, die er verdrängt zu glauben hat, die aber immer unbewusst sein gesamtes Handeln bestimmen und am Ende doch gewaltsam, unkontrollierbar ausbrechen.
Die Einsamkeit, die ebenso allumfassend zu sein scheint wie die Erinnerung, wird zur von Sylvia Plath beschriebenen „Glasglocke“, die sich über Marxley legt und ihn vom Rest der Welt, die er detailversessen und obsessiv beobachtet, trennt. Er kann nicht mehr teilhaben an dieser Welt, in der er fortwährend „von einer unsagbaren Kraft“ hin und her getrieben wird und beschreibt schließlich, es sei die schlimmste Art von Einsamkeit, alle Menschen in einem überfüllten Raum miteinander aber nie mit ihm reden zu hören. Geschickt gelingt es Williams zudem, die Menschen im Umfeld des Protagonisten als Objekte, eingeordnet in Kategorien und Schubladen und nicht mehr als eigenständig denkende Individuen darzustellen. Es ist ein Versuch des Ordnens im Chaos der eigenen unausgesprochenen Gefühle, doch durch diesen selbst geschaffenen Filter der Wahrnehmung und die nicht enden wollende Typisierung, nimmt Marxley selbst sich die Möglichkeit zum Entkommen aus der Einsamkeitsspirale. Obwohl er einen durch das Trauma ausgelösten Ekel vor der ganzen Welt empfindet, so will er doch an dieser teilhaben und indirekt sehnt er sich verzweifelt nach menschlicher Nähe und Wärme. Will man Marxleys wahren Empfindungen auf die Spur kommen, so ist man gezwungen, fortwährend zwischen den Zeilen zu lesen, denn an Marxleys Oberfläche stößt man zunächst einzig und allein auf eine - wenn auch breit gefächerte - Ablehnungshaltung gegenüber der Welt und vor allem gegenüber sich selbst. Diese Verleugnung, die in der indirekten Sprache Ausdruck findet, macht die Novelle auch psychologisch interessant.
Nur mit Claire, einer Frau, die er in einem Tanzlokal trifft, gelingt es ihm für einen Moment, sich in die gesichtslose Masse einzuordnen. Vom Alkohol berauscht, gerät er in eine ambivalente Hochstimmung aus sexueller Erregung einerseits und einem weiterhin bestehenden Ekel, der sich unvorhersehbar immer wieder über das entstehende erotische Verhältnis zu Claire legt. Eine Gefühlsambivalenz kennzeichnete auch schon das vorherige Gespräch mit seinem Vater, für den er eine Mischung aus Mitleid und Hass zu empfinden scheint. Marxley versucht im Verlauf verzweifelt eine Balance zu finden zwischen den oberflächlichen Gefühlen der Ablehnung und den tief verborgenen Empfindungen von Trauer um seine verstorbene Mutter, Scham und verbotenem Verlangen, doch wirklich deutlich wird auch hier nur der erneute Kontrollverlust.
Metaphorisch untermalt wird diese Ambivalenz durch das Bild des Kampfes von Licht und Dunkelheit. Die Erzählung beginnt an einem kurzen Morgen, schildert dann einen beinahe noch kürzeren Nachmittag und endet schließlich in langer, finsterer Nacht, die trotz der Lichter der Stadt immer präsent bleibt. Dunkelheit ist dabei immer unvermeidbar negativ konnotiert und verbunden mit Kontrollverlust sowohl über Emotionen als auch über Handlung.
Es ist letztlich die Erzählung eines immerwährenden Konflikts zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Depression und Lebenswillen sowie zwischen Licht und Dunkelheit, an dessen Ende nichts als die Nacht bleibt.

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Veröffentlicht am 27.06.2018

Abschied - Krise - Neubeginn

Der Fänger im Roggen
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„Es ist mir gleich, ob es ein trauriger oder ein schlimmer Abschied ist, aber wenn ich von wo weggehe, möchte ich auch gerne begreifen, dass ich von da weggehe.“ Dieser Satz aus J.D. Salingers 1945 erschienenen ...


„Es ist mir gleich, ob es ein trauriger oder ein schlimmer Abschied ist, aber wenn ich von wo weggehe, möchte ich auch gerne begreifen, dass ich von da weggehe.“ Dieser Satz aus J.D. Salingers 1945 erschienenen Roman Der Fänger im Roggen dürfte wohl das ganze Buch zusammenfassen, denn die Abschiedsthematik und die daraus resultierenden Krisen, gepaart mit Identitäts- und Sinnsuche, sind die eigentlichen Leitmotive des Romans. Salinger gelingt es trotz jugendlichem Schulabbrecher als Erzähler und entsprechender Jugendsprache, einen Roman mit Allgemeingültigkeit zu konstruieren, der nicht nur Jugendliche in der Selbstfindungsphase bedient, sondern vielmehr als Beitrag zur immerwährenden menschlichen Suche nach Sinn und Bedeutung zu verstehen ist.
Der Anfang ist bereits der einschneidendste Abschied: Holden Caulfield wird aufgrund schlechter Noten eines renommierten Eliteinternats verwiesen und flüchtet aus Angst vor der möglichen Reaktion seiner beruflich erfolgreichen Eltern nach New York, wo er ein ganzes Wochenende lang ziellos und immer auf der Suche nach menschlicher Wärme und Gesellschaft durch die Straßen irrt. Die räumliche Flucht wird zunächst zur Flucht vor dem eigenen Selbst, doch nach und nach gelingt es Holden durch Gespräche mit alten Bekannten, mit seiner Identität in Kontakt zu treten und sich darüber klar zu werden, was er will und was nicht.
Spielerisch gelingt es Salinger, Holden an metaphorisch aufgeladenen Plätzen wie der Grand Central Station, als Sinnbild des Wartens, über seine Zukunft und den Sinn des Lebens im Allgemeinen nachdenken zu lassen. Im Verlauf scheint das Umherirren immer sinnloser zu weden, bis Gespräche mit alten Bekannten schließlich Formen der Dialoge aus Beckets Warten auf Godot annehmen. Warten auf etwas, das nie kommt – So ließe sich letztlich auch eines der letzten Kapitel lesen, in dem Holdens kleine Schwester ihren Bruder zum Bleiben und zum Gespräch mit den Eltern bewegen konnte und Holden gebannt die Kreisbewegung des Karussells verfolgt, auf dem seine Schwester fährt. Welche Lehre soll man als Leser daraus nun ziehen? Dass das Leben sinnlos ist und eine Suche nach einem Sinn es ebenfalls ist? Dass es sich im Kreis dreht, die Geschichte sich immer wiederholt und jeder Mensch im Grunde austauschbar ist? Das lässt Salinger offen und gerade durch diese inhärente Offenheit sowohl in der Deutung als auch im inhaltlichen Ausgang des Romans gewinnt die Erzählung eine solche Allgemeingültigkeit.
Was der Roman uns aber lehrt, was seine Botschaft ist, wird deutlich: Krisen sind notwendig, damit wir zu uns selbst finden. Wer wie Holden Caulfield für eine Zeit lang aus der Welt fällt, nicht recht weiß wo er hingehört und die alten Gewohnheiten beginnen sich aufzulösen, der fragt danach wer er eigentlich wirklich ist und was er vom Leben will.
Es ist die Erzählung eines Abschiedes und eines Neubeginns. Vor allem aber ist es die Erzählung einer nie enden könnenden Suche nach Sinn und Bedeutung, die einem der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse entspricht.

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Veröffentlicht am 27.06.2018

Nähe – Fremde – Gegenwart

So enden wir
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„Die Moral von der Geschichte war, dass man hochhalten müsse, was uns zu Menschen machte, und dazu gehörte auch die Angst vor dem Tod und der Apokalypse.“ Vielleicht bringt genau dieser Satz aus Daniel ...

„Die Moral von der Geschichte war, dass man hochhalten müsse, was uns zu Menschen machte, und dazu gehörte auch die Angst vor dem Tod und der Apokalypse.“ Vielleicht bringt genau dieser Satz aus Daniel Galerals neuem Roman So enden wir die Erzählung auf den Punkt. Dieses Buch mit dem unscheinbaren und zunächst etwas kryptisch erscheinenden Cover bietet maximalen Inhalt bei nahezu minimaler Handlung. Galera hat nach seinem ersten deutschsprachigen Roman Flut (2013) ein Werk geschaffen, das der Gegenwartsgesellschaft den Spiegel vorhält, indem es die Frage nach der Authentizität des Einzelnen sowie der Beständigkeit von Kultur, Denken und Existenz der Welt in Zeiten von Big Data, Globalisierung und Klimakatastrophen stellt. Doch es ist auch ein Roman, der versucht, das verworrene Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen näher zu beleuchten, der das Erinnern und alles Vergangene feiert und vor allem aber den Kampf zwischen den Idealen der Jugend und denen des Erwachsenseins beschreibt.
Galera malt mittels seiner abwechselnd erzählenden Protagonisten Aurora, Emiliano und Antero, die sich auf der Beerdigung des gemeinsamen Freundes Duque nach fünfzehn Jahren wiedertreffen, ein düsteres Bild und wählt als Schauplatz hierfür ausgerechnet seinen eigenen Wohnort, die Stadt Porto Alegre aus, die er detailversessen und mitunter beinahe obsessiv in all ihren heruntergekommenen und kriminellen Facetten beschreibt. Mit Duques Tod und dem Wiedertreffen der Protagonisten beginnt die nicht enden könnende Erinnerung an die gemeinsam erlebten Studienjahre in den 90er Jahren. Es sind Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in der Redaktion ihres Online Fanzines Orangotango, Erinnerungen an den Glaube an eine Zukunft, in der das noch in den Kinderschuhen steckende Internet alles möglich machen könne und vor allem sind es Erinnerungen an Zeiten voller Partys, Drogen, Sex und Weltverbesserungspläne.
Inzwischen haben sich jedoch alle drei, mittlerweile Ende dreißig, von ihren Träumen und Illusionen der Jugend verabschiedet und blicken mit Frustration auf die Gegenwart, die in ihren Augen nur der Beginn sein kann „einer langsamen, irreversiblen Katastrophe.“ Sinnbildlich hierfür steht die Stadt Porto Alegre, in der sich Hitze und Gestank wie in Zeiten des Mittelalters über die Stadt zu legen scheinen. Keiner der drei will verständlicherweise an diesem lebensfeindlichen Ort bleiben, doch man fragt sich nach der Lektüre, ob sie denn überhaupt noch leben wollen. Alles scheint falsch an dieser Gegenwart und auch wenn es Galera gelingt, an diesen Stellen Raum für die großen Gesellschaftsfragen der Zeit aufzumachen, so wird doch auch klar, dass es hier noch um etwas anders geht: Den Kampf zwischen Jugend und Erwachsensein. Verzweifelt wird hier versucht nach den einstigen Idealen zu streben und die Vergangenheit in der Gegenwart noch einmal auszuleben, doch ebenso verzweifelt müssen die Freunde feststellen, dass diese Ideale nicht mehr in die Gegenwartsgesellschaft hineinzupassen scheinen.
Auf eine brillant-indirekte Weise gelingt es Galera, diesen Kampf durch eine Ambivalenz in der Sprache auszudrücken. Da ist zum einen die mitunter komplexe Syntax, welche überwiegend die kausalen, vernunftgeleiteten Gedankengänge eines Erwachsenen nachzuzeichnen vermag und zum anderen jedoch lassen sich in genau jenen Satzgebilden jugendsprachliche Begriffe wie „ficken“ und einen typisch jugendlichen Sexismus finden, der in einigen Passagen zwar fehl am Platz wirkt, an anderer Stelle aber geschickt auf den Wunsch der drei Protagonisten verweisen, sich die verlorenen, avantgardistischen Jugendideale zu bewahren und wenigstens in Gedanken so zu sein wie früher. Im Verlauf wird aber immer deutlicher: Dieser Kampf ist verloren. Ausbruchversuche aus der durch Massenmedien geformten Normalität und deren Oberflächlichkeit sind kaum mehr möglich. Antero bringt es auf den Punkt: „Die Zeiten, in denen ein Mensch andere schockieren kann, sind vorbei.“ und „Unaufrichtigkeit ist in ihrer reinsten Form die Ästhetik der Zukunft.“ Man gewinnt den Eindruck, dass die drei ehemaligen Freunde, dessen Verhältnis über die Jahre doch etwas gelitten hat, aufgrund des permanenten Abschweifens in Erinnerung eigentlich mehr in der Vergangenheit leben als im Hier und Jetzt. Während die Erinnerungen immer bunter und ausschweifender werden, fährt die Handlung in der Gegenwart bis zum unvorhergesehenen Schluss des Romans beinahe auf den Nullpunkt und dient nur dazu die Jugend noch einmal zu wiederholen, was mit Auroras ungeplanter Schwangerschaft und Anteros verantwortungslosem Verhalten in die Katastrophe führt. Ob von Galera beabsichtigt oder nicht: Hier entwickelt der Roman eine belehrende Wirkung. Wer in der Vergangenheit lebt, negiert die Gegenwart und Zukunft und zerstört und manipuliert sie mitunter sogar.
Galera trifft die Gegenwart an ihrer vielleicht empfindlichsten Stelle: Ihrer Oberflächlichkeit. Was verbirgt sich denn noch hinter einer Gesellschaft, in der Schönheit massenmedial genormt wird? Im Zeitalter von Photoshop und Fakenews sehnen sich die Enddreißiger nach Authentizität und treffen damit vermutlich das Lebensgefühl so einiger Menschen, die mit Polaroidbildern und verpixelten Videos aufgewachsen sind. Die Oberflächlichkeit ist jedoch kein kollektives Phänomen, sondern findet auch Einzug auch auf Individualebene, in direkter zwischenmenschlicher Beziehung und hat genau dort vielleicht ihren Ursprung. Mittels seiner Protagonisten und der wechselnden Erzählhaltung zeigt Galera uns, wie wir aus der Oberfläche eines Menschen, seinem Öffentlichkeitsauftritt in sozialen Netzwerken auf dessen Charakter und seinen Gefühlszustand schließen und uns ein fatal oberflächliches und zumeist falsches Bild machen. So fügen sich die drei ehemaligen Freund in ihrer mangelnden Kommunikation und ihrer Verschwiegenheit letztlich doch ins Bild der Zeit ein, obwohl keiner der drei sich dies einzugestehen vermag. Es scheint beinahe, als habe Galera das Geheimnis zwischenmenschlicher Nähe in der Gegenwart auf eine düstere Weise gelöst: Wir begegnen einander, betasten die Oberfläche des jeweils anderen, glauben, dass unsere Twitter-Follower unsere Freunde sind und leben letztlich ohne echte Kommunikation und Nähe immer mehr aneinander vorbei, einander ein ewiges Geheimnis bleibend und sterben schließlich geistig einsam.
Am Ende bleibt die beklemmende Frage: Wollen wir so enden?
Zum weiterlesen: https://www.suhrkamp.de/buecher/soendenwir-danielgalera42801.html

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