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Veröffentlicht am 31.05.2023

Viele Geschichten - ein Schicksal

Miss Kim weiß Bescheid
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Nach dem aufrüttelnden Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“, der die fest in der südkoreanischen Gesellschaft verankerte Misogynie anhand der Geschichte einer einzelnen, beispielhaften Frau zeichnete, ist ...

Nach dem aufrüttelnden Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“, der die fest in der südkoreanischen Gesellschaft verankerte Misogynie anhand der Geschichte einer einzelnen, beispielhaften Frau zeichnete, ist nun die Autorin Cho Nam-Joo mit einem Kurzgeschichtenband zurück.

Die acht Erzählungen haben erneut das Schicksal der Frauen und Mädchen in Südkorea zum Thema. Alle auf eine andere Weise, alle anhand von Frauen unterschiedlichstem Alters. In diesem Buch dreht die Autorin das Prinzip ihres oben genannten Romans um. Statt anhand der Geschichte einer Frau auf das Schicksal vieler Frauen zu extrapolieren, beschreiben in diesem Kurzgeschichtenband viele Geschichten ein Schicksal, nämlich das der Frauen in der südkoreanischen Gesellschaft. Und wie es auch schon dem Vorgängerroman gelang, dieses scheinbar speziell den genannten Kulturkreis betreffendes Problem auch für Leser:innen hiesiger Gefilde erfahrbar zu machen, so gelingt es auch dem vorliegenden Buch, durchaus Parallelen zu Frauenleben in jeder Gesellschaft, nicht nur der südkoreanischen, zu verdeutlichen.

So gibt es natürlich auch anderswo auf der Welt die Zerrissenheit von Müttern zwischen der Kinderversorgung, der eigenen beruflichen Karriere und anderen eigenen Bedürfnissen. Ebenso sind Paarbeziehung, in welchen Frauen durch psychische Einflussnahme des Partners unterdrückt und eingesperrt werden, überall möglich. Oder man denke an die Frau aus einer Geschichte, die ihr Leben lang für ihr Kind, die Schwiegermutter, den Ehemann da war und nun mit 60 Jahren noch erstmals das Land verlassen, eine Reise unternehmen und die bisher nur von Fotos bekannten Polarlichter selbst sehen möchte. Cho Nam-Joo nutzt in ihren Geschichten eine Altersspanne für ihre Figuren zwischen dem Grundschulalter mit der ersten Liebe und dem hohen Alter um die 90 Jahre mit Demenz und kurz vor dem Tode stehenden Protagonistinnen.

Wie beim Vorgängerroman trifft die Covergestaltung mal wieder ins Schwarze. So wird eine gesichtslose und damit austauschbare Frauengestalt gezeigt. In (wenn ich richtig aufgepasst habe) allen Geschichten kommt mindestens eine Frau Kim vor, und alle Protagonistinnen ein das Schicksal des weiblichen Geschlechts in einer Gesellschaft, die sehr stereotype Anforderungen an diese stellt. Mir gefällt die Kontinuität im Gesamtkonzept, die die Autorin durch ihre Geschichten und der Verlag durch die gestalterische Umsetzung hier an den Tag legen sehr gut.

Wie es nun einmal fast immer bei Kurzgeschichtensammlungen der Fall ist, kann nicht jede Geschichte gleich starke Reaktionen bei den Lesenden aktivieren. Mir haben fünf der acht Geschichten ganz besonders gut gefallen und mit den restlichen drei konnte ich weniger anfangen. Insgesamt überzeugt jedoch Cho Nam-Joo wieder einmal durch ihr literarisches Können, noch mehr durch ihre erzählerische Kraft und nicht zuletzt mit der Verdeutlichung der thematisierten Problembereiche. Eine äußerst lesenswerte Lektüre mit viel Abwechslung, daher glatte 4 von 5 Sterne von mir für diese aufrüttelnden Geschichten.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Die Mauer zwischen uns und „den Anderen“

Die Mauer
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John Lanchester entwirft in seinem Roman „Die Mauer“ eine nicht allzu ferne Zukunft, in welcher bereits „der Wandel“ vonstattengegangen ist, sprich, das Klima ist gekippt, der Meeresspiegel angestiegen, ...

John Lanchester entwirft in seinem Roman „Die Mauer“ eine nicht allzu ferne Zukunft, in welcher bereits „der Wandel“ vonstattengegangen ist, sprich, das Klima ist gekippt, der Meeresspiegel angestiegen, während Binnenländer austrocknen. Die Lebensbedingungen in vielen Ländern sind dadurch dermaßen beeinflusst, dass sie den Weg über „das Meer“ auf die britische Insel suchen. Die Verzweiflung muss groß sein, denn Großbritannien schützt sich vor „den Anderen“ durch eine Mauer, welche die komplette Insel vom Meer trennt. Das Meer muss bewacht werden durch junge Wehrdienstleistende, die für zwei Jahre mit scharfer Munition auf die Mauer geschickt werden. Hilfesuchende, oder im Sprech der Regierung: „Angreifer“, sollten mit allen Mitteln vom Betreten Großbritanniens abgehalten werden. Kommt einem bekannt vor? Man braucht nur „Mittelmeer“ und „Frontex“ einsetzen und schon bekommt das dystopische Buch von Lanchester natürlich auch schon seine aktuelle Relevanz.

Wir begleiten den jungen Briten Kavanagh als Ich-Erzähler zu seinem ersten Mauereinsatz. Er ist überzeugt von seinem Einsatz und plant für die Zukunft in die Elite aufzusteigen, sich Fernreisen mit dem Flugzeug leisten zu können und einfach „dazuzugehören“. Es wird für den Ernstfall trainiert, denn auf keinen Fall darf eine Person aus Richtung des Meeres die Mauer überqueren, denn es ist bekannt, dass als Exempel genauso viele Verteidiger zur Strafe aufs Meer geschickt werden, sollte ein Anderer einen Durchbruch schaffen. Kavanagh ist dabei keinesfalls der Widerständler-Protagonist, den man an dieser Stelle in einem dystopischen Roman vermuten würde. Er versucht einfach von einer Situation in die nächste zu kommen und dabei möglichst wenige Fehler zu machen. Durch die Erfahrungen, die Kavanagh im Laufe der Geschichte macht, positioniert sich Lanchester natürlich trotzdem ideologisch gegen das Vorgehen dieser zukünftigen Regierung. Die Grausamkeit einer solchen ausschließenden Politik wird immer wieder verdeutlicht. Und das schafft der Autor mit durchaus interessanten Wendungen in der Geschichte bzw. das Ausbleiben von zuvor erwarteten Wendungen. Denn Kavanagh – soviel kann verraten werden – wird auch nicht zum großen Widerständler, und bringt vielleicht noch vollkommen unrealistisch das Regierungssystem ins Wanken. Nein, das Buch erzählt eine vergleichsweise ruhige Geschichte, die wenig Hoffnung ausstrahlt und damit nicht den Weg geht, den viele dystopische Spannungsromane gehen.

Stilistisch bewegt sich Lanchester in soliden Gefilden. Der Schreibstil erlaubt eine zügige Lektüre, macht aber auch keine besonderen literarischen Sprünge. Die Figuren bleiben recht holzschnittartig und zeigen wenig psychologische Tiefe. Damit muss man leben können in diesem Roman.

Es handelt sich hierbei um einen Roman, der sicherlich nicht die Dystopie neu erfindet, aber durchaus auch einmal unerwartete Wege geht. Eine lesenswerte Lektüre, welche man eher als einfachen dystopischen Abenteuerroman und weniger als literarisches Werk sehen sollte, der fortschreibt, was sich leider derzeit in unserer Gegenwart schon bedrohlich ankündigt.

3,5 Sterne dafür von mir, die ich aufgrund des Themas und dem einmal nicht zu heldenhaften Ende aufrunde auf 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Erschreckende Zustandsbeschreibung eines Landes am Abgrund

Nacht in Caracas
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Den ein oder anderen Bericht über die Zustände in Venezuela konnten die geneigten Leser:innen in den letzten Jahren in den Medien hören/lesen/sehen. Der Staat hat versagt, Milizen haben die staatliche ...

Den ein oder anderen Bericht über die Zustände in Venezuela konnten die geneigten Leser:innen in den letzten Jahren in den Medien hören/lesen/sehen. Der Staat hat versagt, Milizen haben die staatliche Erlaubnis „für Ordnung“ zu sorgen und terrorisieren dabei einen Großteil der Bevölkerung, welche in Armut um das Überleben kämpft. Was sonst als nüchterne Reportage auf Interessierte trifft, bekommt in Karina Sainz Borgos Roman „Nacht in Caracas“ eine ganz neue, erschreckende Note.

Ganz nah an der Ich-Erzählerin Adelaida erleben wir und durchleben zusammen mit ihr die Zustände in Venezuela und speziell der Hauptstadt Caracas. Die Geschichte setzt kurz nach dem Tod der Mutter von Adelaida ein. Adelaida ist studierte Philologin und lektoriert vom Wohnzimmer aus für einen spanischen Verlag Bücher. War sie in Deutschland bestenfalls für die intellektuelle Mittelschicht qualifizieren würde, bedeutet in Venezuela nichts. Denn sie gehört nicht den Regierungsnahen an und muss daher wie ein Großteil der Bevölkerung um das tägliche Brot kämpfen. Schon die eingangs geschilderte Befürchtung ihrerseits (oder vielmehr das Wissen darum), dass kurz nachdem sie ihre Mutter unter die Erde gebracht haben wird, Grabräuber die noch frische Erde wegscharren werden, um eventuelle Schmuckstücke an sich zu nehmen, die der Toten beigelegt wurden, verdeutlicht die katastrophalen Zustände. Ab diesem Zeitpunkt bemüht sich Adelaida um eine mögliche Zukunft für sich selbst in diesem im Untergang befindlichen Gesellschaftsgefüge. Durch Rückblicke erfährt man immer mehr über das Aufwachsen von ihr mit einer alleinerziehenden Mutter und die vielversprechende Vergangenheit des Landes. In einer scheinbaren Gegenbewegung verdeutlicht der Plotverlauf in der Gegenwart nur immer schlimmere Erlebnisse und steigende Ängste und psychische Belastungen.

Die Sprache von Borgo ist atemberaubend eindringlich und zieht die Leserschaft hinein in diesen Sumpf eines Failed State. Auf nur 220 Seiten verdichtet die Autorin das Schicksal eines Landes und seiner Bevölkerung, dass es einem die Brust zuschnürt. Nur wenige literarische Werke haben die Kraft eine solch hefte Reaktion bei der Lektüre hervorzurufen und zwar faktisch bekannten Wissen mit einer starken Emotionalität zu versehen. Hier steht ein persönliches Schicksal für den Großteil einer Bevölkerung. Das ist großartig gemacht und verdient meinen Respekt. Und während in anderen Ländern die Zeit voranschreitet und auf die tiefste Dunkelheit ein neuer Tag wartet, scheint in Venezuela die Nacht nie zu enden.

Von mir gibt es für dieses erschütternde und aufrüttelnde Werk die volle Punktzahl sowie eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Anhand dieses Buches wurde mir einmal mehr verdeutlicht, wie Literatur das Wissen und den Blick auf die Welt erweitern kann, auf einer Ebene und in einem Ausmaß, auf der und in dem dies Journalismus nicht unbedingt möglich ist.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Spotlight statt Streulicht

Streulicht
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Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde verdient eindeutig Spotlight. Dies erkannten bereits mehrere Buchpreis-Komitees, weshalb der Roman nicht nur auf diversen Shortlists auftauchte sondern auch Preise ...

Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde verdient eindeutig Spotlight. Dies erkannten bereits mehrere Buchpreis-Komitees, weshalb der Roman nicht nur auf diversen Shortlists auftauchte sondern auch Preise gewann.

Im Zentrum der Geschichte steht ein Mädchen, welches im Arbeitermilieu als Kind eines deutschen Vaters und einer türkischen Mutter aufwächst. Sie kehrt eingangs für die Hochzeit eines befreundeten Pärchens in ihre alte Siedlung zurück und schildert durch Rückblenden ihr Aufwachsen und vor allem ihren Bildungsweg. Aber es handelt sich hierbei keineswegs um einen klassischen Bildungsroman, in dem das „Arbeiterkind mit Migrationshintergrund“ sich einfach mal so zur Bildungselite hinaufarbeitet. Der Roman beleuchtet detailliert, welche Faktoren zusammenkommen müssen, dass Menschen im Bildungssystem Deutschlands untergehen und schlimmstenfalls vollends abdriften.

Fast schon wie eine soziologische Fallbetrachtung wirkt dieses Prosawerk, denn es schildert ausführlichst zum Einen die geballte Diskriminierung aufgrund von class, race und gender zum anderen aber auch das persönliche Versagen, wenn Mut und Motivation mangelhaft ausfallen. So trägt jeder dieser Aspekte seinen Anteil dazu bei, dass die namenlose Protagonistin auf ihrem Lebensweg bis ins junge Erwachsenenalter immer wieder Rückschläge erlebt, hängen bleibt, überholt und übersehen wird. Die Autorin zückt dabei nicht die Keule des monokausalen Zusammenhangs zwischen Bildungschancen und „nur“ der ethnischen Herkunft der Eltern, oder „nur“ des Geschlechts“, oder „nur“ der Klassenzugehörigkeit, oder „nur“ der eigenen Persönlichkeitsmerkmale und Motivation. Sie verdeutlicht anschaulich, dass meist alle oder viele dieser Komponenten zusammenkommen, um den Lebensweg eines Menschen zu beeinflussen.

Interessiert verfolgt man, wie das Mädchen in einem Haushalt aufwächst, der nur von außen zu funktionieren scheint. Hinter verschlossenen Türen muss die Familie mit der Abhängigkeitserkrankung des Vaters umgehen, muss das Kind die cholerischen Ausbrüche des Vaters umgehen lernen, muss sie mitansehen, wie ihre Mutter die Reißleine zieht und nicht zuletzt erlebt sie stets latente Diskriminierungen vonseiten ihres äußeren Umfeldes, Vorurteile der Lehrer:innen bezüglich eines „Ausländerkindes“, was aber doch in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, was natürlich die deutsche Sprache beherrscht und sogar sehr gut Englisch sprechen kann. Dies alles hat Deniz Ohde so gekonnt in Form gegossen, dass selbst unangenehme Charaktere trotzdem auch in den persönlichen Bedingtheiten ihrer Motivation verständlich werden.

Meines Erachtens hat der Debütroman von Deniz Ohde fraglos die Aufmerksamkeit verdient, die ihm durch die schon oben genannten „Buchpreis-Komitees“ zuteil wurden. Ein Roman, der gern trotz des eher diffusen Lichteinfalls, der Streulicht eigentlich so eigen ist, im Spotlight stehen darf. Bei einer 4,5-Sterne-Bewertung runde ich aufgrund des eindrücklichen Beschreibens der Erlebnis- und Gefühlswelt dieser Heranwachsenden gern auf die volle Punktzahl auf. Daraus resultiert eine klare Leseempfehlung meinerseits für den Roman „Streulicht“.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Ein Bericht über die Kolonialzeit in Ostafrika

Nachleben
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„… ich mag Geschichten, aus denen man etwas lernen kann.“ Das lässt Abdulrazak Gurnah eine Figur in seinem Roman „Nachleben“ sagen und man hat nach der Lektüre ebendiesen Romans das Gefühl, dass auch Gurnah ...

„… ich mag Geschichten, aus denen man etwas lernen kann.“ Das lässt Abdulrazak Gurnah eine Figur in seinem Roman „Nachleben“ sagen und man hat nach der Lektüre ebendiesen Romans das Gefühl, dass auch Gurnah genau diese lehrreichen Geschichten besonders mag. Er nutzt das Mittel der Literatur, um seine Leser:innen über das selten beleuchtete Thema der kolonialen Besetzung Ostafrikas durch das Deutsche Kaiserreich aufzuklären.

Dies schafft er anhand von vier Protagonist:innen, denen er in variierender Erzählgeschwindigkeit und mit wechselndem Fokus durch die Zeit der Besetzung durch die deutsche Kolonialmacht und darüber hinaus bis in die bundesdeutsche Geschichte hinein folgt. Zwei dieser Protagonisten, Ilyas und Hamza ziehen beide für die deutsche Schutztruppe in den Krieg gegen die britischen Truppen. Ungeschönt aber auch urteilsfrei berichtet Gurnah über das Leben als sogenannter Askari und „das Leben danach“, nach dem Krieg, nach der Gewalt. Denn so deute ich den Titel des Buches „Afterlives“, statt dem Leben nach dem Tod, scheint hier das Leben nach dem Krieg für ein fernes Land (Deutschland) auf ostafrikanischem Boden. Nüchtern berichtet er von dem Spannungsfeld zwischen Unterdrückung durch die Besatzungsmacht und gleichzeitig die Faszination für „die deutschen Tugenden“. Der Autor fällt dabei eben kein Urteil, weder über seine Protagonist:innen noch über die Kolonialmacht. Er lässt das Geschehen für sich sprechen.

Mit dieser berichtenden, nüchternen Erzählweise musste ich erst einmal warmwerden und bin es wahrscheinlich nicht einmal jetzt geworden, nach Beenden der Lektüre. Und gleichzeitig kann ich anerkennen, was Gurnah hier macht und dass dies eine bewusst gewählte Distanz ist. Manchmal wirkt der Roman mehr wie ein historischer Lehrbuchtext, als ein literarisches Werk. Emotional mitreißend war die Lektüre für mich dadurch nur selten. Gleichzeitig habe ich aber sehr viel über diese geografische Region Ostafrika (ich möchte nicht von einem speziellen „Land“ sprechen, da die Ländergrenzen durch die Kolonialmächte gezogen und die vielen verschiedenen Bevölkerungsschichten in einen Topf geworfen wurden), ihre Geschichte um die Jahrhundertwende 19./20.Jh. und das Leben im Öffentlichen unter einer Besatzungsmacht wie auch im Privaten mit verschiedenen religiösen Vorstellungen, ethnischen Zugehörigkeiten, Bildungsständen und finanziellen Mitteln. Besonders im Mittelteil webt der Autor zusätzlich eine Liebesgeschichte ein, sodass dieser Roman sich keinesfalls ausschließlich im Kriegsgeschehen bewegt und von Gräueltaten berichtet.

Ich muss zugeben, dass ich zunächst vom Roman enttäuscht war. Da für mich persönlich ein Autor, der den Literaturnobelpreis erhalten hat, das Kriterium erfüllt, dass er mit seinen Büchern eine Symbiose aus gekonnter literarischer Form und wichtigem Inhalt schafft. Das wichtige historische Thema erkenne ich hier definitiv an, aber die literarische Form scheint nicht wirklich besonders oder herausragend. Meine eigenen Ansprüche waren schon vor der Lektüre aufgrund des Nobelpreises sehr hoch, wahrscheinlich zu hoch. Denn - mal provokativ gefragt - was kann ein Autor dafür, wenn sein Werk von irgendeinem Gremium ausgezeichnet wird? Man sollte ein Werk auch gesondert davon betrachten können.

Aufgrund des Schreibstils, inklusive der berichtenden, funktionalen Erzählweise und der mir nicht immer nachvollziehbaren Tempiwechsel, schwankte ich direkt nach Beenden des Buches zwischen 3 und 4 Sternen, habe mich aber aufgrund sehr aufschlussreicher Beiträge im Rahmen einer Leserunde schlussendlich doch für das Aufrunden entschieden. Gurnah erzählt eine historisch wichtige, weiterhin erschreckend wenig beleuchtete Geschichte, nämlich die der Deutschen in Ostafrika, aber eben aus Sicht der ansässigen Bevölkerung. Eine Perspektive, die aus der Feder des britisch-sansibarischen Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah unbezahlbar ist, denn wir befinden uns erst am Anfang der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte, die bisher entweder kleingeredet oder aus Sicht der Kolonialmacht geschrieben wurde. Umso wichtiger die Stimmen von Autor:innen, die vom afrikanischen Kontinent stammen und lang unterdrückte Perspektiven ans Tageslicht befördern.

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