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Veröffentlicht am 18.11.2019

Ein Buch, das die Kindheit wieder aufleben lässt

Rasmus und der Landstreicher
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"'Mutter', sagte Rasmus leise vor sich hin, wie zur Probe. 'Mutter!' Oh, wenn das nun heute doch sein Wundertag würde! Dann würde diese schöne Dame begreifen, dass keiner, keiner auf ganz Västerhaga besser ...

"'Mutter', sagte Rasmus leise vor sich hin, wie zur Probe. 'Mutter!' Oh, wenn das nun heute doch sein Wundertag würde! Dann würde diese schöne Dame begreifen, dass keiner, keiner auf ganz Västerhaga besser geeignet war, ihr Kind zu werden, als gerade er. Dann würde sie sagen, sowie sie ihn erblickte: 'Nein, sieh mal einer an, hier haben wir ja genau so einen Jungen mit glattem Haar, wie wir ihn so gern haben wollten!'"

Doch leider wird das kein Wundertag für den achtjährigen Waisenjungen Rasmus Oskarsson – ganz im Gegenteil, genau an diesem Tag geht alles schief, was nur schief gehen kann. Er wird wieder nicht adoptiert. Kinderlose Ehepaare wünschen sich doch sowieso immer nur Mädchen mit gelocktem Haar, wie Gunnar, sein bester Freund, zu sagen pflegt. Und damit scheint er auch wirklich Recht zu haben: Auch diesmal nimmt das Ehepaar ein Mädchen mit gelockten Haaren aus dem Waisenhaus mit.

Rasmus beschließt, auszurücken und auf eigene Faust auf Elternsuche zu gehen. Das Schicksal scheint es gut mit ihn zu meinen: Am ersten Tag seiner Suche lernt er den Landstreicher Paradies-Oskar kennen, der ihm erlaubt, mit ihm „auf die Walze zu gehen“, jedenfalls so lange, bis er Eltern findet, die ihn haben wollen. Rasmus hat eine genaue Vorstellung von seinen zukünftigen Eltern: Sie sollen freundlich, hübsch und reich sein. Doch das Landstreicherleben ist soweit auch nicht zu verachten, wenn man mit so jemandem wie Oskar zusammen wandert. Man singt traurige Lieder vor den Fenstern anderer Leute, und je trauriger die Lieder sind, desto zufriedener sind die Leute und die Zwei- und Fünf-Öre-Stücke regnen nur so auf einen herunter.

Wenn man auf der Walze ist, passieren jedoch nicht nur schöne Dinge. Eine dunkle Wolke braut sich über den beiden zusammen: In dem Städtchen, das auf ihrem Weg liegt, passieren seltsame Dinge und als Oskar des Diebstahls beschuldigt wird, obwohl er „unschuldig wie ‘ne Braut“ ist, bricht für Rasmus eine Welt zusammen. Trotz vieler Gefahren und Widrigkeiten des Schicksals gelingt es den Beiden die wahren Verbrecher zur Strecke zu bringen, und Rasmus, der „König der Recken“, hat am Ende sogar ein richtiges Zuhause mit Eltern, die ihn lieben so wie er ist.

Mit "Rasmus und der Landstreicher" gelingt es Astrid Lindgren wieder einmal, ein einfühlsames Buch zu schreiben. Dieses Mal handelt es sich um einen Waisenjungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein eigenes Heim mit Vater und Mutter zu haben.
Der Leser versinkt in eine Welt, die aus der Sicht eines achtjährigen Jungen geschildert wird, und es fällt schwer, nach beendeter Lektüre wieder aus ihr aufzutauchen. Denn obwohl es in dieser Welt natürlich nicht an beängstigenden, traurigen und bedrückenden Dingen fehlt, ist es eine Welt, die durch und durch von dem fröhlichen und liebevollen Blick eines Kindes geprägt ist, das in allen Erscheinungen, ob Mensch oder Natur, das Schöne sieht und das Gute voraussetzt.

Rasmus bezieht Oskar in seine Träume mit ein und das aus gutem Grund: Oskar ist ein Mensch, wie ihn sich jedes Kind als Vater wünschen würde: er ist herzlich, gutmütig, offenherzig und sprüht nur so vor Humor: „‚Ein Landstreicher zum Vater, wie würde das denn aussehen? Du willst doch nicht etwa ‘n Landstreicher als Vater haben? […] Du hast doch die ganze Zeit gesagt, du willst bei jemanden sein, der hübsch ist und reich.‘ Rasmus wandte den Kopf und sah Oskar brummig an. ‚Ich finde aber, du bist ganz hübsch.‘ Da lachte Oskar.“

Astrid Lindgrens Buch "Rasmus und der Landstreicher" zeigt die Sehnsucht eines Jungen nach einer heilen Familie, die er sich in seiner Fantasie in den blühendsten Farben ausmalt. Was er findet, ist das genaue Gegenteil. Und das zeigt, dass man von Äußerlichkeiten nicht auf das Innere einer Person schließen kann und Oskar Rasmus ein besserer Vater ist, als es wohl je jemand sein kann. Er versteht Rasmus und nimmt ihn als Kind an.




Veröffentlicht am 18.11.2019

Eines der weniger bekannten Wunder Astrid LIndgrens

Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker
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Rasmus Persson ist ein elfjähriger „munterer, blauäugiger Junge mit strubbeligem Haar“, der, wenn er nur ein bisschen weniger hitzig und ein bisschen weniger starrköpfig wäre, beinahe zum Lieblingsschüler ...

Rasmus Persson ist ein elfjähriger „munterer, blauäugiger Junge mit strubbeligem Haar“, der, wenn er nur ein bisschen weniger hitzig und ein bisschen weniger starrköpfig wäre, beinahe zum Lieblingsschüler der Lehrer an seiner Schule hätte ernannt werden können. Zusammen mit seinem Vater, dem Polizisten, der sich nur mit entflogenen „Kanarienvögeln und Betrunkenen“ abzugeben braucht, seiner Mutter, die „von außen so sanft und mild, im Innern aber wie ein Heerführer“ ist, mit seiner älteren Schwester Patricia, kurz Prick genannt, und seinem innig geliebten Rauhaardackel Toker lebt er in dem ruhigen Städtchen Västanvik.

Die sechzehnjährige Prick mit dem blonden Pferdeschwanz ist glücklich in den Mädchenschwarm Joachim verliebt, dessen Vater eine große Sammlung antiken Silbers besitzt. Joachim hat ebenfalls eine Sammlung: seinen „Ausverkaufskatalog“, in den er Photos von Mädchen einklebt, die er nicht mehr mag. Als zwischen Prick und Joachim ein Missverständnis entsteht, muss sie darum fürchten, ebenfalls in den Katalog aufgenommen zu werden. Doch das will ihr Bruder für nichts auf der Welt zulassen. Zusammen mit seinem besten Freund Pontus beschließt er, die „Rettungsmannschaft für die Opfer der Liebe“ zu gründen und Joachims Ausverkaufskatalog zu klauen.

So kommt es, dass die „zwei Rächer in blauen Leinenhosen und Turnschuhen“ des Nachts angetappt kommen. „Zur Freude aller Mücken und Rächer in der Nacht“ steht im oberen Stock von Baron von Renckens Haus das Fenster offen. In dieser Nacht haben nicht nur die zwei Rächer beschlossen, sich in Baron von Renckens Villa einzuschleichen. Auch Alfredo, der weltberühmte Schwertschlucker und sein Komplize Ernst schleichen durchs Haus. Sie haben es jedoch nicht auf Joachims Katalog, sondern auf die Silbersammlung senes Vaters abgesehen. Die beiden Verbrecher werden von Rasmus und Pontus beobachtet, die fürchten, von ihnen entdeckt zu werden.

Zunächst scheint auch alles gut zu gehen: Alfredo und Ernst ahnen nicht, dass ihnen die zwei „Rächer“ bis zu ihrem Wohnwagen folgen. Und es wäre auch alles gut gegangen, wenn nicht plötzlich Toker aufgetaucht wäre und durch sein lautes, eifriges Hundegebell zu verstehen gegeben hätte, wie vergnügt er ist, sein Herrchen gefunden zu haben.

Von nun an erfährt Rasmus’ Leben eine höchst dramatische Wende: Nun heißt es Toker, der von den Einbrechern als Geisel genommen wird, mit der Hilfe seines besten Freundes Pontus zu befreien, die Silberdiebe zur Strecke zu bringen und damit den „schlimmsten Kriminalfall in der Geschichte von Västanvik“ aufzuklären? Natürlich gelingt es den beiden „kleinen Lümmeljungs“, denn „der Rasmuus, der ist ein hübschen und klugen Kind, der!“, wie Alfredo selbst zugeben musste. Rasmus bekommt nicht nur seinen heißgeliebten Dackel wieder und überführt die Diebe, sondern führt am Ende sogar die beiden zerstrittenen Verliebten wieder zusammen.

Astrid Lindgren gelingt es, mit diesem Roman nicht nur eine vollends glaubwürdige Geschichte aus der Sichtweise eines elfjährigen Jungen zu schildern, sondern sie schafft es eine Welt zu konstruieren, in die jedes Kind (und auch jeder Erwachsene) mit Freuden eintauchen wird, um dem Alltag zu entfliehen und seinen Träumen vom Leben nachzugeben. Der 'Traum vom Leben' sind all die Sehnsüchte, die Kinder und nicht selten auch Jugendliche und Erwachsene in ihrem Herzen tragen.


Veröffentlicht am 05.11.2019

Mehr als eine Autobiographie

weiter leben
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"weiter leben" ist mehr als nur eine Autobiographie. Mehr als eine Verarbeitung von Holocausterfahrungen. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem nachkriegszeitlichen Umgang mit der Shoahthematik. Von ...

"weiter leben" ist mehr als nur eine Autobiographie. Mehr als eine Verarbeitung von Holocausterfahrungen. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem nachkriegszeitlichen Umgang mit der Shoahthematik. Von der Autorin erzählte Erlebnisse stehen nie alleine für sich da - sie dienen stets der Deutung des menschlichen Wesens, der Ableitung über menschliches Denken und Handeln. Thematisiert wird die Bedeutung und Sinnhaftigkeit von, als allgemeingültig angenommenen, Schemata, in die der Holocaust gezwängt wird. Abstrakte Begriffe und Gefühle werden auseinandergenommen, in Relation zu den mit ihnen verbundenen Entitäten gesetzt und so zu ihrem Ursprung zurückgeführt. "weiter leben" ist ein tiefenpsychologisches Studium über die menschliche Seele.

Veröffentlicht am 30.10.2019

Rebecca meets Jane Eyre

Das Geheimnis von Shadowbrook
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Es ist Winter 1918 als die 24jährige Clara Waterfield auf ihr noch nicht sehr langes und doch sehr bewegtes Leben zurückblickt. Geboren mit der Krankheit Osteogenesis imperfecta, auch als Glasknochenkrankheit ...

Es ist Winter 1918 als die 24jährige Clara Waterfield auf ihr noch nicht sehr langes und doch sehr bewegtes Leben zurückblickt. Geboren mit der Krankheit Osteogenesis imperfecta, auch als Glasknochenkrankheit bekannt, lebt sie in London ein Leben voller Entbehrungen. Ihre Kindheit und Jugend verbringt Clara in einem gepolsterten Zuhause, wobei sie lediglich dank der Erzählungen ihrer Mutter und dank der großen persönlichen Bibliothek eine Verbindung zu der Außenwelt herstellen kann. Erst mit Vollendung ihres achtzehnten Geburtstages ist es ihr erlaubt das Haus zu verlassen. Zu dem Zeitpunkt hat Clara bereits ihre Mutter an eine schwere Krankheit verloren. Als die Halbwaise eines Tages das Angebot erhält, auf einem Anwesen in Gloucestershire ein Palmenhaus einzurichten, zögert sie nicht lange und folgt dem Ruf nach Freiheit und Unabhängigkeit. Eine seltsame und verwirrende Situation trifft sie dort an: Während die Gärten des Landsitzes Shadowbrook üppig sind und nur so vor Leben sprühen, stellt das alte Wohnhaus das genaue Gegenteil davon dar. Es befindet sich in einem desolaten Zustand, die meisten Räume sind verschlossen, der Eigentümer Mr. Fox ist nur selten da und die Haushälterin sowie die Dienstmädchen sind verschreckt und ängstlich – denn in dem Haus soll der Geist einer verlorenen Seele ihr Unwesen treiben. Während die unerschrockene Clara, die nicht an Geister glaubt, dem Ganzen auf den Grund zu gehen versucht, verstrickt sie sich immer mehr in die Geschichte von Shadowbrook, die sie zunehmend mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.

Zunächst möchte ich auf die große Faszination, die das Buch rein äußerlich auf mich ausgeübt hat, eingehen. Ich könnte mich angesichts des wunderschönen Covers der deutschen Romanausgabe in nicht endenden Lobeshymnen ergehen – das blumenumrankte goldene S ist eine Augenweide, an der man sich nicht sattsehen kann. Auch innen ist das Buch mit seinem edlen Papier, dem festen Einband und Kapitalband äußerst sorgfältig ausgearbeitet.

Auch die inneren Werte des Roman sind nicht zu verachten. „Das Geheimnis von Shadowbrook“ ist ein faszinierender und geheimnisvoller Roman, der den Leser bis zum Ende in Atem hält. Wer Bücher wie „Jane Eyre“ und „Rebecca“ mag, ist mit „Das Geheimnis von Shadowbrook“ bestens beraten. Die Parallelen zu „Jane Eyre“ sind unübersehbar: Eine (Halb)Waise, die sich selbst für unscheinbar und wenig reizvoll hält sowie sich ihrer eigenen charakterlichen Stärke nicht bewusst ist, kommt zur Erfüllung einer mehr oder weniger prosaischen Aufgabe auf ein Anwesen, auf dem merkwürdige Dinge vor sich gehen. Beide Protagonistinnen sind unkonventionell und verfügen über eine starke, leidenschaftliche und überzeugende Erzählerstimme. Sie sind ihrer Zeit im Denken und Handeln weit voraus, wodurch sie einen enormen Eindruck auf ihre Umwelt ausüben. Liebe, Glauben, Verlust und Verantwortung sind in beiden Romanen Themen von zentraler Bedeutung. Beide Romane sind als Bildungsromane mit psychologischen Elementen und Bestandteilen der Schauerliteratur zu verstehen. Wobei diese Bausteine – insbesondere der letzte – ebenfalls eine enge Verbindung zu Daphne du Mauriers „Rebecca“ herstellen. Auch hier haben wir es mit einem Anwesen mit einer geheimnisvollen, beängstigenden Aura zu tun, in dem der Geist einer Verstorbenen stets lebendig zu sein scheint und es zu unheilvollen Ereignissen kommt. Die intertextuellen Bezüge von „Das Geheimnis von Shadowbrook“ zu „Jane Eyre“ und „Rebecca“ sind somit offensichtlich. Trotzdem ist die Geschichte von „Das Geheimnis von Shadowbrook“ eine ganz andere als die von „Jane Eyre“ und „Rebecca“. Kaum glaubt man eine Parallele, einen ähnlichen Erzählstrang entdeckt zu haben, entwickeln sich die Dinge doch ganz anders als erwartet. Denn auch Susan Fletcher beherrscht die Kunst der Verschleierung und stufenweisen Geheimnisenthüllung wie ihre Vorgängerinnen auf hervorragende Weise. Kaum glaubt man als Leser der Wahrheit auf den Grund gekommen zu sein, wird man mit einer neuen Erkenntnis oder überraschenden Wendung konfrontiert, die alles in ein neues Licht rückt. Vielleicht ist Fletchers Protagonistin etwas blasser als Jane Eyre oder Mrs. de Winter und nicht mit einer ganz so großen Affinität zur Identifikation bedacht wie diese, nichtsdestotrotz ist sie eine ungewöhnliche und starke Romanfigur. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch auf ein Buch treffen würde, das eine fast ebenso große Faszination wie „Jane Eyre“ oder „Rebecca“ auf mich ausüben würde!

Veröffentlicht am 25.10.2019

Ein literarisches Experiment

Drei
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Orna sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren zehnjährigen Sohn verlassen hat, und meldet sich auf einer Online-Dating-Plattform an, auch wenn sich das Flirten mit anderen Männern noch sehr ...

Orna sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren zehnjährigen Sohn verlassen hat, und meldet sich auf einer Online-Dating-Plattform an, auch wenn sich das Flirten mit anderen Männern noch sehr fremd anfühlt. Emilia ist fremd in Israel. Als der alte Mann, den sie pflegt, stirbt, muss die Lettin wieder ganz von vorn anfangen. Sie sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Ella wiederum braucht dringend Pause von ihren drei kleinen Kindern. Ist sie auf der Suche nach einem Abenteuer?

Drei verschiedene Frauenschicksale. Mit einer Gemeinsamkeit: Sie alle finden denselben Mann.

Der Roman ist in drei Abschnitte geteilt, wobei jeder Abschnitt jeweils einer der drei oben kurz umrissenen Frauen gewidmet ist. Interessanterweise entscheidet sich der Autor dafür die Schicksale der beiden ersten Figuren anhand des personalen Erzählers zu schildern – die Funktion dieses Erzählers ist klar: das Geschehen wird ausschließlich aus der Perspektive der jeweiligen Person erzählt, der Leser weiß somit nur so viel wie die Figur selbst – im letzten Abschnitt wechselt sich der personale Erzähler jedoch mit dem auktorialen Erzähler ab. Dieser Erzähler ist allwissend, er kennt Orna und Emilia, die er im Text oftmals direkt anspricht. Er lädt den Leser ein, sich ihm anzuschließen und ab einem gewissen Zeitpunkt wird der Leser unweigerlich dieser Einladung nachgehen und sich zu dem auktorialen Erzähler gesellen.

Neben diesem formalen Experiment, zeichnet sich der Roman durch die vielen unerwarteten Wendungen und Entwicklungen aus, die in starkem Kontrast zu dem analytisch-bedächtigen Erzählstil stehen. Dror Mishani weiß mit Sprache umzugehen. Er führt den Leser gekonnt in eine illusionäre Sicherheit, aus der das jähe Herausreißen einen geradezu schockartigen Effekt hat.

Mit einem feinen Gespür für das Dezente zeichnet er in seinem Roman psychologisch stimmige Porträts dreier verschiedener Frauen. Wie der Autor es selbst in Worte fasst, „schreibe [er] aus der Sicht von Frauen, weil [s]eine Figuren in der Lage sein müssen, die ganze Bandbreite an Gefühlen zu empfinden und auszudrücken, die [er] ihnen mitgeben will.“ Dies gelingt dem Autor einwandfrei. Sowohl die Gedankengänge und Gefühle der Figuren als auch ihre Handlungen sind aus Leserperspektive vollkommen nachvollziehbar. Leider trifft dies jedoch an vielen Stellen für den Mann, der eine Rolle in den Schicksalen dieser drei Frauen spielt, nicht zu. Um die Geschichte nicht zu spoilern, möchte ich nicht näher auf diese Textstellen eingehen. Oder allgemeiner gesagt, es ist die große Frage nach dem „Weshalb?“. Dies kann man als Schwachstelle des Romans sehen, muss aber nicht. Für eine vollkommene literarische Überzeugung hat es bei mir persönlich aber daher nicht gereicht, weshalb ich statt der fünf nur vier Sterne für den Roman vergebe.

„‚Drei‘ handelt […] von unserer Pflicht, die Menschen um uns herum und ihre Leben zu sehen, wahrzunehmen. Es ist vor allem ein Roman über unsere Verantwortung gegenüber den Lebenden und gegenüber den Toten, die immer noch bei uns, »im Leben« sind.“