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Veröffentlicht am 26.02.2022

Aller guten Dinge sind drei - noch spannender und überraschender als die Vorgänger

Keeper of the Lost Cities – Das Feuer (Keeper of the Lost Cities 3)
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„Ich glaube, du bist vielleicht die Einzige, die wirklich versteht, in welchem Chaos unsere Welt versinkt. Alle anderen - sogar mein Dad- wollen immer noch so tun, als wäre alles wieder völlig normal.
Aber ...

„Ich glaube, du bist vielleicht die Einzige, die wirklich versteht, in welchem Chaos unsere Welt versinkt. Alle anderen - sogar mein Dad- wollen immer noch so tun, als wäre alles wieder völlig normal.
Aber du glaubst das nicht?
Ich glaube, es wird alles noch viel schlimmer, bevor es wieder besser wird.“

Sophie erhält alarmierende Nachrichten: Alicorndame Silveny zeigt sich in ihrem neuen Zuhause, der Zuflucht, völlig verstört und desorientiert. Sophie, die eine besondere Verbindung zu dem Tier hat, wird gebeten nach dem Rechten zu sehen. Doch sie kann keine Entwarnung geben, irgendjemand hat es auf Silveny abgesehen. Sophie soll zudem überraschenderweise Fintan, einen berüchtigten Mörder, treffen, so will es der Hohe Rat. Bei dem Treffen der beiden kommt es zu einer Katastrophe, in deren Folge Sophie einen schweren Fehler begeht und erneut gegen Regeln verstößt. Und wieder entscheidet der Hohe Rat, wie es mit Sophie weitergehen soll. Ob sie wie bisher mit Milde rechnen kann und auf der Foxfire-Schule bleiben darf?

Shannon Messenger erzählt gewohnt flüssig und verständlich in der ersten Vergangenheit. Nachdem ich mich nun schon länger mit der Elfenwelt befasse, sind mir die Begrifflichkeiten nun klarer, dennoch würde ich mir ein Glossar der wichtigsten Spezialausdrücke und eine Personenübersicht zur besseren Orientierung wünschen.
Das Buch richtet sich an ausdauernde Leserinnen und Leser ab elf Jahren, aber sicher auch an fantasybegeisterte Erwachsene.

Die Personenkonstellation ist ausgesprochen vielfältig. So vielfältig, dass ich als Leserin mitunter immer noch die Übersicht verlor. Die Übersicht über ihre Fähigkeiten verliert auch manchmal Hauptfigur Sophie Foster, sie hat es sehr schwer in der für sie immer noch neuen Welt der Elfen, die genausowenig die ihre ist wie die der Menschen. Sophie sieht sich trotz ihrer beeindruckenden Kräfte und Talente als „fehlgeschlagenes Experiment“. Da haben ihre neuen Eltern Grady und Edaline alle Hände voll zu tun, sie zu stärken und für sie da zu sein. Sehr gut gefällt mir, wie die drei immer mehr Vertrauen zueinander aufbauen. Die Distanz ist Nähe gewichen, Sophie hat jetzt eine Familie. Und auch viele gute Freunde: Keefe, der mit seinen Eltern Schwierigkeiten hat und zu Hause wenig Wertschätzung bekommt, Dex, der in der Elfenwelt wegen der „unpassenden“ Verbindung zwischen seinem Vater und seiner Mutter einen schweren Stand hat und sich nach Anerkennung sehnt und die aus einer privilegierten Familie stammenden Geschwister Fitz und Biana, die erfahren müssen, dass doch nicht alles so eindeutig ist, wie es scheint.
Den Charakter Sandor, Sophies Beschützer, mag ich besonders. Auf ihn kann Sophie zählen, für witzige Momente sorgen immer wieder die Begegnungen Sandors mit Keefe.


Der dritte Band der Reihe lässt seine Leser noch viel tiefer in das Universum der Elfen eintauchen. Immer noch gibt es zahlreiche Geheimnisse, die gelüftet werden müssen, immer noch habe ich nicht jeden Aspekt genau erfasst, aber ich bin nun richtiggehend süchtig nach dieser Reihe geworden. Dass nun die glatte, perfekte Elfenwelt Risse bekommt, bringt extra Spannung und Würze in die Handlung. Auch unter den Elfen gibt es nun offensichtlich das Böse, aber wo und in wem es lauert, ist längst nicht klar. Das macht „Keeper of the lost cities - Das Feuer“ besonders faszinierend. Vor allem eine spezielle, sehr unerwartete Wendung hat mich geschockt. Dass eine Gesellschaft, die vorgibt und zu kontrollieren versucht, wen man aus Gründen der DNA lieben darf und wen nicht, nicht ganz unumstritten sein kann, wird immer deutlicher. Wie detailliert und komplex die Autorin die Parallelgesellschaft und ihre Eliten entworfen hat, beeindruckt mich. Und auch wenn die Elfen es nicht zugeben würden, haben die Elfen in ihrem Verhalten durchaus große Ähnlichkeiten mit den von ihnen so verachteten Menschen.
Ich würde mir nach wie vor noch mehr reale Begegnungen der Figuren und nicht nur solche in Gedanken wünschen, aber ich werde mich schon noch an den Umstand gewöhnen, dass bei den Elfen Kommunikation eben anders abläuft.
Nach drei Bänden bin ich jedenfalls nun ich ein echter Fan der Bücher geworden. Eine Reihe für alle, die fesselnde, phantastische und herausfordernde Geschichten über besondere Freundschaften mögen.

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Veröffentlicht am 18.02.2022

Murr - unterhaltsame Zusammenstellung von allem, was man über Katzen wissen muss und noch viel mehr

Pfoten vom Tisch!
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„Das Leben und dazu eine Katze, das ergibt eine unglaubliche Summe, ich schwör‘s euch!“ Rainer Maria Rilke

Oder wie es die Großmutter meines Vaters ausdrückte: „A Katz im Arm, hält a schee warm.“
Katzen ...

„Das Leben und dazu eine Katze, das ergibt eine unglaubliche Summe, ich schwör‘s euch!“ Rainer Maria Rilke

Oder wie es die Großmutter meines Vaters ausdrückte: „A Katz im Arm, hält a schee warm.“
Katzen sind enorm vielseitige, besondere Tiere. Da kann Autor Hape Kerkeling einiges an persönlichen Erfahrungen, Anekdoten und Geschichten beisteuern. Und die sind durchaus sehr unterhaltsam. Dazu liefert er noch reichlich Ratschläge zum praktischen Leben mit einer Katze, Sachinformationen über Katzenrassen, berühmte Katzen, Katzenpsychologie und vieles mehr. Er schließt mit seiner Version des berühmtesten Katzenmärchens der Welt.

Der Autor selbst liest sein Buch. Der Text ist - wie von Hape Kerkeling gewohnt - kurzweilig und mit sehr viel Humor geschrieben. Dass er selbst liest, macht das Hörbuch doppelt interessant. Hape ist ein geborener Entertainer, sein Vortrag wunderbar lebendig, abwechslungsreich, einfach sympathisch. Immer wieder nimmt er sich auch selbst auf die Schippe. Für mich könnte Hape auch über Mehlsorten oder Zement reden und ich würde ihm gebannt zuhören.

Wer mit Katzen vorher nichts anfangen konnte, wird sie nach dem Hörbuch mit etwas anderen Augen sehen. Ihre Eigenarten beschreibt der Autor so liebenswert und lebensnah, dass man einfach nicht anders kann, als von den Tieren hingerissen zu sein. Waren für mich Katzen vorher halt Katzen, sind sie jetzt faszinierende Tiere, die es durchaus verdient haben, sich intensiver mit ihnen zu befassen. Bevor ich im Alter alleine sein sollte, werde ich es wie meine Urgroßmutter halten. Hape hat mich überzeugt. Und er hat absolut recht: Ob eine schwarze Katze Pech bedeutet, hängt alleine davon ab, ob man ein Mensch oder eine Maus ist. Ein Hörbuch für alle Katzenliebhaber und solche, die sich vorstellen könnten, einer zu werden.

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Veröffentlicht am 18.02.2022

Vivaldis liebste Geigenschülerin und ihre Geschichte

Signorina Vivaldi
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„Du bist mit deinem Klang in die Tiefe meiner Seele vorgedrungen. Das wird auch bei deinen Kolleginnen so sein. Du wirst sie begeistern, Anna Maria.“

Als Säugling wird Anna Maria in dem venezianischen ...

„Du bist mit deinem Klang in die Tiefe meiner Seele vorgedrungen. Das wird auch bei deinen Kolleginnen so sein. Du wirst sie begeistern, Anna Maria.“

Als Säugling wird Anna Maria in dem venezianischen Waisenhaus Ospedale della Pieta gefunden. Das Mädchen wächst unter dem strengen Regime der Nonnen in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie wünscht sich an Weihnachten 1702 nichts mehr als eine Familie. Ihr Wunsch geht im nächsten Jahr auf eine andere Art in Erfüllung. Der Priester Don Antonio Vivaldi arbeitet im Waisenhaus als Musiklehrer und erkennt sofort Anna Marias außergewöhnliches musikalisches Talent. Bald verzaubert das Mädchen auf der Geige all ihre Zuhörer. Vivaldi unterrichtet und fördert seine Schülerin und schreibt Kompositionen für sie. Doch immer wieder kommt es zu Unstimmigkeiten zwischen Vivaldi und der Mutter Oberin, die die besondere Beziehung zwischen Anna Maria und dem Komponisten mit Argusaugen beobachtet. Schließlich wird Vivaldi entlassen. Wie geht es für Anna Maria weiter?

Verena Maatmann schreibt angenehm, klar, flüssig und unkompliziert. Ihre Wortwahl ist sicherlich eher modern als zeitgemäß, aber die Geschichte ist dafür umso verständlicher und eingängiger zu lesen.

Die Hauptfigur Anna Maria kann einem nur leid tun. Sie erlebt Tragisches. Als Waise weiß sie nicht, woher sie kommt. Sie hat nie die Liebe einer Familie erfahren. Zwar gibt es auch im Heim Nonnen, die den Kindern Zuneigung entgegenbringen, doch fehlt es natürlich grundsätzlich an Geborgenheit. Anna Maria braucht dringend eine Person an ihrer Seite, die sie versteht, die ihr zuhört und die sie stärkt. Für die Musik empfindet Anna Maria eine besondere Liebe, in ihr Geigenspiel legt sie all ihre Gefühle. Sie ist ausgesprochen ehrgeizig, möchte durch ihre Musik überzeugen. Antonio Vivaldi drückt es so aus: „Aber du hast die Gabe mit deinem Spiel die Herzen der Menschen zu berühren, in ihnen Gefühle zu wecken, von denen viele vielleicht gar nicht ahnen, dass sie in ihnen schlummern.“
Einige Mitschülerinnen wie Faustina und Delia entwickeln sich zu engen Vertrauten für Anna Maria. Auch sie erleben traurige Schicksalsschläge.
Antonio Vivaldi ist ein echter Lichtblick, er kümmert sich innerhalb seiner Möglichkeiten um Anna Maria, nennt sie stets „Engelchen“. Anna Maria ist seine Muse, er behandelt sie wie eine Tochter. Mitunter wirkt der Komponist auch etwas abwesend, wie der Welt entrückt, was seine Charakterisierung für mich umso glaubwürdiger macht.

Auch wenn sicher viele Handlungsstränge fiktiv und historisch nicht ganz korrekt sind - wie die Autorin im Nachwort ausführlich erläutert - hat es die beiden Hauptfiguren Anna Maria und Antonio Vivaldi natürlich gegeben. Vivaldi „schwebt“ leise durch den Roman. Es war interessant, den Komponisten auf eine neue Art, als Förderer und zurückhaltende Vaterfigur kennenzulernen. Das Buch regt an, sich näher mit seiner wunderschönen Musik zu beschäftigen. Auch Anna Maria Dal Violin ist eine sehr faszinierende Figur. Ihre teils tragische Geschichte hat mich gepackt, mitgerissen und bis zum Schluss gefesselt. Ich habe durchgehend mit ihr gelitten. Ebenso war ich sehr angetan vom Schauplatz des historischen Venedigs. „Signorina Vivaldi“ kann ich allen, die historische Romane, klassische Musik und interessante Charaktere mögen, nur ans Herz legen. Nach „Frau Beethoven“ ein weiteres lesenswertes Buch der Autorin.

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Veröffentlicht am 13.02.2022

Unterhaltsamer Wohlfühlroman mit viel Romantik, Humor und sympathischen Figuren

Gemeinsam ist man besser dran
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„Es hätt noch immer joot jejange.“

Tilda ist wie Mutter Teresa. Statt um sich selbst zu kümmern, sorgt sie sich immer zuerst um andere wie um ihre Schwester Mia oder um ihre Mitarbeiter in ihrem gemeinnützigen ...

„Es hätt noch immer joot jejange.“

Tilda ist wie Mutter Teresa. Statt um sich selbst zu kümmern, sorgt sie sich immer zuerst um andere wie um ihre Schwester Mia oder um ihre Mitarbeiter in ihrem gemeinnützigen Laden, denen sie eine zweite Chance bietet. Als Tildas Laden Flea Market, der in einer ehemaligen Knopffabrik untergebracht ist, einem Neubau weichen soll, hofft Tilda mit ihrem Geschäft im alten Theater gegenüber unterkommen zu können. Doch Noah Berger, ein ehemaliger Soapstar, kauft das Theater für sich. Tilda hat einen guten Grund, den etwas abgehobenen „schnöseligen Möchtegern-Schauspieler“ Noah unsympathisch zu finden. Doch dann lernt sie ihn näher kennen und blickt hinter die glatte Fassade..

Sylvia Deloys erzählt klar und flüssig in der ersten Vergangenheit und der dritten Person, ihr unkomplizierter Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen. Dass immer wieder von verschiedenen Personen im kölschen Dialekt gesprochen wird, macht die Geschichte sehr authentisch und lebensnah.

Schon in ihren vorhergehenden Romanen beweist Sylvia Deloy, dass sie ein Händchen für sympathische, einnehmende Protagonistinnen hat. Hauptfigur Tilda ist eine „Seelenöffnerin“, die es rasch schafft, das Vertrauen anderer zu gewinnen, die sich ihr gegenüber dann schnell öffnen. Tilda erinnert an die selbstlose Amelie aus ihrem Lieblingsfilm „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Sie kümmert sich darum, dass es anderen gut geht und vergisst dabei oft sich selbst. Aber wer kümmert sich um Tilda selbst? Aufgrund traumatischer Erlebnisse in ihrer Jugend hat Tilda das Vertrauen in sich selbst verloren und bräuchte dringend jemanden, der zu ihr hält und sie stärkt.
Noah Berger wirkt nur auf den ersten Blick selbstbewusst. In ihm drin sieht es ganz anders aus…Noah sucht noch das, was ihn wirklich glücklich macht.
Zur Figurenkonstellation gehören noch Katja, Tildas zuverlässige Freundin und Mitbewohnerin und Tildas wunderbar sympathische Mitarbeiter Helga und Cem. Vor allem die direkte Helga mit der traurigen Vergangenheit sorgt immer wieder für komische Momente. Mich hat beeindruckt, wie positiv sie trotz ihrer schweren Schicksalsschläge bleibt. Helga lässt sich einfach nicht unterkriegen.

Wieder einmal hat Sylvia Deloy einen wunderbaren, vielseitigen Wohlfühlroman geschrieben.
Es geht um Altlasten, Scheitern, erlittene Traumata, Familie, Freundschaft, Selbstfindung, aber auch um Heilung. Und natürlich kommt dabei auch die Romantik nicht zu kurz. Beim Versuch ihren Laden zu retten, rettet Tilda auch den ein oder anderen Menschen und vielleicht auch sich selbst? Gleichzeitig erfährt sie, dass Lieben auch heißen kann, loszulassen. Wieder einmal spielen Köln und seine typischen Bewohner in Deloys Roman eine bedeutende Rolle. Wer „Die fabelhaft Welt der Amelie“, Köln und unterhaltsame Liebesgeschichten mag, wird Tilda und „Gemeinsam ist man besser dran“ lieben.

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Geschichte hautnah - ein starkes, wichtiges Buch

Heul doch nicht, du lebst ja noch
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Im Juni 1945 ist der Zweite Weltkrieg endlich vorbei. Drei Kinder erleben das Kriegsende auf ihre eigene, ganz persönliche Weise. Jakob hat eine jüdische Mutter, die zwangsdeportiert wurde, er lebte die ...

Im Juni 1945 ist der Zweite Weltkrieg endlich vorbei. Drei Kinder erleben das Kriegsende auf ihre eigene, ganz persönliche Weise. Jakob hat eine jüdische Mutter, die zwangsdeportiert wurde, er lebte die letzte Zeit versteckt und weiß zunächst gar nichts vom Kriegsende. Traute langweilt sich, sie möchte zu gerne bei den anderen Jungen mitspielen, doch die lassen sie nicht. Zu Hause findet Traute keine Ruhe, seit in die Wohnung Fremde einquartiert wurden. Hermann war früher in der Hitlerjugend, verehrte Adolf Hitler und hoffte auf den deutschen Sieg. Nun muss er sich mit der Realität auseinandersetzen. Die ist hart: Hermanns Vater hat im Krieg beide Beine verloren und ist nun ständig auf Hermanns Hilfe angewiesen.

Kirsten Boie schreibt nüchtern, schlicht, schnörkellos und klar, abwechselnd aus der Sicht ihrer drei Protagonisten im Präsens. Der Einstieg in die Geschichte erfolgt recht unvermittelt. Ich musste mich zunächst kurz orientieren, doch nach einigen Leseabschnitten konnte ich mich dann in die Handlung hineinversetzen. Die Geschichte richtet sich an Jugendliche ab 13 Jahren.

Die drei Hauptfiguren haben eine ganz unterschiedliche Perspektive auf das Kriegsende. Hermann wurden in der Hitlerjugend „deutsche Werte“ vermittelt, er war vollkommen überzeugt von Hitler und dem deutsche Reich. Von einem Moment auf den anderen soll alles, was für ihn unumstößlich sicher war, nicht mehr gelten. Sein Vater ist nun ein Krüppel, womit er sich nicht abfinden kann. Unter Vaters Zustand leidet natürlich seine ganze Familie. Hermann wirkt oft harsch und grob, aber eigentlich sehnt er sich nur nach Freiheit. Er hat Angst, für immer in der Pflicht zu stehen und nie von der Verantwortung für seinen Vater loszukommen.
Trautes Leben bietet keine Abwechslung. Traute hilft in der Bäckerei ihrer Eltern. Doch das ist keine Herausforderung für sie, Traute langweilt sich, fühlt sich einsam, sie wünscht sich den Umgang mit Gleichaltrigen und wieder in die Schule gehen zu dürfen, mehr Normalität. Gleichzeitig fühlt sie sich mit ihrer beengten Wohnsituation überfordert. Mit ihr hat es das Schicksal vergleichsweise noch „gut“ gemeint.
Jakob hingegen steht vollkommen allein und mittellos da, seine Eltern wurden ins Konzentrationslager geschickt. Dass er sich nun nicht mehr verstecken muss, ist völlig neu für ihn. Er hat keine Ahnung, wie es für ihn weitergehen soll.

Kirsten Boies neuestes Buch zeigt eines ganz deutlich. Der Krieg hat das Leben aller verändert. Die einen traf es wie Jakob und Hermann härter, die anderen wie Traute hatten mehr Glück. Aber niemand blieb verschont, jeder verlor Hoffnungen und Träume, musste sich umstellen. Hermann erinnert Jakob mit den Worten„ Heul doch nicht, Du lebst ja noch“ daran, dass es immer jemanden gab, den es noch schlimmer erwischt hat. Wie kann man sich da beklagen?
Was der Krieg wirklich für die einzelnen Menschen bedeutete, wird hier sehr anschaulich und sehr nachfühlbar offensichtlich. Geschichte erhält ein persönliches Gesicht, wird trotz des recht einfachen, nüchternen Schreibstils mit Gefühlen und persönlichen Schicksalen gefüllt. Der Krieg schrieb zigtausend verschiedene einzelne Geschichten, jede ist individuell. Hier werden einige erzählt. Geschichte ist immer komplex, nie schwarz oder weiß. Und für jeden, der nicht selbst betroffen war, ist es unmöglich, ein Urteil zu bilden. Niemand kann sagen, wie er in bestimmten Situationen reagiert hätte.
Das Buch eignet sich hervorragend zur Besprechung im Geschichtsunterricht. Es stellt neben bloßer Fakten deutlich dar, wie sich die Betroffenen wirklich fühlten, welche Herausforderungen es zu bewältigen galt, wie das Leben damals wirklich aussah.
Das Ende ist ein offenes, lässt Raum für Vorstellungen. Anfangs irritierte mich das und vielen Lesern wird es sicher ähnlich gehen, so kommt mir das Buch doch wie eine bloße Situationsbeschreibung, eine Momentaufnahme vor. Aber im Deutschland zur Stunde Null war eben vieles offen. Große Enttäuschungen mussten verarbeitet werden, aber gleichzeitig machte sich langsam auch Zuversicht und Hoffnung auf bessere Zeiten breit. So banal es klingt: Vieles musste erst einmal schlimmer werden, bevor es besser wurde.
Boies Buch hat mich sehr nachdenklich gestimmt, es treibt mich nach wie vor um und erinnert mich daran, dass alle politischen Ereignisse nicht schwarz oder weiß zu sehen sind. Immer wenn viele Menschen beteiligt und betroffen sind, gibt es keine Eindeutigkeiten mehr, sondern immer mehrere Perspektiven und Dimensionen.
„Heul doch nicht, du lebst ja noch“ ist ein beeindruckendes, wichtiges Werk, das eine Brücke zum Verständnis der deutschen Geschichte und der Identität unserer Vorfahren baut.


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