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Julia_Matos

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.05.2018

Guter Erzählstil, unterhaltsam, ohne mitzureißen

Vicious Love
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Ich bin in meiner Meinung zwiegespalten.
Ich mag den LYX-Verlag, und von der Buchreihe hatte ich viel Gutes gehört. Der Klappentext passt gut zum Inhalt und weckte bei mir positive Assoziationen zum wunderbaren ...

Ich bin in meiner Meinung zwiegespalten.
Ich mag den LYX-Verlag, und von der Buchreihe hatte ich viel Gutes gehört. Der Klappentext passt gut zum Inhalt und weckte bei mir positive Assoziationen zum wunderbaren Film „Eiskalte Engel“.

Daumen hoch für den Erzählstil: Kapitelweise wechselnd begibt man sich in den Bewusstseinshorizont von Emilia und Vicious, 28 Jahre alt, deren Lebenswege sich in New York zum zweiten Mal kreuzen. Bereits im Alter von 18 Jahren hatten sie in Los Angeles über mehrere Monate interagiert, mit unerfreulichem Ausgang. In einigen an passender Stelle gesetzten und als Rückblenden gekennzeichneten Kapitel lernt man Wunden, Vorbehalte und Hoffnungen zu verstehen. Neugierig machend, ohne Verständnisschwierigkeiten flüssig lesbar. Keine doppelten Szenenwiedergaben, sodass es nicht langweilig wird. Lob dafür, dass sich die Kapitel je nach Perspektive im sprachlichen Ausdruck unterscheiden und zum jeweiligen Charakter passen.

Ich nehme an, dass die Autorin viel Inspiration aus den berühmten Werken „Ein ganzes halbes Jahr“ und „Shades of Grey“ gezogen hat. Nicht nur die Mainstream-Liebesroman-Motive „Bindungsunfähiger reicher sexy Mann und herzensgute mittellose hübsche Frau“ und „Boss und Angestellte“, sondern auch Verhaltensstörungen nach Misshandlung in der Kindheit, Tetraplegie, ausgefallener Kleidungsstil ...

„Egal, was Vicious für mich empfand, meine Gefühle für ihn kannte ich ganz genau. Und es war kein Hass. Bei Weitem nicht.“ Dieses Zitat aus dem Buch rund um die These, dass Liebe und Hass nahe beieinander liegen, zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman.

Ein Highlight ist der neckische Schlagabtausch. Gut hat mir gefallen, dass bei der Tagesgestaltung und bei erotischen Vergnügungen (die im Übrigen nicht in allen Details wiedergegeben werden und auch nicht im Mittelpunkt stehen) nicht immer alles glatt lief und dass Gefühlsentwicklungen auch ein paar Wochen Zeit eingeräumt werden, was für eine höhere Identifikation sorgt.
Getrübt durch viele andere Eindrücke: Vic setzt seinen Reichtum und Einfluss gezielt als Lock- und Druckmittel ein. Sowohl er als auch seine Freunde und Geschäftspartner erachten Frauen als etwas beliebig Austauschbares, geben sich rücksichtslos und unsympathisch und sind gerade deshalb megaerfolgreich. Ohne Konsequenzen, ohne Reue, das lässt Moral vermissen. Dass ein im Fokus stehender Rechtsanwalt sich in öffentlichen Einrichtungen Joints dreht, geht zulasten des Realismusfaktors. Die charakterliche Entwicklung ist absehbar, und auch ansonsten ist der typische dramaturgische Aufbau erkennbar, sodass Wow-Effekte ausbleiben, Überraschungen nur im Kleinen auftreten. Über weite Strecken empfand ich die Gefühlslagen (von sehr düster bis naiv-lieb) sogar als gut umgesetzt, besonders bei intensiven Einblicken hinter die Fassade, wie in Kapitel 9. Dennoch schlichen sich unweigerlich aufgrund des aus meiner Sicht überzogenen Verhaltens solche Gedanken bei mir ein: Emilia hat einen besseren Mann verdient. Eine schlimme Kindheit schafft Verständnis, ist aber kein Freifahrtschein.

Der Roman ist eigenständig lesbar. In den anderen Romanen der Reihe verschiebt sich der Fokus auf diejenigen, die im Auftaktband nur Nebenfiguren waren. Ich freue mich über die gewonnenen Eindrücke. Da ich aber nicht vollends gepackt und berührt werden konnte, werde ich die Reihe nicht weiterverfolgen.

Veröffentlicht am 01.05.2018

Spannend, lustig, tempo- und actionreich, nachdenklich machend

A.I. APOCALYPSE
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Band 2 spielt 10 Jahre nach Band 1, demnach in der Vorstellung des US-Autors William Hertling zum Jahr 2025. Lesbar als in sich geschlossene Geschichte, denn auch ohne Vorkenntnisse zu Band 1 gut verständlich ...

Band 2 spielt 10 Jahre nach Band 1, demnach in der Vorstellung des US-Autors William Hertling zum Jahr 2025. Lesbar als in sich geschlossene Geschichte, denn auch ohne Vorkenntnisse zu Band 1 gut verständlich und ohne Cliffhanger.

Zum Inhalt: Die erwachsen gewordene und nunmehr sprechende Künstliche Intelligenz ELOPe aus Band 1 und „Papa“ Mike treffen auf einen neuen Handlungsstrang rund um Highschool-Schüler Leon. Dieser entwickelt und entfesselt ohne schlechte Absicht innerhalb weniger Stunden eine ganze Armada Künstlicher Intelligenzen, die die Lebensgrundlagen der Menschheit zerstören. Es gilt, miteinander zu kommunizieren ...

Gegenüber dem Auftaktband trifft man hier auf anspruchsvollere IT mit mehr Sci-Fi-Elementen, weiterhin eingängig dargestellt. Es ist von Vorteil, aber für‘s Lesevergnügen nicht unbedingt erforderlich, technisches Verständnis mitzubringen. Insgesamt flüssig lesbar, zumal die Anzahl handelnder Akteure überschaubar ist.
Menschliche Beziehungen und packende Innenansichten stehen nicht im Fokus, die Charakterisierungen sind kein Highlight, aber gelungener als in Band 1. Für meinen Geschmack könnte es etwas dystopischer zugehen, aber immerhin gibt es ernste und düstere Momente (z. B. Schuldgefühle) an den richtigen Stellen. Auch für Mike habe ich - anders als bei Band 1 - Sympathie aufbauen können. Stellenweise habe ich mich an mangelnder Cleverness der angeblichen Intelligenzbestien gestört (z. B. Proviant).
Sehr lustig, z. B. die Seitenhiebe auf veraltete Windows-Technik und die charmante Anspielung auf Star Trek. Meine Highlights sind die Inneneinblicke in die KIs, insbesondere in der Lernphase, und deren trockener Humor (z. B. Freude über Spam-Nachricht).
Futuristisches ist in das Zukunftsszenario integriert, z. B. dass Elektroautos das Straßenbild prägen, autonome Transportdrohnen in der Stadt umherfliegen und Militäroperationen von ferngesteuerten Kampfrobotern durchgeführt werden. Noch mehr den Alltag Prägendes wäre reizvoll gewesen (Positivbeispiel: Bios), was aber Geschmackssache und Jammern auf hohem Niveau ist. Auch Entscheidungsfindungsprozesse, die Tempo rausnehmen könnten, werden vereinfacht wiedergegeben. Der Autor schreibt eben sehr fokussiert, da haben Beschreibungen, die der Atmosphäre dienen und die Handlung nicht unmittelbar vorantreiben, keinen Platz.
Wer Band 1 kennt, wird es mögen, Einblicke in den weiteren Lebensweg bekannter Figuren zu nehmen.
Die Handlung bietet innovative Ideen in verständlicher Sprache, Überraschungen und ist actionreich. Die Auflösung gerät vergleichsweise einfach, Konsequenzen hätten für meinen Geschmack noch mehr beleuchtet werden können. Aber die Hauptsache: Es wurde mir nie langweilig.
Gleichzeitig wurde ich zum Nachdenken angeregt. Bei dem Zitat „Er erkannte benommen, dass die Evolution ihn für die Geschwindigkeit von Gefechten unter KIs nur unzureichend ausgestattet hatte.“ musste ich schlucken, denn das Szenario ist erschreckend realistisch.
Wer sich für Künstliche Intelligenz interessiert, es dabei kurz und knackig mag, ohne blumige Beschreibungen und Nebenschauplätze, stattdessen eine temporeiche Story mit Humor, ist hier genau richtig.
Ich freue mich auf Band 3 der 4-teiligen Reihe.

Veröffentlicht am 01.05.2018

Eingängig und lustig mit Schwächen in Charakterzeichnung und Dramatik

AVOGADRO CORP.
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US-Autor Hertling beschreibt erschreckend realistisch auch für IT-Laien verständlich die versehentliche Erschaffung einer Künstlichen Intelligenz, deren positive und negative Folgen und die geheim zu haltende ...

US-Autor Hertling beschreibt erschreckend realistisch auch für IT-Laien verständlich die versehentliche Erschaffung einer Künstlichen Intelligenz, deren positive und negative Folgen und die geheim zu haltende menschliche Intervention zur Bekämpfung der Bedrohung.

2011 geschrieben, ist das Szenario im Jahr 2015 in Portland verortet. Gefallen haben mir Anspielungen zu Innovationen und real existierenden Firmen, z. B. Netflix. Es wird deutlich, dass tagtäglich ein solches Szenario auftreten könnte.
Die Intention für die Programmierung verheißt viele Vorteile und ist absolut nachvollziehbar. Die im Mittelpunkt stehende Firma erinnert an Google. Geschäftspraktiken, z. B. Projektabläufe und -hierarchien, Sachmittel- und Budgetvorgaben und die Anforderung, für die Geschäftsführung alles ansehnlich in PowerPoint-Präsentationen zu verpacken, dürften annähernd allen Mitarbeitern mit Büroarbeitsplatz bekannt vorkommen. Solche Seitenhiebe heitern mich regelmäßig auf.

Den Handlungsverlauf empfand ich als interessant und unterhaltsam. Es war aber weder außergewöhnlich spannend noch überraschend, dystopisch oder emotional.
Auch wenn ich es grundsätzlich mag, aufgelockert zu werden, empfand ich es an vielen Stellen als deplatziert und für das Spannungsmoment und die bedrohliche Atmosphäre als kontraproduktiv, wenn die Hauptverursacher der Katastrophe einen einfachen Humor an den Tag legten und (möglicherweise der Übersetzung geschuldet) ständig kicherten. Da hätten trockener schwarzer Humor und ein gelegentliches Grinsen dem Ernst der Lage besser Rechnung getragen.
Es wird chronologisch erzählt und man begleitet sämtliche relevante Entwicklungen von Beginn an. Dabei ist früh absehbar, welche Figur welche Rolle zu spielen hat und wie diese agieren wird. Hätte man so manches Ergebnis vorweggenommen und in einer Rückblende erzählt, wie es dazu kam, wäre das Buch etwas komplizierter zu lesen (weniger Mainstream-tauglich), die Dramatik aufgrund der geringeren Vorhersehbarkeit aber viel höher. Auf der anderen Seite vorteilhaft, dass hier ein hochinteressantes Thema einer großen Zielgruppe vermittelt wird und sich dieser Cyber-Krimi auch nach einem besonders harten Arbeitstag flüssig und mühelos lesen lässt.

Bei den Figuren habe ich Persönlichkeit vermisst. Überwiegend werden Handlungen und Gespräche beschrieben. Den Interaktionen fehlte es manchmal an Reibungspunkten und Gefühlslagen wirkten auf mich manchmal nicht authentisch. Alleinstellungsmerkmale kommen zu kurz, bis kurz vor Ende hätte ich Mike und David kaum auseinanderhalten können.

Die Schilderungen zur Künstlichen Intelligenz sind sehr eingängig, bleiben in Erinnerung und können den geneigten Leser - hierzu zähle ich mich - zum Nachdenken anregen, sodass man mit offeneren Augen durch die Welt geht.

Die letzten paar Seiten fördern dann doch noch einen lang ersehnten Wow-Effekt zu Tage. Und ich bin neugierig geworden, wie die Geschichte fortgesetzt wird. Knappe 4 Sterne von mir.

Anekdote: Glaubt man dem Autor, gibt es nur ein wirksames Mittel zur Bekämpfung des Bösen: „Kaffee“ taucht laut Kindle-Wort-Suche in diesem kurzen Buch 53 x und in 14 von 16 Kapiteln auf.

Adressatenkreis: Besonders geeignet für Genre-Einsteiger und Fans von leicht zu lesenden und realistischen Cyber-Krimis, in denen humoristische Elemente die dystopischen überwiegen. Wichtig: Singularity 1 lässt sich auch ohne Weiteres als abgeschlossene Geschichte lesen. Das finde ich sehr fair.
Interessierte könnten nach meiner Einschätzung aber auch direkt mit dem für meinen Geschmack noch viel besseren Band 2 starten.

Ausblick: Band 2 spielt 10 Jahre nach Band 1. Anspruchsvollere Technik mit mehr Sci-Fi-Elementen, alte Bekannte treffen auf einen neuen Handlungsstrang mit neuen Figuren. Bessere Charakterisierungen und innovativere und wendungsreichere Story. Und man erhält – anders als bei Band 1 – auch faszinierende Inneneinblicke in Künstliche Intelligenzen. Und vor allem: Anspruchsvollere Komik, die mein Humorzentrum diesmal fantastisch trifft.

Veröffentlicht am 01.05.2018

Interessante Denkanstöße, Geduld vorausgesetzt

Die Tyrannei des Schmetterlings
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Meine Motivation:
Mein erster Roman von Frank Schätzing. Technikaffin, aber ohne technische Ausbildung, habe ich in den letzten Monaten viele Science-Fiction-, Nahe-Zukunft-, Zeitreise- und Cyber-Thriller ...

Meine Motivation:
Mein erster Roman von Frank Schätzing. Technikaffin, aber ohne technische Ausbildung, habe ich in den letzten Monaten viele Science-Fiction-, Nahe-Zukunft-, Zeitreise- und Cyber-Thriller gelesen, in denen auch Ideen zu Künstlichen Intelligenzen umgesetzt wurden. Obendrein werden solche Romane oft an denen von Schätzing gemessen. Da war es naheliegend, mir mit diesem neuen Werk eigene Eindrücke zu verschaffen.

Wirkung der Erzählweise:
Das Umfeld wird intensiv beschrieben. Der dramatische Präsenz findet hier seine Legitimation, macht die Atmosphäre greifbar. Eine von Natur geprägte Szenerie prallt auf futuristische Elemente. Auch Handlungen, Mimik und Gestik werden mit Gleichnissen unterstrichen. Sprachlich ansprechend, eingängig, das Kopfkino anfachend, aber im Detailreichtum (Verwitterungsgrad von Fassaden, Astform der Bäume, etc.) überzogen. Hätte man diesen textlichen Raum anders genutzt, hätten Figuren tiefgründiger und die Handlung komplexer und wendungsreicher sein können.
Ein interessantes Stilelement: Schlüsselszenen, die nicht in der dritten Person wiedergegeben sind.

Wirkung der Figuren:
Bevor man auf die Idee kommt, Klischees vorzuwerfen und z. B. als rückständige Dorftrottel abzustempeln, werden Innenansichten eingestreut, die ich als authentisch und tiefsinnig empfinde. Überwiegend liebenswürdig. Die Figuren sind Produkte ihrer Umwelt, mit Vergangenheit, Motivationen, beruflichen wie privaten Problemen. Die Dialoge dienen nicht nur der Informationsweitergabe, gehen auf die Beziehungsebene ein, sind unterhaltsam, versprühen typisch amerikanische Coolness oder bissigen Humor. Ich konnte mir die Figuren, prägende Merkmale und Beziehungen gut merken und auftretende Divergenzen wahrnehmen. Schade, dass die Biografie, wenn es turbulenter wird, keine große Bedeutung mehr zu haben scheint. Für Gefühlslagen ist wenig Platz. Ein intelligenteres, durchdachtes Vorgehen hätte in einigen Fällen der jeweiligen Persönlichkeit und Weltanschauung besser Rechnung getragen. So richtig um das Schicksal jeder einzelnen Figur bangen konnte ich nicht, habe aber den Verlauf immerhin mit großem Interesse verfolgt. Die naive, herzensgute Kimmy brachte mich viel zum Lachen.

Wirkung der Handlung:
Die erste Hälfte widmet sich viel Figuren und Umfeld. Es dauert, bis es spannend wird und Elemente, die in Hightech- und Biotechnologie-Thrillern eine Rolle spielen, so richtig zum Tragen kommen. Interessante Ideen, gut recherchiert und davon gleich mehrere in eine Geschichte eingebaut. Ich habe zusätzliche Denkanstöße mitgenommen, ohne dass ein monumentaler Wow-Effekt dabei gewesen wäre. Aber erschreckend war es doch. Wie viel Realismus dahintersteckt, was von diesen Sci-Fi-Elementen in den nächsten 30 bis 40 Jahren umsetzbar ist, mögen andere beurteilen.
Hauptfigur Luther mimt gnädigerweise den Deppen und lässt sich Erklärungen zu Raum, Zeit und allerlei Technischem geben, man muss als Leser also kein Profi sein, um mitzukommen.
Schätzing geht in den philosophischen Diskurs. Im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz lässt er z. B. diskutieren „Wie sollen sie ein intelligentes System kontrollieren, von dem sie sich nichts weniger als eine Revolution erhoffen?“ Gefallen haben mir erstaunliche Einblicke in eine mögliche Zukunft, inklusive Nachrichtenfetzen mit Bezügen zur tagesaktuellen Politik und Wirtschaft und realen Persönlichkeiten.
Die Aufarbeitung spektakulärer Erkenntnisse und Konfliktlösung gerät im negativen Sinne typisch amerikanisch. Moral und Cleverness bleiben leider auf der Strecke.
Manchmal wurde ich überrascht, manchmal haben sich Vorahnungen bestätigt.
Das Ende gerät sehr knapp und lässt Raum für die eigene Vorstellungskraft.

Adressatenkreis: Da ich Bildgewalt mag, gern verschiedene Schreibstile ausprobiere und mit „Was wäre, wenn ...“-Szenarien meinen Horizont erweitere und anscheinend den passenden Intellekt habe (mit geringen Vorerfahrungen im Genre, noch zu beeindrucken), war es unterhaltsam und interessant, reicht für 4 Sterne. Eine pauschale Empfehlung würde ich aber nicht aussprechen. Profis vermissen möglicherweise Aha-Effekte und wissenschaftliche Substanz. Wer es temporeich mag oder tiefgründige Charaktere zum Mitfiebern braucht, wird von ausschweifenden Beschreibungen genervt sein.

Veröffentlicht am 25.04.2018

Innovativ, vielschichtig, mysteriös, brutal, düster

DAEMON
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Eindrücke in Kürze: Komplexes, schwer durchschaubares Katz- und Maus-Spiel: Verstorbenes Technik-Genie mit seinen Schergen gegen hochrangigste Sicherheitsbehörden und Wirtschaftsmagnaten. Viele Mysterien ...

Eindrücke in Kürze: Komplexes, schwer durchschaubares Katz- und Maus-Spiel: Verstorbenes Technik-Genie mit seinen Schergen gegen hochrangigste Sicherheitsbehörden und Wirtschaftsmagnaten. Viele Mysterien und Wendungen. Viel IT-Fachjargon, selbst für einen Cyber-Thriller. Action durch abenteuerliche Gemetzel mit kreativen Waffen. Sympathieträger sucht man vergeblich. Bedrohliche Atmosphäre. Gesellschaftskritisch. Unterhaltsam und nachdenklich machend, man sollte aber nicht zartbesaitet sein.

Ausführliche Einschätzungen (ohne schlimme Spoiler):

Meine Motivation:
Ich habe Nahe-Zukunft- und Cyber-Thriller für mich entdeckt, und dieses gilt als das Werk, an dem sich in diesem Genre alle anderen messen lassen müssen. Dass mir mein erster Suarez-Roman Bios gut gefiel, war ein weiteres Argument, mich hieran zu versuchen.

Wirkung der Figuren:
Es werden hintereinander sehr viele Figuren vorgestellt, die sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln und deren Handlungsstränge sich erst später verknüpfen. Ortswechsel und zeitliche Lücken von mehreren Monaten in der Handlung machen’s nicht einfacher, es ist also konzentriertes Lesen angesagt. Ich habe die X-Ray-Funktion als Erinnerungsstütze verwendet.
Man sollte als Leser nicht depressiv oder zarbesaitet sein, denn es sind fast ausschließlich Antagonisten unterwegs. Sie sind lethargisch oder anderweitig psychisch am Ende (mitleiderregend) oder skrupellos (abgründige Innenansichten) oder je nach Entwicklung auch beides. Produkte ihrer Umwelt, am Rande der Gesellschaft existierend, die es offensichtlich gibt, sodass man den Charakterzeichnungen Realismus zusprechen muss, auch wenn’s schmerzt.
Es ist schwierig, aufheiternde oder herzerwärmende Momente zu finden. Das bisschen Humor ist extrem zynisch, und wenn sich z. B. eine Figur eine bessere Zukunft für ihr Kind wünscht, hat das in sich schon wieder etwas Tragisches. Es waren also Emotionen bei mir im Spiel, die spüren lassen, dass hier eine düstere Weltanschauung propagiert wird. Ein echter Protagonist, um deren Zukunft ich hätte bangen können, hätte die Geschichte für mich persönlich aufgewertet.
Ich empfand die Perspektive von Gragg als besonders bildhaft, verstörend und faszinierend.

Wirkung der Handlung:
Actionlastig. Absolut Popcorn-Kino-tauglich, allerdings zum Ende hin so überdimensioniert, dass es nicht mehr realistisch wirkt, was das intelligent erdachte Konstrukt ein bisschen stört. Bildhaft beschrieben, sodass es gut vorstellbar ist. Die Kampfhandlungen mögen innovativ und kreativ erdacht sein (wohlgemerkt 2006 geschrieben), aber ich persönlich brauche Darstellungen von Körpern, die zermetzelt werden, nicht in allen grausigen Details. Wenn ich keine emotionale Bindung zu den involvierten Figuren habe, ist der Verlauf zwar interessant, aber ich kann nicht so richtig mitfiebern und die Todesfälle vermögen nicht zu berühren.
Mir persönlich haben die leisen Töne, in denen eine einzelne Figur kritisch sich selbst und ihre Umwelt reflektiert, viel besser gefallen. Begierig aufgesogen habe ich nebenbei angeführte soziologische und ökonomische Folgen. Faszinierend die Nachrichten des Urhebers Sobol, die Rätsel über seine weiteren Vorkehrungen und vor allem seine Motivation aufwerfen. Ein weiteres Highlight ist für mich die Gesellschaftskritik, sei es durch krasse Gleichnisse wie im besonders eindrucksvollen Kapitel 31, sei es ganz plakativ, z. B. beim Outsourcing sicherheitsrelevanter Aufgaben, oder sei es die subtile Betrachtung der gesamten Szenerie und der sie prägenden Akteure.

Meine Gesamteinschätzung:
Ich schätze mich als technikaffin ein, habe aber weder eine technische Ausbildung noch zocke ich Onlinegames. Insofern habe ich technisch nicht alles durchdrungen und eventuell auch so manche Anspielung schichtweg nicht wahrgenommen.
Ich empfinde es als gerechtfertigt, dass DAEMON als Mutter der Cyber-Thriller gilt. Die gefühlte Schwerpunktsetzung auf Technik, brutaler Action und Weltuntergangsstimmung ohne wirkliche Lichtblicke entspricht nicht ganz meinem Geschmack, aber in Summe ist es allein schon aufgrund der Neugierde auf die Rätselauflösungen megaspannend und ich habe das Werk nur ungern weggelegt.
Band 1 ist unabgeschlossen, es muss also DARKNET, Band 2 der Dilogie, her. Ich erwarte gespannt die Auflösung des großen „Warum“ und würde mich freuen, diesmal tiefere Einblicke in sozioökonomische Konsequenzen und Gefühlslagen zu bekommen.
Mein Lieblings-Nahe-Zukunft-Technik-Thriller (mit fiktiven Elementen) ist übrigens Ich.Lebe. (Hamburg Sequence 1).