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Veröffentlicht am 29.10.2024

Wiedersehen und Abschied

Rath
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Als ich 2012 „Haus Vaterland“ las, war das meine erste Begegnung mit Volker Kutscher und seinen beiden Protagonisten Gereon Rath und Charlotte Ritter, genannt Charly. Seitdem habe ich auch die ersten drei ...

Als ich 2012 „Haus Vaterland“ las, war das meine erste Begegnung mit Volker Kutscher und seinen beiden Protagonisten Gereon Rath und Charlotte Ritter, genannt Charly. Seitdem habe ich auch die ersten drei Bände und alles, was danach erschien, mit Freude und Interesse gelesen. Zwischendurch aufgelockert von Hörspielserien, Hörbüchern und natürlich „Babylon Berlin“. Durch diese Fernsehserie erhielten die Protagonisten Gesichter, ich habe mir jedenfalls vor allem immer Volker Bruch und Liv Lisa Fries vorgestellt in den Romanen.
Kutscher ist es mit seiner historischen Berlin-Krimi-Reihe hervorragend gelungen, seine Leser zurückzuholen in die Zeit des Nachkriegs, der Weimarer Republik, der Machtergreifung Hitlers und nun im 10. und letzten Band ins Jahr 1938 mit seinen grausamen Höhepunkten: Der Anschluss Österreichs, die Unterwerfung der Tschechoslowakei, die Vertreibung von zehntausenden polnischen Juden über die polnische Grenze in eine ungewisse Zukunft, und – die Pogromnacht am 9. November, die nicht ganz zu Unrecht früher Reichskristallnacht genannt wurde. Denn in dieser Nacht wurden unzählige Spiegel, Scheiben und nicht zuletzt die Synagogen ein Opfer der entfesselten „Volksseele“, die Scherben blieben zurück, die Juden wurden gedemütigt, gefoltert, getötet, ins KZ gesperrt. In diesem letzten Jahr vor Kriegsbeginn spielt dieser Roman und er lässt einen tiefen Einblick zu in die Gepflogenheiten von SA und SS, in die fast unsichtbar gewordene Kriminalpolizei um Ernst Gennat. Berlin bildet den Hintergrund mit seinen teilweise heute nicht mehr existierenden Straßen und Plätzen, mit seiner Bevölkerung, die sehr gemischt ist, von obrigkeitshörig über devot bis hin zu brutal und denunzierend. Und unter ihnen leben Tausende Juden, deren Lebensgefahr von Tag zu Tag größer wird.
Der ehemalige Pflegesohn von Charlotte und Gereon Rath, Fritze, lebt unterdessen wieder in der Familie des HJ-Führers Rademann und gerät im Verlauf der Geschichte unter Mordverdacht. Gleichzeitig stirbt seine Geliebte in einem Berliner Krankenhaus. Fritze begibt sich wieder einmal auf die Flucht. Gereon, der seit dem letzten Teil der Serie in Deutschland als tot gilt, taucht wieder auf und auch sein Bruder Severin, nun amerikanischer Staatsbürger, hat mit seiner Freundin den Weg nach Deutschland gewagt. Der Vater der beiden Männer liegt im Sterben, es scheint, dass das die Familienbande im Hause Rath wieder kittet. Ausreichend Stoff schon zu Beginn des Buches, Volker Kutscher mit seiner Fantasie gibt dem Leser gutes Futter, es macht Spaß, die verschlungenen Pfade der einzelnen Figuren zu verfolgen und zu rätseln, was als nächstes passiert, wer als nächster in die Fänge der Gestapo gerät oder gar zu Tode kommt. Tragische Verwicklungen und Entwicklungen halten die Spannung hoch bis zum Ende.
Kutscher hat einen gut lesbaren Stil, seine Dialoge sind wirklichkeitsnah und seine Charaktere interessant gezeichnet. Das düstere Cover verleiht dem Buch etwas Dunkles, nicht Greifbares, es scheint wie die letzte Szene mit Gereon und Charly im Buch unwirklich und doch endgültig. Ohne Übertreibung kann ich sagen, schade, dass diese Romanreihe hier ihr Ende gefunden hat. Wenn man der Entwicklung von Kutschers Protagonisten so lange und sehr begeistert gefolgt ist, würde man schon gern wissen, wie sie sich weiterentwickeln, was ihnen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geschieht. Da ist nun die eigene Fantasie gefragt.
Fazit: Leseempfehlung, Krimi mit historischem Hintergrund auf hohem Niveau. Fünf Sterne.

Rath

NetGalleyDE

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Veröffentlicht am 25.10.2024

Wie schön ist diese Welt!

Wohnverwandtschaften
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Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische ...

Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische Gesellschaft oder das Laufen als innere Reinigung und Befreiung aufgreift, sondern mitten im Leben landet. Wohnverwandtschaften lassen – zumindest bei mir – ja sofort im Kopf das Wort Wahlverwandtschaften aufblitzen und beim Hören (wie beim Lesen) stellte ich fest, dass auch letzteres gut als Titel getaugt hätte für dieses wunderbare Buch.
Die wichtigsten Protagonisten des Romans kann man an einer Hand abzählen, dadurch bildet sich schon von Beginn an eine sehr emotionale Nähe zwischen ihnen und dem Leser. Kaum hat man begonnen, kennt man Constanze, die junge Zahnärztin, Murat, den Zauberkoch, Anke, das verkannte Schauspielgenie, und Jörg, den Endsechziger mit großem Reisewunsch. Die vier sind es, die eine WG (gern auch Wohngemeinschaft genannt, vielleicht auch Wahlgemeinschaft) bevölkern, Jörg ist der Besitzer der Wohnung und Constanze das Küken, das als letztes inklusive unnützem und ungeliebtem weißen Klavier zur WG stößt.
Bezaubernd die Situationen des ersten Kennenlernens, gemeinsamen Kochens und Sinnierens. Mit gekonnter Leichtigkeit geht die Autorin in die Vollen und lässt die Hüllen der vier Stück für Stück fallen. Aber nichts ist so leicht, wie die Fantasie, und so kommen erhebliche Probleme auf das Kleeblatt zu, das gegenseitige Liebe und Freundschaft entwickelt hat. Und diese wird auf eine harte Probe gestellt, als Jörg zu einer Not-OP ins Krankenhaus muss. Dem weiteren Verlauf dieser ungewöhnlichen und sehr zu Herzen gehenden Viererbeziehung möge jeder selbst lauschen. Es lohnt sich auf jeden Fall.
Der Stil von Isabel Bogdan hat eine Leichtigkeit und Frische, die man nicht so häufig findet in den Gegenwartsromanen. Ihre Dialoge und Selbstgespräche sind echt und lebensnah. Das hat mir sehr gefallen. Das Einstreuen von Zitaten und Liedtexten gelingt ihr punktgenau.
Jede der vier Hauptfiguren ist auf ihre Art lebendig und nachdenklich, es macht Freude, den Gedankensprüngen zu folgen, die Traurigkeiten machen etwas traurig und trotzdem bleibt bis zum Ende des Buches eine fast euphorische Lebensfreude erhalten. Meine Lieblingsfigur ist Murat, der Deutsche mit türkischen Wurzeln und einem großen Herzen und einem Händchen für Küche und Garten. Jörg, der zum Ende hin immer vergesslicher wird, das ist eine Figur, die in Erinnerung bleibt, wie auch Anke, die plötzlich in Hörbüchern eine neue Zukunft sieht. Merkwürdigerweise ist es Conny, die, obwohl ja eigentlich die Hauptfigur, etwas blass und zurückhaltend bleibt. Die fünfte Hauptfigur ist dann auch der spontan von Murat adoptierte Hund Alien, eine perfekte Idee für die WG hatte die Autorin auch hier.
Das gedruckte Buch hatte ich bereits vor einiger Zeit gelesen, nun habe ich mit Genuss noch einmal nachgehört. Und muss sagen, das Hörbuch hat mich überrascht. Es ist fast wie ein Hörspiel aufgebaut, die verschiedenen Protagonisten werden von verschiedenen Sprechern gelesen. Was ich vermisst habe, das ist eine Sprecherliste, aus der hervorgeht, wer wen gelesen hat. Bei einigen Sprechern bin ich mir ziemlich sicher, aber leider nicht bei allen. Was/wer mir nicht gefiel, das ist die Erzählstimme aus dem Off, die sich im Gegensatz zu den anderen Sprechern anhört, als würden die Texte in doppelter Geschwindigkeit abgespielt.
Fazit: Ich kann auch das Hörbuch aus vollem Herzen empfehlen, mir waren es bereichernde und unterhaltsame Lesestunden. 5 Sterne!

Wohnverwandtschaften

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Veröffentlicht am 14.10.2024

Dem Vergessen entrissen

Suche liebevollen Menschen
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Julian Borger, Vollblutjournalist und auf der ganzen Welt zu Hause, geboren Anfang der 1960er Jahre in England als Sohn eines jüdischen Wiener Emigranten und einer britischen Mutter, beginnt 20 Jahre nach ...

Julian Borger, Vollblutjournalist und auf der ganzen Welt zu Hause, geboren Anfang der 1960er Jahre in England als Sohn eines jüdischen Wiener Emigranten und einer britischen Mutter, beginnt 20 Jahre nach dem Freitod des Vaters dessen Geschichte und die Familiengeschichte zu recherchieren. Dass es bis 2020 dauerte, ehe er damit überhaupt begann, hatte viele Gründe: das Schweigen in der Familie, das viele dieser Generation kennen und erst spät aufbrechen wollen oder müssen, die Arbeit, die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit, immer war etwas anderes wichtiger. Dann fiel ihm die Anzeige wieder in die Hände, um die er sich schon lange kümmern wollte „Seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11, Viennese of good family, Borger, … Vienna 3“. Sie war im Manchester Guardian am 3. August 1938 veröffentlicht worden. Der intelligente Junge, der in der Anzeige beschrieben wird, war sein Vater Robert. In der gleichen Zeitungsspalte wird für vier weitere Kinder ein „Ausbildungsplatz“ gesucht. Julian Borgers Interesse ist plötzlich geweckt, er beginnt zu suchen und findet zuerst Material für einen umfangreichen Zeitungsartikel, der dann den Grundstock für dieses Buch bildet.
Was aber hatte es auf sich mit diesen Anzeigen? Sie erschienen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938. Offiziell wurde die Bevölkerung am 10. April des gleichen Jahres zur Abstimmung aufgefordert, mehr als 99 Prozent der Österreicher und Deutschen stimmt mit Ja für den Anschluss. Aber bereits nach dem Einmarsch der Truppen begann wie aus heiterem Himmel die Verfolgung und Entrechtung der Juden. Im Gegensatz zum „Alt-Reich“, wo bereits seit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 die Juden Schritt für Schritt entrechtet und verfolgt wurden, geschah das in Österreich sozusagen über Nacht. Besonders drastisch sind die Bedingungen zuerst in Wien, wo der Großteil der jüdischen Österreicher lebt. Es beginnt eine unbeschreibliche Hetzjagd, der sich die Juden auf unterschiedlichste Weise zu entziehen suchen. Panikartiges Verlassen des Landes, Verstecken, oder der Weg durch die bürokratischen Instanzen, um legal das Land zu verlassen. Egal, was sie tun, sie werden enteignet, alles wird ihnen genommen, konfisziert oder zerstört. Viele werden verhaftet und gefoltert oder ins nahe KZ Dachau gebracht. In diesem Tumult sind es vorausschauende Eltern wie die Borgers, die zuerst versuchen, ihr Kind zu schützen und zu retten. Erst später im Jahr 1938 werden die organisierten Kindertransporte nach England beginnen. Die private Übersiedlung von Kindern ohne ihre Eltern kurz nach dem Anschluss kam im Kleinen der Aktion der Kindertransporte nach England zuvor. Die große Tragik beider Aktionen war, dass weder die Eltern noch die Kinder ahnten, welche Pläne schon wenige Jahre später von den Nazis in die Tat umgesetzt werden würden. Nicht selten war der Abschied am Wiener Westbahnhof ein Abschied für immer.
Julian Borger beschränkt sich aber in seinen Recherchen rund um den Erdball nicht auf die Lebensgeschichte seines Vaters, er sucht auch nach den anderen Kindern, die auf diese Weise vor dem sicheren Tod bewahrt wurden. So entstehen mehrere Porträts von jüdischen Familien mit ihren unterschiedlichen Schicksalen, immer im Fokus die geretteten Kinder.
Überlebende und deren Nachkommen eint oftmals das Schweigen und Verdrängen des Erlebten, manche Holocaustüberlebenden wollen die junge Generation nicht mit den schrecklichen Erlebnissen belasten, andere überleben nur, weil sie erfolgreich verdrängen, was geschehen ist. Daran zu denken oder gar darüber zu sprechen, verbieten sie sich, es ist ein Schutzmechanismus, der immer wieder berichtet wird. Für Julian Borgers Vater war dieser Schutzmechanismus offensichtlich nicht stark genug, er schied über 40 Jahre nach der Flucht nach England aus dem Leben. Und hinterließ vollkommen ratlose Kinder. Für Julian Borger eine schwere Last, an der er bis heute trägt. Immer wieder wird er sich die Frage stellen, warum er mit seinem Vater nicht über all das sprechen konnte. Mit dem vorliegenden Buch schreibt er sich diese Last etwas von der Seele, indem er endlich erfährt und begreift, was in seinem Vater und all den anderen Kindern, die gerettet wurden, vorgegangen sein muss. Entschuldigung, es folgt ein Spoiler: Eines ist wirklich wunderbar in diesem Buch, Julian wird eines der geretteten Kinder tatsächlich noch lebend und bei wachem Verstand und guter Gesundheit interviewen können.
Julian Borger macht es dem Leser nicht ganz leicht, er konfrontiert mit vielen verschiedenen Familiengeschichten und sehr vielen Namen und Ereignissen. Dass auch geschichtliche Exkurse eingestreut sind, empfinde ich als bereichernd, obwohl mir vieles bekannt war. Aber ich denke, Leser, die mit der Materie von Holocaust, Nationalsozialismus, Emigration nicht so bewandert sind, finden hier gute Erklärungen und Grundlagen.
Beim Epilog musste ich schmunzeln, als Julian Borger auf dem Wiener Friedhof in der Stille der verwahrlosten jüdischen Gräber ein Reh sieht. Genau das Gleiche erlebte Shelly Kupferberg in ihrem Buch „Isidor“, das ich in diesem Zusammenhang interessierten Lesern als zusätzliche Holocaust-und-Wien-Lektüre sehr empfehlen kann. Auch das Buch „Café Schindler“ von Meriel Schindler befasst sich mit der Vertreibung einer Wiener jüdischen Familie und mit dem Verlust des eigenen Geschäfts, ähnlich wie es die Borgers mit ihrem Radiogeschäft erlebten.
Aber bisher gab es wahrscheinlich kein einziges Buch, dass die Geschichte der privaten Rettung von jüdischen Kindern über Zeitungsanzeigen beschrieben hat. Ich kenne jedenfalls keines. Schon das allein ist für mich die große Überraschung dieses Buches. Mich haben die einzelnen Geschichten sehr berührt, gerade weil auch ich Nachkomme eines Holocaustopfers und dessen Tochter, einer Überlebenden, bin. Ich beschäftige mit seit Jahren mit der Thematik und bin doch immer wieder erstaunt, wie vielfältig und unterschiedlich die Schicksale einzelner Menschen sind, die am Ende doch ein großes Ganzes bilden, immer mit der Hoffnung „Nie wieder“.
Ins Buch haben sich einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen, bei einer nächsten Auflage werden sie wohl verschwunden sein und z. B. der Wienerwald heißt dann auch wieder so. Bedauert habe ich, dass das Buch nicht auch als E-Book erschienen ist. Wen es interessiert: Die englische Originalausgabe ist auch als E-Book erhältlich.UPDATE: Am 18.11.2024 wird auch das deutschsprachige E-Book erhältlich sein.
Fazit: Ein starkes und tragisches Buch, gut lesbar, nahe an den beschriebenen Menschen. Jedes einzelne Schicksal könnte einen Roman füllen. Eindeutig eine Leseempfehlung. Gute vier Sterne.

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Veröffentlicht am 09.10.2024

Aus gestohlenen Erinnerungen werden berührende Schicksale

All die gestohlenen Erinnerungen
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Der ITS Arolsen (International Tracing Service) war vor vielen Jahre meine erste Anlaufstelle bei der Suche nach den Schicksalen meines ermordeten Großvaters und anderer Familienangehörigen. Heute heißt ...

Der ITS Arolsen (International Tracing Service) war vor vielen Jahre meine erste Anlaufstelle bei der Suche nach den Schicksalen meines ermordeten Großvaters und anderer Familienangehörigen. Heute heißt die Organisation Arolsen Archives und ist für viele Familienforscher und Historiker eine wahre Fundgrube. Dabei sind nur kleine Teile des Bestandes öffentlich zugänglich. Dass mich dieses Buch interessiert und anzog wie ein Magnet, ist nicht verwunderlich.

Der Roman von Gaëlle Nohant nimmt seine Hauptperson Irène zum Ausgangspunkt einer immerwährenden Suche nach Schicksalen und Nachkommen von Opfern des Holocaust und der Nazirepressionen gegen Kommunisten, Gläubige, Polen, Russen, Zwangsarbeitern usw., die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Es geht um Ermordete und Verschollenen, um Ausgewanderte und nach dem Krieg Verstorbene. Und um deren Vermächtnis. Irène, eine Französin, die mit einem Deutschen verheiratet war und in Deutschland ihre zweite Heimat fand, arbeitet seit Jahren beim ITS. Unterdessen schreibt man das Jahr 2016, in den Archiven befinden sich u. a. rund dreitausend Asservate, deren rechtmäßige Besitzer noch nicht ermittelt werden konnten. Irène versucht, trotz der langen Zeit, die seit Kriegsende vergangen ist, diese aufzufinden, oder die Asservate an Kinder, Enkel oder Verwandte zu übergeben. Eine Sisyphusaufgabe.

Neben den Lebensgeschichten von Irène und deren ehemaliger Kollegin Eva erfährt der Leser/Hörer die recherchierten Schicksale der Besitzer verschiedenster Gegenstände. Sei es ein Taschentuch oder eine kleine Pierrotpuppe, jedes Stück trägt Geschichte(n) in sich. Die Kapitel sind namentlich den ehemaligen Besitzern oder den Protagonisten in Irènes Leben zugeordnet. Besonders die Suche in Polen stellt sich als eine psychologische Herausforderung dar, ich bewundere Irène, die sich trotz vieler Nackenschläge nicht abbringen lässt von ihrem Tun.

In einem Interview sagt die Autorin, sie wäre „praktisch Tag und Nacht drei Jahre meines Lebens beschäftigt“ mit der Recherche. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das Recherchieren unheimlich viel Zeit verschlingt und einem ein großes Maß an Hartnäckigkeit und auch Resilienz abfordert, die gefundenen Tatsachen zu verarbeiten. Das Buch zeugt von dieser Recherche, indem es all seine Protagonisten echt und lebendig darstellt, auch in der Fiktion.

Dass auch im ITS bzw. in den Arolsen Archives nicht alles glatt geht und es Kompetenz- und andere Streitigkeiten gibt, kann jeder, der sich dafür interessiert, in den Medien nachlesen. Das schmälert aber die großartige Leistung dieser Organisation nicht. Es macht nur klar, auf welch vermintes Terrain auch heute noch die Nachforschungen treffen.

Dass die Autorin unbedingt noch grüne Propaganda einfügen musste, die Irènes Sohn Hanno verkündet, und dass sie auf die oftmals sperrige sogenannte geschlechtergerechte Sprache wohl nicht verzichten wollte, sind die einzigen Kritikpunkte, die ich anzumerken habe.

Fazit: Es ist unerheblich, ob all die Geschichten Fiktion sind oder vielleicht so oder ähnlich stattgefunden haben. Dieses Hörbuch/Buch gibt symbolisch vielen Opfern eine Stimme, die sonst niemals gehört würden. Sehr beeindruckend, sehr traurig und doch wunderbar geschrieben und sehr einfühlsam gelesen. Fünf Sterne!

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Veröffentlicht am 09.10.2024

Wie schön ist diese Welt!

Wohnverwandtschaften
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Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische ...

Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische Gesellschaft oder das Laufen als innere Reinigung und Befreiung aufgreift, sondern mitten im Leben landet. Wohnverwandtschaften lassen – zumindest bei mir – ja sofort im Kopf das Wort Wahlverwandtschaften aufblitzen und beim Lesen stellte ich fest, dass auch letzteres gut als Titel getaugt hätte für dieses wunderbare Buch.
Die wichtigsten Protagonisten des Romans kann man an einer Hand abzählen, dadurch bildet sich schon von Beginn an eine sehr emotionale Nähe zwischen ihnen und dem Leser. Kaum hat man begonnen, kennt man Constanze, die junge Zahnärztin, Murat, den Zauberkoch, Anke, das verkannte Schauspielgenie, und Jörg, den Endsechziger mit großem Reisewunsch. Die vier sind es, die eine WG (gern auch Wohngemeinschaft genannt, vielleicht auch Wahlgemeinschaft) bevölkern, Jörg ist der Besitzer der Wohnung und Constanze das Kücken, das als letztes inklusive unnützem und ungeliebtem weißen Klavier zur WG stößt.
Bezaubernd die Beschreibungen des ersten Kennenlernens, gemeinsamen Kochens und Sinnierens. Mit gekonnter Leichtigkeit geht die Autorin in die Vollen und lässt die Hüllen der vier Stück für Stück fallen. Aber nichts ist so leicht, wie die Fantasie, und so kommen erhebliche Probleme auf das Kleeblatt zu, das gegenseitige Liebe und Freundschaft entwickelt hat. Und diese wird auf eine harte Probe gestellt, als Jörg zu einer Not-OP ins Krankenhaus muss. Den weiteren Verlauf dieser ungewöhnlichen und sehr zu Herzen gehenden Viererbeziehung möge jeder selbst lesen. Es lohnt sich auf jeden Fall.
Der Stil von Isabel Bogdan hat eine Leichtigkeit und Frische, die man nicht so häufig findet in den Gegenwartsromanen. Ihre Dialoge und Selbstgespräche lesen sich echt und lebensnah. Das hat mir sehr gefallen. Das Einstreuen von Zitaten und Liedtexten gelingt ihr punktgenau.
Jede der vier Hauptfiguren ist auf ihre Art lebendig und nachdenklich, es macht Freude, den Gedankensprüngen zu folgen, die Traurigkeiten machen etwas traurig und trotzdem bleibt bis zum Ende des Buches eine fast euphorische Lebensfreude erhalten. Meine Lieblingsfigur ist Murat, der Deutsche mit türkischen Wurzeln und einem großen Herzen und einem Händchen für Küche und Garten. Die fünfte Hauptfigur ist dann auch sein spontan adoptierter Hund Alien, eine perfekte Idee für die WG hatte die Autorin auch hier.
Gern würde ich das Buch auch als Hörbuch genießen, die Vorstellung ist jedenfalls sehr verführerisch, Und die Geschichte ist es auf jeden Fall wert!

Fazit: Ich kann das Buch aus vollem Herzen empfehlen, mir waren es bereichernde Lesestunden. Uneingeschränkt 5 Sterne!

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