Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst
Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine.Doreen Mechsner macht sich in "Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine. Fast Hundertjährige erzählen" auf eine Zeitreise durch zwölf unterschiedliche Biographien von Menschen, die knapp ...
Doreen Mechsner macht sich in "Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine. Fast Hundertjährige erzählen" auf eine Zeitreise durch zwölf unterschiedliche Biographien von Menschen, die knapp vor ihrem hundertsten Geburtstag stehen. Für viele ist das Leben schon äußerst beschwerlich, sie sehnen sich gar schon nach dem Ende; andere jedoch sprühen vor Lebensfreude und möchten noch viel erleben. Die zwölf interviewten Personen sind zufällig ausgewählt, sie stammen allesamt aus dem deutschen Sprachgebiet. Und sie erzählen unterschiedlich - manche knapp und kurz, manche schweifen aus. Manche erzählen ihre Lebensgeschichte, manche philosophieren über das Leben, andere geben ihre Meinung zur Gegenwart ab. Alle eint, dass sie ein bewegtes, ereignisreiches Leben hinter sich haben, mit vielen Höhen und Tiefen - und daran lassen sie uns teilhaben.
Die meisten Erzählenden sind Frauen - 9 an der Zahl. Spannend fand ich, wie unterschiedlich die Themengewichtung der unterschiedlichen Geschlechter ist. So sind für die Frauen Kinder und Familie immer zentrale Erzählmotive, bei den Männern werden diese viel undetaillierter geschildert. Besonders spannend fand ich auch, dass viele der erzählenden Frauen ihre Träume nicht ausleben konnten - aber letztendlich trotzdem auf ein glückliches Leben zurückschauen. Sehr prägend war für alle die Nazi-Zeit, der Krieg und oft auch die Flucht. Für diejenigen, die in der DDR gelebt haben, war dieser Abschnitt und die darauf folgende Wende von großer Bedeutung. Und alle machen sich Gedanken über die Gegenwart, weniger aber über die Zukunft.
Zur Methodik des Buches: Als Einleitung zum jeweiligen Interview lässt uns die Autorin, die studierte Germanistin und Historikerin ist, wissen, wie sie die einzelnen Interviewpartner:innen gefunden hat und wie ihre Begegnung miteinander vonstatten gegangen ist. Hier erhalten die Lesenden einen wunderbaren Einblick in die Interviewsituation und ich habe mich sehr gut in diese hineinfühlen und mir die Personen vorstellen können. Danach lässt Mechsner die Protagonist:innen einfach erzählen. Das Erzählte wird nicht in Interviewform abgedruckt, sondern als durchgängige Erzählung - diese bleibt also unkommentiert, was für den Lesefluss sehr vorteilhaft ist. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass in der Einleitung auch ein bisschen etwas zur Methode der Interviewführung gestanden wäre, also beispielsweise was die Leitfragen gewesen sind und ob es zu Kürzungen kam und wie diese ausgewählt worden sind. Nun ist dies kein wissenschaftliches Buch und die Geschichten der Interviewten sind spannend, wie sie sind, nichtsdestotrotz wäre ein detaillierterer Einblick in die Arbeitsweise interessant und wünschenswert gewesen. Da ich sehr geschichtsinteressiert bin und sensibel auf Sprachgebrauch reagiere, wäre mir eine einführende Erläuterung zu gewissen historischen Themen ebenfalls wichtig erschienen, z.B. zu den oft erwähnten Russen, den unterschiedlichen Besatzungszonen oder der Vertreibung - oder zumindest ein Hinweis auf weiterführende Literatur. Wurden im Gespräch Ausdrücke verwendet, die nicht unbedingt geläufig sind, werden diese in informativen Fußnoten erklärt, ebenso Personen oder Ortschaften. Ich hatte den Eindruck, dass die Erklärungen im Laufe des Buches weniger geworden sind, so hätte ich es auch hilfreich gefunden, wenn Begriffe wie "Schlummermutter" oder "Landser" ebenfalls erörtert worden wären. Weiters - und das ist wirklich mein letzter Kritikpunkt - finde ich es sehr schade, dass die abgedruckten Fotos nicht untertitelt sind. Bei den meisten der Bilder können sich die Lesenden denken, wer darauf zu sehen ist, allerdings hätte ich es sehr interessant gefunden, wenn zur ungefähren Einordnung wenigstens die ungefähren Jahreszahlen vermerkt gewesen wären.
Mein Fazit: "Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! [...]" ist ein wunderbares, kurzweiliges Buch, das einen in zwölf mitreißende Biographien von sehr betagten Menschen eintauchen lässt. Es versetzt einen ins Staunen, was diese Menschen in den letzten beinahe hundert Jahren alles durchmachen und erleben mussten bzw. konnten und gibt so Einblick darüber, wie sehr sich der Alltag in dieser Zeitspanne geändert hat. Es konserviert gelebte Geschichte, auch wenn eine historische Kontextualisierung ausbleibt.