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Veröffentlicht am 17.09.2022

Spannend

Ein Lied vom Ende der Welt
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Als die Sprachforscherin Valerie einen überraschenden Anruf aus der Arktis bekommt, steht ihr Alltag plötzlich Kopf. Am Apparat: ein ehemaliger Kollege ihres kürzlich verstorbenen Bruders, dessen Forschungsteam ...

Als die Sprachforscherin Valerie einen überraschenden Anruf aus der Arktis bekommt, steht ihr Alltag plötzlich Kopf. Am Apparat: ein ehemaliger Kollege ihres kürzlich verstorbenen Bruders, dessen Forschungsteam ein kleines Mädchen lebendig aus dem Gletschereis geborgen hat. Ein Mädchen, das eine völlig unbekannte Sprache spricht, losgelöst jeglicher bekannten Syntax und mit nur ganz wenigen Verbindungen zu den altnordischen Ursprachen. Valeries Aufgabe, den fremden Sprachcode zu entschlüsseln und eine Kommunikation zu ermöglichen, gestaltet sich äußerst schwierig. Doch nach und nach lässt sich erahnen, dass das rätselhafte Mädchen Valerie vor irgendetwas warnen will. Und während weltweit immer häufiger unvorhersehbare und meist tödliche Eiswinde auftreten, entstehen auch in dem kleinen Team, fernab jeglicher Zivilisation, immer größere zwischenmenschliche Spannungen.

Das Buch habe ich innerhalb weniger Tage durchgelesen - es war von vorne bis hinten wirklich super spannend und ich konnte es zwischendurch nie lange aus der Hand legen. Die Geschichte hat mich komplett mitgerissen, und erinnert vom Aufbau her tatsächlich etwas an den Erfolgsroman "Der Gesang der Flusskrebse". Bei beiden spielt der Schauplatz Natur eine große Rolle und ein softer Krimistrang ist die handlungstreibende Kraft der Geschichte.
"Ein Lied vom Ende der Welt" lässt sich also durchaus als Equivalent zu den Flusskrebsen bezeichnen, nur eben mit Eisbären und Walrossen. Hat mir mega gut gefallen und wird hoffentlich noch viel gelesen!

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Veröffentlicht am 11.09.2022

Atmosphärisch und besonders

Hohe Berge
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Silke Stamms Debütroman „Hohe Berge“ handelt von einer Frau, die sich mit einer Gruppe wildfremder Menschen auf eine insgesamt achttägige Skiwanderung durch die Schweizer Alpen begibt und unter widrigen ...

Silke Stamms Debütroman „Hohe Berge“ handelt von einer Frau, die sich mit einer Gruppe wildfremder Menschen auf eine insgesamt achttägige Skiwanderung durch die Schweizer Alpen begibt und unter widrigen Bedingungen sowohl mit sich selbst als auch mit zwischenmenschlichen Herausforderungen ringt. Die Tage reihen sich im Roman in chronologischer Reihenfolge aneinander, sodass jedem Tag ein individuelles Kapitel gewidmet ist. Die Erzählerin ist die einzige Frau in der Gruppe aus fünf Männern und berichtet uns ausschließlich in Infinitivsätzen von ihren Gefühlen und Erlebnissen des Tages: Sätze, die sich auch mal gern über mehr als eine Seite hinausziehen. Trotz der sehr ungewohnten sowie experimentellen Satzstruktur hat sich das Buch überraschend flüssig und angenehm leicht lesen lassen.

Zwischen den Schilderungen der überwiegend monotonen Tagesabläufe - den Wanderungen durch verschneites Gebiet mit gipfelberahmten Panoramen und dem täglichen Zielpunkt der Schutzhütte für die Nacht - mischen sich Erinnerungen der Erzählerin, die sich oft um die schwierige Beziehung zu ihrer Tochter drehen. Doch auch die eigentlich angestrebte Flucht aus dem Alltag in die atemberaubende Gegenwart der Schweizer Alpen geht nicht ganz auf: die Erzählerin fühlt sich in der Gruppe ausgegrenzt, wird nicht richtig an- und wahrgenommen von den anderen Exkursionsteilnehmern. Die Harmonie zwischen den Männern funktioniert eben doch irgendwie besser und wirkt stabiler. So richtet sich ihre Aufmerksamkeit nun also vor allem auf den Tourenführer, der widerum sein Bestes gibt, die Gruppe nur irgendwie zusammenzuhalten - denn gegenseitige Unterstützung und eine gute Gruppendynamik ist in diesen eisigen Höhen überlebensnotwendig.

Doch auch psychische, destruktive Gedanken belasten das fragile Gemüt der Erzählerin und stellen sie in dieser einen Woche unter widrigen Lebensbedingungen auf die Probe: neben dem sich ausgeliefert fühlen in einer Gruppe sich fremder Menschen schimmern immer wieder die Angst vor der eigenen Selbstüberschätzung sowie Reue an der Teilnahme durch. Und noch dazu schwebt beständig auch noch die Gefahr vor Lawinenabgängen wie ein Damoklesschwert über den Sportlern.

Das Buch hat sich rasant weglesen lassen, denn Silke Stamm hat eine beklemmende Atmosphäre erschaffen, die vor Intensivität nur so strotzt und der man nicht entfliehen kann. Absolut lesenswert, und das alles vor der schönen Kulisse der Schweizer Bergwelt.

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Veröffentlicht am 11.09.2022

Eine wahnsinnig herzenswarme Lektüre

Ein Leben mehr
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Der Aussteiger-Roman „Ein Leben mehr“ der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier ist mittlerweile vor 7 Jahren auf deutsch erschienen und steht auch schon seit einigen Jahren auf meiner Leseliste. ...

Der Aussteiger-Roman „Ein Leben mehr“ der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier ist mittlerweile vor 7 Jahren auf deutsch erschienen und steht auch schon seit einigen Jahren auf meiner Leseliste. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen, und muss sagen, dass es letztendlich mit zu einem meiner Jahreshighlights zählen wird.

Es geht um eine Gruppe in die Jahre gekommener Männer, die zurückgezogen in den Wäldern Kanadas lebt. In einer kleinen Einsiedelei aus einfachen, selbstgezimmerten Hütten nahe einer unbefestigten Straße und am Ufer eines Sees fristen sie einem abgeschiedenen Dasein in Freiheit und im Einklang mit der Natur. Die Freunde leben mit dem Wechsel der Jahreszeiten, die Sommer sind gesellig, die Winter rau und entbehrungsreich. Frauen gibt es in ihrem Leben schon lange keine mehr, bis eines Tages zuerst eine Fotografin, und kurze Zeit später eine über 80-Jährige Dame auf das Männergespann stoßen und den Lebensabend der Männer durcheinanderbringen.

Jocelyne Saucier hat einen berührenden Roman über den Freiheitsdrang, die Lebens- und Schaffenskraft der Freundschaft sowie der Liebe und vor allem über das Altern selbst geschrieben. Das Buch passt stimmungsmäßig perfekt in den Spätsommer und beginnenden Herbst, besticht durch liebevolle Charaktere, die vom Leben gezeichnet sind und durch eine melancholischen Grundton. Der Tod ist in den Gesprächen und im Alltag der Aussteiger stets allgegenwärtig, doch beginnt mit dem Auftauchen der zwei Frauen auch so etwas wie ein neues Leben. Geschickt wird hier Historie in die Handlung eingearbeitet, denn es geht immer wieder um die Großen Brände von Matheson im Jahre 1916 und die Legende eines Mannes namens Boychuck. Mythos wird mit Weisheit gemixt und macht das Buch zu einem sehr besonderen Leseerlebnis, das mich auch wegen gesellschaftskritischer Aspekte und der starken Naturbezogenheit stellenweise an Thoreaus „Walden“ erinnert hat. Volle Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 11.09.2022

Baustellenromantik

Schön ist die Nacht
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Westdeutschland in den 70ern. Wer nicht gerade auf dem Bau klotzt, bejubelt an freien Nachmittagen den FC Kaiserslautern. Am Abend versackt man gemeinsam in der Stammspelunke, wo sich mehr oder minder ...

Westdeutschland in den 70ern. Wer nicht gerade auf dem Bau klotzt, bejubelt an freien Nachmittagen den FC Kaiserslautern. Am Abend versackt man gemeinsam in der Stammspelunke, wo sich mehr oder minder gescheiterte Existenzen tummeln. Die Verhältnisse sind prekär, hier scheint man das Unheil fast auf magische Art anzuziehen.

Die beiden Protagonisten sind zwei Männer. Beste Kumpel, wie sie unterschiedlicher eigentlich nicht sein könnten. Willy ist ehrgeizig und stets bemüht, durch ehrliche Arbeit einen guten Lebensstandard für sich und seine kleine Familie zu erwirtschaften. Derweil bemüht er sich als gelernter Zimmermann auf den Baustellen der Stadt, einen guten Ruf zu bewahren und mit jedem irgendwie halbwegs zurecht zu kommen. Sein bester Kumpel Horst hingegen dreht ständig krumme Dinge, kommt mit nur wenigen Menschen persönlich klar und hat schon längst aufgegeben, mit ehrlichen Mitteln die soziale Leiter nach oben erklimmen zu wollen. Er schwingt sich von einer Missetat in die Nächste, wobei er - bewusst sowie unbewusst - auch Willy immer wieder mit reinzieht. Horst ist der kleinkriminelle Antiheld in Christian Barons zweiten Roman: sein Dasein ist gezeichnet von Alkoholmissbrauch, Schmerz und Aggression, vom ständigen Scheitern und Verlieren.

„Schön ist die Nacht“ ist jedoch mehr als ein Roman über die Freundschaft und Abhängigkeit zweier Männer zueinander. Baron schreibt vom Randleben in einer westdeutschen Stadt, von prekären Existenzen, Krisen und sozialer Ungleichheit. Auf beachtenswerte Art schreibt er von zwei grundverschiedenen Männern, die in ungleichen Blickwinkeln auf die Erfüllung ihrer Lebenswege schauen. Der Eine will sein Leben ehrlich meistern und anständig sein, der andere will mit möglichst wenig Aufwand seinen Teil vom Glück abhaben. Doch gemeinsam rutschen Beide immer wieder in die tiefe Spirale des Unglücks. Armut, Elend, soziale Klassen - Themen, die in diesem auch autofiktionalem Buch auf faszinierende Weise verarbeitet werden - anhand von zwei Freunden, denen man beiden ihre Erfüllung wünscht.

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Veröffentlicht am 11.09.2022

Rot sehen

Rot vor Augen
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In Lina Meruanes Roman "Rot vor Augen" geht es um die Protagonistin Lucina, die auf einer Party in New York plötzlich - und im wahrsten Sinne des Wortes - rot vor Augen sieht. Geplatzten Äderchen sind ...

In Lina Meruanes Roman "Rot vor Augen" geht es um die Protagonistin Lucina, die auf einer Party in New York plötzlich - und im wahrsten Sinne des Wortes - rot vor Augen sieht. Geplatzten Äderchen sind schuld, durch eine angeborene Krankheit gelten Lucinas Augen aus medizinischer Sicht bereits seit jeher eine "tickende Zeitbombe". Und nun sind die Befürchtungen der Ärzte eingetreten und Lucina wird infolge dieses Ereignisses leider auch blind. Ein vorhergesehenes Übel sozusagen, das die junge Frau aber dennoch schlagartig überfällt.

Im Roman beschäftigt sich Lucina nicht nur mit der ihr abhandengekommenden Sehkraft, dem plötzlichen Umherwirbeln in einer scheinbar nun ganz anderen Welt, in der sie plötzlich auf fremde Hilfe angewiesen ist. Fragen um Abhängigkeit und Selbstbestimmung beschäftigen die Protagonistin nun tiefgreifend, Fragen um die Bedingungslosigkeit der Liebe erhält viel Raum in Gedanken und Taten. Die Beziehung zwischen eigenem Körper, Identität, Krankheit bildet das Gerüst der Erzählung, die Dualität zweier Lebenswelten (Wahlheimat New York, familiäre Wurzeln in Santiago de Chile) stellt Lucina vor weitere Herausforderungen. Wir erleben die Empfindungen aller Sinne und Verzweiflungen der Protagonistin, die sich durch das Streben, die eigene Unabhängigkeit wiederzugewinnen, zunehmend radikalisieren, indem sie etwa die Selbstlosigkeit ihres Partners herausfordert.

Die Autorin erlebte einst selbst diesen von ihr beschriebenen Blutsturz, durch welchen auch sie kurzzeitig erblindete. Dass die Protagonistin im Roman dabei den gleichen Namen trägt wie die Autorin selbst lässt ebenfalls auf autobiographische Züge schließen. Für mich ein absolut lohnendes Werk, das hierzulande leider noch recht unbekannt ist, sich aber wirklich lohnt.

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