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Veröffentlicht am 24.03.2023

Es fehlte etwas...

Keine gute Geschichte
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Der Ort, an dem man aufwachst, prägt einen. Das gilt auch für die Protagonistin in Lisa Roys Roman “Keine gute Geschichte”. Sie verbringt ihre Kindheit in Katernberg, einem sozial schwachen Stadtteil von ...

Der Ort, an dem man aufwachst, prägt einen. Das gilt auch für die Protagonistin in Lisa Roys Roman “Keine gute Geschichte”. Sie verbringt ihre Kindheit in Katernberg, einem sozial schwachen Stadtteil von Essen. Jetzt, nach über zehn Jahren, kehrt sie an diesen Ort zurück. Und Katernberg könnte kaum unterschiedlicher sein zu dem Leben, was sie sich mühevoll in Düsseldorf aufgebaut hatte. Sie war als Social Media-Managerin tätig und bewegte sich in einer Welt voll Anglizismen, Influencern, Fashion und teurem Essen.

Aber auch diese Welt hat sie nicht glücklich gemacht. Es plagen sie Depressionen und es entsteht oft das Gefühl, als wäre da eine Distanz zwischen ihr und der Welt, als hätte sie sich nicht nur von der Welt, sondern sogar von sich selbst entfremdet. Grund dafür ist auch der frühe Verlust der Mutter, die einfach verschwunden ist und von der man bis heute nicht weiß, was mit ihr passiert ist.

Verlust und verschwundene Personen sind ein Motiv in dem Roman. Nicht nur die Mutter, auch zwei junge Mädchen aus Katernberg sind nämlich verschwunden. Diese Welt, in der Menschen einfach weg sind und nicht wieder auftauchen, bietet keinen Halt. Deshalb versucht die Protagonistin, selbst Halt und Zuneigung zu finden. Sie will Nähe zu Männern, beginnt beispielsweise gleich zu Beginn ein Verhältnis mit John. Doch diese körperlichen Beziehungen fühlen sich einsam und kalt an.

Der Roman hatte mich gereizt: Das Ruhrgebiet, eine Kindheit in einem Arbeiterviertel, eine Protagonistin, die sich gesellschaftlich hochzukämpfen versucht... Aber ich muss zugeben, dass mich der Roman relativ früh nicht mehr ganz zu überzeugen vermocht hat. Die Protagonistin ist mir völlig fremd geblieben. Außerdem konnte die Geschichte weder durch die Beziehungen zu den Nebenfiguren noch durch die Storyline der beiden verschwundenen Mädchen ausreichend Tiefe entwickeln. Es hat mir etwas gefehlt. Und das ist schade, weil ich dieses etwas immer wieder habe durchblitzen sehen. Zum Beispiel, wenn erzählt wird, dass die Protagonistin als Jugendliche Listen geführt hat, auf denen stand, wie reiche Leute sich verhalten. Oder dass sie vor ihrem ersten Arbeitstag in der PR-Welt Filme angeschaut hat, weil sie nicht wusste, was sie anziehen soll. Solche Details konnten immer wieder herausstechen. Aber sie haben nicht überwogen.

Keine schlechte Geschichte also, aber leider auch keine richtig gute.

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Veröffentlicht am 24.03.2023

Ein bemerkenswerter Roman

Räume des Lichts
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"Räume des Lichts" von Yuko Tsushima hat mich unerwartet begeistert, erzählerisch, sprachlich, aber auch in seiner Art, die japanische Gesellschaft und die Rolle von Frauen in ihr abzubilden.

Es ist ein ...

"Räume des Lichts" von Yuko Tsushima hat mich unerwartet begeistert, erzählerisch, sprachlich, aber auch in seiner Art, die japanische Gesellschaft und die Rolle von Frauen in ihr abzubilden.

Es ist ein sehr introspektiver Roman. Man taucht als Leser in die Innenwelt der Protagonistin ein und erfährt dadurch aus der Nähe, was es in der japanischen Gesellschaft bedeutet, alleinerziehend zu sein. So viele Szenen graben sich in diesem Kontext ins Gedächtnis: Zum Beispiel sträubt sich die Protagonistin davor, auf der Arbeit von ihrer Trennung, ihrer bevorstehenden Scheidung und ihrer Rolle als alleinerziehenden Mutter zu sprechen. Allem haftet ganz offenbar ein Stigma an. Sie muss außerdem übergriffiges Verhalten durch die Bekannten ihres Mannes erleben, die ihr ins Gewissen reden und sie davon überzeugen wollen, sich nicht scheiden zu lassen. Da heißt es dann: “Ich habe im Bekanntenkreis einige Frauen, die geschieden sind, und sie können einem allesamt leidtun. Frauen tut es nicht gut, wenn sie alleine sind." Trotz dieses Verhalten ihres Umfeldes, trotz Zweifel und schlechtem Gewissen geht sie ihren Weg und erkämpft sich das Leben, das sie mit ihrer Tochter zusammen leben will.

Der Roman erzählt von den Höhen und Tiefen von Mutterschaft, von Mutter und Tochter, die sich manchmal voneinander entfernen, kaum miteinander auskommen, um im nächsten Moment wieder füreinander zu sorgen. Er erzählt auch vom Tod, der allgegenwärtig ist, der sich im Grunde durch jedes Kapitel zieht und der, wie man später im Nachwort der Übersetzerin erfährt, das Leben der Autorin geprägt hat. (Als sie ein Jahr alt war, verlor sie ihren Vater. Ihr Sohn ertrank in der Badewanne.).

Man könnte denken, dass diese ja durchaus schweren Themen den Roman düster wirken lassen. Aber das tun sie nicht, denn sie werden durch zahlreiche leichte, lichtdurchflutete Momente ausgeglichen, die zum Eindruck eines in sich geschlossenen und harmonischen Gesamtbild beitragen.

Es ist bemerkenswert, was sich auf den knapp 200 Seiten alles entfaltet, wie verdichtet und poetisch dieser Roman sich präsentiert. Nicht zuletzt deshalb empfinde ich ihn als unbedingt lesenswert.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Anders

Bluets
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In "Bluets" verbindet Maggie Nelson ihre Liebe zur Farbe Blau mit dem Ende einer Beziehung. In zweihundertvierzig kurzen Abschnitten, die teils nur aus Sätzen, Zitaten oder Gedankensplittern bestehen, ...

In "Bluets" verbindet Maggie Nelson ihre Liebe zur Farbe Blau mit dem Ende einer Beziehung. In zweihundertvierzig kurzen Abschnitten, die teils nur aus Sätzen, Zitaten oder Gedankensplittern bestehen, benutzt sie die Farbe als einen Ausgangspunkt für Überlegungen zu Trennung, Verlust, Schmerz, Sex und das Leben. Was dabei entsteht ist ein Kaleidoskop an Eindrücken, ein blau gefärbtes Gedankenkonstrukt, das sich durch einen abstrakten und fragmentarischen Charakter auszeichnet.

Nur schwer lässt sich "Bluets" einordnen und definieren. Am ehesten kann das Buch wohl als ein experimenteller, lyrischer und autofiktionaler Essay beschrieben werden, der besonders durch seine Form besticht. Er denkt über das Schreiben selbst als einen Prozess der Verarbeitung und Bewältigung von Schmerz, Schicksalsschlägen und Depressionen nach. Der Bezug zur Farbe Blau, der das Einzelne zusammenhält und einen Rahmen bietet, kann dabei als eine Art Heilungsprozess verstanden werden. Er bindet die Autorin an die Welt, an das Leben. Nelson führt ein Zitat von Thoreau als Selbstcharaktierisierung des eigenen Werkes an: “Wenn unser Gefährte uns enttäuscht, übertragen wir unsere Liebe unmittelbar auf ein würdiges Objekt”.

Nelson fragt nach dem Wesen der Farbe und versucht die Farbwahrnehmung und das Bewusstsein für Farben jedes Einzelnen nachzuvollziehen. Sie betrachtet Farben als situationsbedingt, als individuelle Phänomene, als etwas nicht völlig Greifbares, denn: “Die Verwirrung darüber, was Farbe ist, wo sie ist oder ob sie ist, besteht trotz tausender Jahre des Anstoßes fort.”

Gleichzeitig verwebt "Bluets" Gedanken aus Kunst, Literatur, Philosophie, Religion und Kulturgeschichte. Dabei wird von Goethe bis Thoreau, von Leonard Cohen bis Yves Klein zahlreichen Denkern, Dichtern und Künstlern Raum gewährt. Auch die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Einzelsprachen der Farbe Blau bleiben nicht unerwähnt. Während das Englische Blau mit Depressionen verbindet (“I’m feeling blue”), ist es auf Deutsch Synonym für Rausch und Betrunkenheit (“blau sein”).

Schließlich betrachtet Nelson auch die Beziehung der Natur zur Farbe Blau. Einerseits oft als Gift auftretend (Beeren, Schimmel), bedeutet die Farbe an anderen Stellen Verführung, zum Beispiel bei den Seidenlaubenvögeln, deren Männchen das Nest mit blauen Gegenständen schmücken, um Weibchen anzulocken.

"Bluets" ist ein Erlebnis. Es ist träumerisch und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Trotz der Tatsache, dass das Buch zuweilen sehr persönlich ist und die Gefühle der Autorin manchmal nur schwer zu (be-)greifen sind, da sie düster und dunkel wirken und nie weit entfernt von einer Depression scheinen, liest man die einzelnen Abschnitte voller Aufmerksamkeit. Ein Buch also, dass sich durch sein Anderssein hervorhebt und alleine deshalb eine Empfehlung verdient.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Über eine interessante Frau

Vor Frauen wird gewarnt
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Heidi Rehn widmet sich in ihrem Roman “Vor Frauen wird gewarnt” dem Leben und Werk Vicki Baums. Beginnend mit ihrer Anstellung als Redakteurin beim Ullsteinverlag, zeichnet sie die Berliner Jahre der Autorin ...

Heidi Rehn widmet sich in ihrem Roman “Vor Frauen wird gewarnt” dem Leben und Werk Vicki Baums. Beginnend mit ihrer Anstellung als Redakteurin beim Ullsteinverlag, zeichnet sie die Berliner Jahre der Autorin nach: Von ihren ersten Tagen im Verlagshaus bis zu ihren nationalen Erfolgen als Schriftstellerin, der Verfilmung ihrer Romane und schließlich ihres internationalen Ruhms. Vicki Baum tritt dabei stets als willensstarke, selbstständige und freiheitsliebende Frau in Erscheinung. Sie verkörpert das Ideal der Neuen Frau, die modern sein will und sich nicht Regeln und Einschränkungen unterwerfen will. Sie genießt das Berliner Nachtleben, führt eine offene Ehe und stellt ihr berufliches Weiterkommen über alles andere.

Der Roman beschwört die Zwanziger Jahre auf lebendige Weise herauf und lässt ihre Leser an der Atmosphäre dieser Zeit teilhaben. Vickis Beziehungen, ihre Freundschaften, ihr Alltag, ihre Gedankenwelt und auch die Kämpfe, die sie als Frau auszutragen hat, fügen sich zu einem Bild zusammen, das durch seine Vielschichtigkeit besticht.

“Vor Frauen wird gewarnt” gibt Einblicke in das Leben einer beeindruckenden Persönlichkeit und macht Lust darauf, sich Vicki Baums Werk intensiv zu widmen und es der Vergessenheit zu entreißen. Denn mit dem Wissen über die Entstehungs- und Editionsgeschichten sowie über die Reaktionen der Zeitgenossen zu ihren Romane, entsteht ein neuer Bezug zu Vicki Baums Werk, der vertieft werden will. “Vor Frauen wird gewarnt” ist daher ein gelungener Einstieg und eine Hommage an eine Autorin, über deren Leben zu Unrecht wenig bekannt ist.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein Autor, den man entdecken sollte

The Hills
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Mit “The Hills” hat der norwegische Autor Matias Faldbakken einen ironischen Roman über ein traditionsreiches Osloer Restaurant geschrieben, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Der Protagonist ...

Mit “The Hills” hat der norwegische Autor Matias Faldbakken einen ironischen Roman über ein traditionsreiches Osloer Restaurant geschrieben, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Der Protagonist des Romans ist der Kellner, der sich selbst als hochsensibel bezeichnet, seine Arbeit sehr ernst nimmt, von den festsitzenden Handgriffen und Umgangsformen nie abweicht und die Gewohnheiten seiner Stammgäste bis ins kleinste Detail kennt. Doch die so fest verankerte Ordnung des Restaurants fällt dem Chaos anheim, als eine junge Frau durch die Tür tritt.

Mit der Ankunft der jungen Frau gerät alles, wofür das Restaurant steht, plötzlich ins Wanken. Der Kellner beginnt, grobe Fehler zu machen, er vergisst sich. Hierarchien und Strukturen lösen sich auf und kehren sich ins Gegenteil um. Da wird plötzlich die Käseplatte vor dem Hauptgericht verzehrt und Handys halten Einzug in das von Zeitungen geprägte Erscheinungsbild des Restaurants.

Die Geschichte bewegt sich am Abgrund. Auf der einen Seite ist die Ordnung, das Alte, das Festhalten an einer Zeit, die schon längst vergangen scheint und nur noch innerhalb der Wände von The Hills existiert. Das Restaurant steht für ein altes Europa, an das man sich mit aller Gewalt klammern muss, um es noch aufrecht erhalten zu können, das in Form des Restaurants bereits abgenutzt wirkt, in dem sich der Ruß und der Dreck der Zeit festgesetzt haben: “Stellen Sie sich vor, wie schön es im alten Europa war, das ist gar nicht einmal so lange her. […] Jetzt gibt es überall Dönerstände und Reparaturläden für kaputte Handybildschirme. Armes Europa.”
Auf der anderen Seite steht das totale Chaos, ein unbekanntes, noch unerforschtes Neues, das nicht mit der Nostalgie, die The Hills auszeichnet, in Einklang zu bringen ist.
Es ist grandios, wie Faldbakken seine Geschichte stets am Abgrund entlanggleiten lässt. Das Geschehen wird zu einem Balanceakt, zu einem Seiltanz und als Leser rechnet man stets mit dem Schlimmsten, mit dem unsichtbaren Stoß, der die Tänzer vom Seil fallen lässt.

Doch nicht nur diese Ungewissheit und untergründige Spannung zeichnen den Roman aus. Er ist außerdem ein Kammerspiel, das sich aus sehr feinen und tiefgründigen Charakterstudien zusammensetzt. Der Kellner, die Barfrau, der Maitre D’ und die Gäste werden in ihrem Verhalten während der gesamten Erzählung unter die Lupe genommen. Nichts bleibt dabei verborgen. Gleichzeitig werden die Figuren jedoch nie ins Lächerliche gezogen und nehmen keine zu starken karikaturartigen Konturen an. Denn Faldbakken gelingt es meisterhaft, seine Figuren auf dieser Bühne, die das Restaurant darstellt, auftreten zu lassen, ihnen den Raum zu geben, sich zu entfalten und Tiefe zu entwickeln und sie dem Leser gleichzeitig durch eine scharfsinnige und ironische Linse blickend zu präsentieren.

“The Hills” ist Zeugnis des erzählerischen Talents seines Autoren und eine Freude für jeden Leser.

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