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Veröffentlicht am 15.03.2023

Radikal und gewagt

Power
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Der Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf. Kerze, die elfjährige Protagonistin des Romans, erhält von einer Nachbarin den Auftrag, deren verlorenen Hund Power zu finden. Gewissenhaft macht sich Kerze ...

Der Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf. Kerze, die elfjährige Protagonistin des Romans, erhält von einer Nachbarin den Auftrag, deren verlorenen Hund Power zu finden. Gewissenhaft macht sich Kerze jeden Tag auf die Suche, befragt die Dorfbewohner, durchforstet den Wald. Bald schon schließen sich ihr die anderen Kinder des Dorfes an. Doch als die Kinder zu bellen anfangen, auf allen Vieren krabbeln, das Duschen verweigern, nur noch aus Schalen auf dem Boden essen und schließlich ganz im Wald verschwinden, nimmt die Suche ungeahnte Ausmaße an.

​Kerze steht im Zentrum der Geschichte. Sie brennt für die Suche, ist Feuer und Flamme und sie führt das Rudel an, ist das Licht, von dem sich die anderen Kinder wie Motten angezogen fühlen. Keines der Kinder will ausgeschlossen sein. Sie wollen zur Gemeinschaft dazugehören, gehorchen deshalb Kerzes Befehlen und begehren auch nicht auf, wenn sie zur Bestrafung Tannenzapfen essen müssen.

Durch ihre selbstgewählte Verwilderung entziehen sie sich gleichzeitig der Kontrolle der Erwachsenen, die hilflos abends am Waldrand stehen und nach ihren Kindern rufen. Sie vermögen nicht, die Waldgrenze zu überschreiten und ihre Kinder der Wildnis zu entreißen.

Der Roman kann als eine Coming-of-Age-Geschichte gelesen werden. Viele der Kinder um Kerze befinden sich in der Übergangsphase zur Jugend. Sie geben sich dem Animalischen in sich hin, lassen den Trieben freien Lauf. Sie legen alles Menschliche ab, ihre Sprache und auch ihre Verhaltensweisen. Ihre Rückentwicklung ist eine Art Verweigerung, gleichzeitig ein Sich-Festklammern an das, was bereits im Auflösen begriffen ist, nämlich die Kindheit.

Noch deutlicher und offensichtlicher ist jedoch die Gesellschaftskritik, die der Roman übt. Sich anreihend an Werke wie „Herr der Fliegen“ oder „Die Welle“ erschafft Güntner eine düstere und dystopisch anmutende Welt, in der die Gruppenbildung der Kinder als Kommentar über Radikalisierung sowie Macht- und Herrschaftsstrukturen gelesen werden kann. Der Roman legt dar, wie schnell etwas scheinbar Harmloses große Ausmaße annehmen kann, wie es als Nährboden für Fanatismus dienen und eine Vielzahl von Menschen - im Übrigen auch Erwachsene, die sich den Kindern anschließen möchten - radikalisieren kann.

Gleichzeitig nimmt die Autorin das Dorfleben unter die Lupe und zeigt, wie gewaltbereit, unnachgiebig und niederträchtig auch die Erwachsenen sein können.

Verena Güntner schafft es, den Leser in die finstere Welt ihres Romans hineinzuziehen. Bis zum Ende bleibt die Geschichte nicht ganz greifbar und entzieht sich dem vollständigen Verständnis des Lesers. Sie ist gesellschaftskritisch, radikal, gewagt und eine Bereicherung für die deutsche Gegenwartsliteratur. Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse war daher wohlverdient.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Zu stark fiktionalisiert

Frau Merian und die Wunder der Welt
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Frau Merian und die Wunder der Welt macht den Leser mit dem Leben der Forscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian vertraut. Maria wuchs in Deutschland auf, lebte dann aber in den Niederlanden. Ihre ...

Frau Merian und die Wunder der Welt macht den Leser mit dem Leben der Forscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian vertraut. Maria wuchs in Deutschland auf, lebte dann aber in den Niederlanden. Ihre große Leidenschaften galt den Schmetterlingen, die sie in ihren unterschiedlichen Stadien malte. Der Roman begleitet sie von Amsterdam bis in die niederländische Kolonie Surinam, wo sie die Insekten- und Tierwelt beobachtete und erforschte. Das Ergebnis dieser Reise waren eine Ausstellung und ein Buch, das ihre Funde dokumentierte.

Der Roman setzt dieser beeindruckenden und starken Frau ein Denkmal. Was mich jedoch gestört hat war die Tatsache, dass die fiktiven Elemente sehr viel Raum eingenommen haben. Ganz besonders die Beziehung zu Jan de Jong, einer fiktiven Figur, die es so in Marias Leben nicht gegeben hat, habe ich als überflüssig empfunden. Sie lässt den Roman konstruiert erscheinen und trägt dazu bei, dass er sich an einigen Stellen in Ausschweifungen verliert.

Diese zu starke Fiktionalisierung wird alleine dadurch aufgewogen, dass mich der Roman mit Maria Sybilla Merian überhaupt erst in Kontakt gebracht hat und ich nun Lust bekommen haben, mehr über sie zu erfahren.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein lesenswertes Buch, das es nicht zu verpassen gilt!

Wallace
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Anselm Oelzes Roman Wallace zeichnet das Leben von Alfred Russel Wallace nach, dem ewig Zweiten, dem, der nie als Entdecker der Evolutionstheorie in die Geschichte eingegangen ist. Dabei hat Wallace zur ...

Anselm Oelzes Roman Wallace zeichnet das Leben von Alfred Russel Wallace nach, dem ewig Zweiten, dem, der nie als Entdecker der Evolutionstheorie in die Geschichte eingegangen ist. Dabei hat Wallace zur selben Zeit wie Darwin ganz ähnliche Überlegungen zur natürlichen Selektion und zur Entstehung von neuen Arten gemacht. Doch Darwin kommt ihm zuvor, veröffentlicht seine Schriften zuerst und sichert sich so einen Platz in der Geschichte.

Der Roman verleiht Wallace eine Stimme. Er nimmt den Leser mit auf Wallaces Expeditionen in den Regenwald Brasiliens, wo er unermüdlich tausende Käfer und Schmetterlinge sammelt, die ihm die Anerkennung und die Aufmerksamkeit seiner englischen Zeitgenossen zu versprechen scheinen. Doch bei seiner Rückreise nach England fängt das Schiff Feuer und Wallaces kostbare Ladung versinkt im Meer.

Wallace verzagt nicht, macht sich auf die Reise nach Malaysia, entdeckt dort die Trennlinie der Arten zwischen der asiatischen und australischen Region und schreibt Darwin von seinen Überlegungen über die Entstehung neuer Arten.

Anselm Oelze hat einen Roman über das Glück geschrieben, über das Schicksal und seine Wendungen, über das Selbstbewusstsein, den Mut und den Glauben an sich selbst, über Sieger und Verlierer und über Geschichte und Geschichtsschreibung. Er verleiht einer historischen Figur eine Form und Stimme, die es verdient hat, wahrgenommen zu werden. Der Roman setzt Wallace ein wohlverdientes Denkmal, erkämpft ihm nachträglich einen Platz in der Geschichte und macht ihn einem breiten Publikum vertraut.

Ein lesenswertes Buch, das es nicht zu verpassen gilt!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein besonderer und lesenswerter Roman!

WEST
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Es ist das Jahr 1815 in Pennsylvania. John Cyrus Bellman hat seine Heimat England verlassen, um sich in der Neuen Welt niederzulassen. Doch seine Frau Elsie ist bei der Geburt der Tochter gestorben und ...

Es ist das Jahr 1815 in Pennsylvania. John Cyrus Bellman hat seine Heimat England verlassen, um sich in der Neuen Welt niederzulassen. Doch seine Frau Elsie ist bei der Geburt der Tochter gestorben und Cy kann ein Verlust nicht überwinden. Erst als er einen Artikel in der Zeitung über den Fund eines riesigen Skeletts im Westen des Landes liest, keimt neue Hoffnung in ihm auf. Er ist davon überzeugt, dass diese riesigen Tiere leben und beschließt, sich selbst auf die Suche nach ihnen zu begeben.

Der Roman begleitet Cy auf seiner Reise durch ein unbesiedeltes und zu großen Teilen noch völlig unentdecktes Land, das sich vor den Augen des Lesers entfaltet. Cys Hoffnung, in der wilden, unberührten Natur Erfüllung zu finden und seine Abenteuerlust durch sie stillen zu können, wird bald mit der Realität konfrontiert. Unbeholfen und klein wirkt der Mensch im Angesicht der Schlangen, Bären und Wölfe, der harten und menschenfeindlichen Winter und der gefährlichen Wege.

Gleichzeitig hat der Westen, auf den die Träume des Protagonisten projiziert werden, etwas Großes und Mythisches an sich. Er ist nicht nur Gefahr, nicht nur wilde Natur, sondern repräsentiert auch den unerschütterlichen Glauben der Menschen und den Drang zu entdecken und zu erforschen.

Davies erzählt unaufgeregt und in einer schlichten Sprache, die Bilder von großer Kraft und Ausdrucksstärke heraufbeschwört. Der Roman ist ein Western, der durch seinen poetischen und tiefgründigen Charakter hervortritt und sich von anderen vermeintlich ähnlichen Geschichten in dieser Hinsicht stark abhebt. Er verklärt die Zeit der Siedler nicht und zeichnet stattdessen ein glaubhaftes Bild von ihnen, das sich auch aus Vergewaltigungen und Betrügereien zusammensetzt.

Ein besonderer und lesenswerter Roman!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Klug

Und die Braut schloss die Tür
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“Ich heirate nicht, heirate nicht, heirate nicht” lässt Ronit Matalon die Protagonistin ihres Romans "Und die Braut schloss die Tür" ausrufen. Margi schließt am Tag ihres Hochzeit die Tür zu ihrem Schlafzimmer ...

“Ich heirate nicht, heirate nicht, heirate nicht” lässt Ronit Matalon die Protagonistin ihres Romans "Und die Braut schloss die Tür" ausrufen. Margi schließt am Tag ihres Hochzeit die Tür zu ihrem Schlafzimmer und zeigt sich der Familie nicht mehr. Sie verweigert jedes Gesprächs, gibt keine Antworten und geht auf keine Bitten ein.

Matalon kurzer Roman ist eine ausdrucksstarke Charakterstudie. Wie in einem Kammerspiel lässt er den einzelnen Charakteren Raum. Da ist zum Beispiel Nadja, Margis Mutter, die sich nur darüber sorgt, ob sie nun für die Kosten der geplatzten Hochzeit aufkommen muss. Oder Matti, der Bräutigam, den die Situation überfordert, der gekränkt ist und sich in der Überlegung verliert, ob Margi ihn nun wirklich liebt oder nicht. Ilan, der Cousin der Braut, interessiert sich indessen nur für Schmuck und Kleidung und kann dem Anblick seiner eigenen Augen kaum widerstehen.

Über all diesen Charakterstudien steht natürlich die Figur der Braut, die es gewagt hat, sich den Traditionen zu widersetzen, die die Anpassung verweigert und aus dem Rahmen fällt. Das selbstbewusste und starke “Nein” der Braut, von der an diesem Tag ausschließlich ein “Ja” erwartet wird, macht den Roman zu einem Kommentar über Selbstbestimmung, Konventionen- und Erwartungsbrüchen und dem Willen, sich zu widersetzen.

Der Roman ist ein Familientableau, wie man es gekonnter wohl kaum festhalten könnte. Seine Beschreibungen und kurzen Bemerkungen zeichnen sich zum Teil durch einen dunklen Humor aus, um gleich im nächsten Augenblick wieder ernster zu werden. Kein Wort scheint dabei zu viel, kein Satz zu lang, keine Szene am falschen Platz.

"Und die Braut schloss die Tür" ist ein wunderbar kluges und gelungenes Buch, das es verdient hat, den Weg in die Hände möglichst vieler Leser zu finden.

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