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Veröffentlicht am 28.10.2024

Schräge und gut gemachte Dystopie

Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil
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Die Bewohner von Innen-Horner haben sehr wenig Platz. Die anderen, außerhalb der Grenze ihres winzigen Landes nennt man Außen-Horner. Die wiederum möchten keinen Krümel von ihrem Land abgeben, auch weil ...

Die Bewohner von Innen-Horner haben sehr wenig Platz. Die anderen, außerhalb der Grenze ihres winzigen Landes nennt man Außen-Horner. Die wiederum möchten keinen Krümel von ihrem Land abgeben, auch weil sie befürchten, dass die anderen Popelländer dann auch ein Stück vom Kuchen wollen.

Der Grenzschutz der Außen-Horner findet problematisch, dass die Innen-Horner aus Platzmangel immer wieder den ein oder anderen Fuß auf ihr Land setzen. Phil ein Außen-Horner und Sonderling mittleren Alters, dessen Liebe einst von einer schönen Innen-Hornerin verschmäht wurde, spricht mit großer Autorität:

Dann besteuert sie.

Der Grenzschutz zeigt sich angetan von dieser grandiosen Idee und so nimmt man den Innen-Hornern ihren einzigen Apfelbaum, den Fluss und etwas Erde. Nachdem der Siegeszug ausgelassen gefeiert wurde, mehren sich die zuhörwilligen Außen-Horner. Phil benutzt viele verwirrende Phrasen, streut etwas Patriotismus hinzu, ein wenig Wertschätzung indem er das Gefühl von Stolz suggeriert und würzt seine Rede mit Charisma. Einzig die Grenzwächterin Melvin äußert leise Zweifel, die schnell im Keim erstickt sind.

Nachdem die Innen-Horner nun von ihren Ressourcen befreit sind, steht die nächste Steuerlast ins Haus und Phil insistiert, man könne ihnen die Kleider nehmen. Das ist keine große Sache, da die Innen-Horner in der Unterzahl sind. Von dem Steuererlös organisiert Phil noch ein paar Grenzposten zusätzlich, um die Innen-Horner besser kontrollieren zu können.

Fazit: Mit seinem ganzen Autorenkönnen illustriert George Saunders, wie ein Staat sich als Allmacht begreift und in die Totalität driftet. Anschaulich zeigt er, welche Mechanismen es braucht, die Macht an sich zu reißen, um Nachbarländer auszubeuten und zu kontrollieren. Protagonist und Nebendarsteller sind nicht menschlich gezeichnet, sondern eher als Maschinen. Die Geschichte ist anschaulich bebildert. George Saunders betont, dass er sich auf kein explizites Ereignis beruft, sondern lediglich die Dysfunktionalität des 20. Jahrhunderts versinnbildlichen wollte. Der wesentliche Aspekt, den der Autor rigoros herausgearbeitet hat ist der wesentliche menschliche Defekt des übergroßen Egos und des unbedingten Gewinnenwollens.

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Veröffentlicht am 25.10.2024

Was für eine erstaunliche Geschichte

Nach uns der Himmel
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Eine Boeing auf dem Weg ins Urlaubsparadies gerät in heftige Turbulenzen. Das Flugzeug wird so durchgerüttelt, dass sogar das Flugpersonal betreten schweigt. Die Gewitterfront macht die Landung unmöglich. ...

Eine Boeing auf dem Weg ins Urlaubsparadies gerät in heftige Turbulenzen. Das Flugzeug wird so durchgerüttelt, dass sogar das Flugpersonal betreten schweigt. Die Gewitterfront macht die Landung unmöglich. Die Pilotin dreht ab, versucht zwischenzulanden. In Athen zittern die Passagiere die Treppe hinunter. Ein Shuttle fährt sie zum Flughafen.

4621 Cahuega Boulevard (Los Angeles)

Er sitzt an seinem Schreibtisch. Als es an der Türe klopft hebt er die Füße von der Tischplatte und stellt sein Whiskyglas in die unterste Schublade. Die Frau vom Controlling steht vor ihm, habe ein paar Fragen in vorausgegangener Sache.

Währenddessen fährt der Shuttle die Fluggäste zurück über die Rollbahn in den frisch betankten Flieger. Das Gewitter hat sich verzogen, sie fliegen weiter.

Benedikt erwacht wie immer um sechs in der Früh. Er dreht sich zu Annike, weil seine Lenden ihm das signalisieren. Die hat wie so oft keine Lust, also geht er laufen. Der Traum der letzten Nacht, vom Himmel abgestürzt zu sein, hat ihm viel Schweiß auf der Haut beschert und so trinkt er zuerst einmal viel Wasser.

Sara dreht sich zu Marc, sieht ihm kurz beim Schlafen zu. Ihr erster Blick des Tages gilt ihrem Mann, doch den ersten Gedanken widmet sie ihrem Sohn. Ob er diese Nacht geschlafen hat? Wie jeden Morgen wenn sie erwacht, hat sie auch dieses Mal die Mauer um sich herum errichtet.

Claudius, der schwer in der Matratze versunken ist, grunzt vor sich hin. Seine Hand versucht Elisabeth zu ertasten, aber ihre Seite ist leer. Sicher bereitet sie in der Appartementküche schon das Frühstück für Benedikt, Annike und sie beide. Wohlig grinst er vor sich hin, weil er die beiden eingeladen hat. Benedikt ärgert sich seit Jahren darüber, dass Claudius so spendabel ist, einfach, weil er es kann.

Fazit: Simone Buchholz hat mehrere Charaktere miteinander verwoben. Alle haben ihre Probleme, die sie im Beziehungsalltag herausfordern. Hier auf dieser Insel werden die Defizite sichtbar, weil sie sich schlecht wegdrängen lassen. Außerdem stolpern die Urlauber über allerlei Merkwürdigkeiten, die sie sich nicht erklären können. Die Inselbewohner beachten sie nicht. Eine Bootsfahrt führt zu erstaunlichen Beobachtungen, Gebäude verschwinden und Wetterphänomene häufen sich. Immer wieder richtet die Autorin den Blick nach Los Angeles, wo zwei seltsame Menschen dubioses Treiben. Es ist eine absolut fiktive Geschichte voller Wendungen, fast schon ein bisschen überzogen und doch so interessant geschrieben, dass mich nichts gestört hat. Und obwohl mich nichts mehr hätte überraschen sollen, hat mich das Ende erstaunt.

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Veröffentlicht am 21.10.2024

Feine Geschichte voller Ironie

Innerstädtischer Tod
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Fabian Kolb hat es geschafft, er darf seine Werke in der Konrad-Raspe-Galerie nicht nur ausstellen, nein ihm zu Ehren will der Galerist eine Vernissage geben. Nachdem Russland unter Putin der Ukraine unter ...

Fabian Kolb hat es geschafft, er darf seine Werke in der Konrad-Raspe-Galerie nicht nur ausstellen, nein ihm zu Ehren will der Galerist eine Vernissage geben. Nachdem Russland unter Putin der Ukraine unter Selenski den Krieg erklärt hat, herrscht in der deutschen Gesellschaft große Unsicherheit, das wissen sich Künstler und Galerist zunutze zu machen. Jetzt trägt der Saal, ein ehemaliges Gotteshaus, das Mal des Krieges vor sich her. Der Raum ist gespickt mit Objekten aus Holz, Eisen und Leder. Kadaver, die ihre Extremitäten dem Blau des Himmels entgegenrecken, versehrt durch aufbrechende Wundmale.

Fabians erste Planung sah vor, mit seiner Installation die Post Corona Leere zu vermitteln. Stille, Ruhe nach dem Sturm, die Atmosphäre demütige Kontemplation, aber wir befinden uns in schnelllebigen Zeiten und nun musste etwas Erschütterndes her.

Konrad Raspe umgibt sich gern mit jungen Assistentinnen, die ebenso gut modeln könnten. Seine irrsinnig schöne Frau hat die fünfzig gerade erst überschritten, beäugt ihren Mann mit begründetem Argwohn, weniger, weil er sich außereheliche Unterhaltung sucht, sondern weil sie damit rechnet, dass eine der jungen Dinger einen Skandal vom Zaun bricht.

Fabians Onkel hat ihn, im Gegensatz zu seinen Eltern die letzten Jahre protegiert. Die elterliche Gunst ging flöten, nachdem Fabian sich deutlich für ein Kunststudium aussprach, statt die väterliche Krawattenfirma zu übernehmen. Nun werden die Äußerungen des 1. Vorsitzenden der Neuen Rechten, seines Onkels, der im Bundestag vom Fliegenschiss der Vergangenheit faselt, zunehmend obskur.

Fazit: Christoph Peters hat eine ungemein unterhaltsame Geschichte geschaffen. Mit großer Ironie und bissigem Humor spricht er das Undenkbare aus, zeigt uns die Gedanken aller Beteiligten. Die des sensiblen Künstlers, der echte moralische Bedenken hegt. Die seines Cousins, der nie die Anerkennung seiner Mutter bekommen wird und das durch seine Mildtätigkeit zu kompensieren versucht. Des Galeristen, der seine Profilierungsneurose offen auslebt. Des alten Onkels, der trotz seines Geschichtsstudiums und seiner Belesenheit die Schuldfrage umkehren will. Die Geschichte wird temporeich erzählt, gespickt mit Informationen, die gut recherchiert sind, ohne dass ich mich belehrt fühlte oder gelangweilt hätte. Definitiv ein lesenswerter Roman, der mir Spaß gemacht hat.

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Veröffentlicht am 18.10.2024

Eine feine dichte Geschichte

Unten im Tal
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Es ist noch nicht drei Uhr in der Früh, als Luigi sich aus dem Bett wühlt. Seine schwangere Frau Elisabetta liegt schlaftrunken neben ihm. Im Ort sprechen die Leute über getötete Hunde. Zehn an der Zahl ...

Es ist noch nicht drei Uhr in der Früh, als Luigi sich aus dem Bett wühlt. Seine schwangere Frau Elisabetta liegt schlaftrunken neben ihm. Im Ort sprechen die Leute über getötete Hunde. Zehn an der Zahl sind es bisher, alle durch einen tödlichen Biss in die Kehle verendet. Luigi ist Forstpolizist und fährt die einzelnen Hundebesitzer ab, um Indizien zu prüfen und die Spur aufzunehmen.

Die weiße Hündin folgt ihrem Liebhaber flussaufwärts. Er ist stark, hat es mit allen Konkurrenten aufgenommen. Sie liebt seinen erdig würzigen Geruch, vermischt mit dem süßlichen Duft der Widersacher.

Luigi will in das Haus seines Vaters ziehen. Es liegt weit oben. Vom Garten aus blickt man in das unverstellte Tal. Einst hatte sein Vater zwei Bäume gepflanzt, eine Lärche, die wie Luigi hart und zerbrechlich ist und eine robuste Fichte, die im Schatten der Lärche gedeiht für Alfredo.

Luigi hat Alfredo seit sieben Jahren nicht gesehen. Er hatte ihn benachrichtigt, als ihr Vater gestorben war, doch der hatte nicht reagiert. Jetzt kommt Fredo sein Heimatdorf besuchen, Luigi hat ihn ausbezahlt, nun soll der Notartermin folgen.

Luigi betritt Tessas Kneipe und erkennt Fredo sofort, obwohl er ihm den Rücken zuwendet. Die wenigen Leute reden laut und Luigi fürchtet, dass sein Bruder sich mit ihnen streitet, wie er das früher immer getan hat, aber Fredo kommentiert bloß und lacht. Er trägt ein Holzfällerhemd, auf dessen Rücken sich der breite Schultergürtel abzeichnet. Er sieht gut aus, trägt die blonden Haare länger, der Bart vielleicht sieben Tage alt. Sie begrüßen sich und Fredo bestellt eine Runde Whisky und helles Bier.

Fazit: Paolo Cognetti hat eine feine, dichte Geschichte geschaffen, inspiriert – wie er anmerkt – durch Bruce Springsteens Album Nebraska, das der ganz mit sich allein in der Abgeschiedenheit aufgenommen hat. Die Erzählung beginnt mit einer Junghündin, die einem Rüden folgt und dann Luigis Weg kreuzt. Mit Luigi und Alfredo sind dem Autor zwei starke Charaktere gelungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fredo, der grobe unberechenbare Trinker, der sich im wahrsten Sinne des Wortes durchschlägt und der empfindsame, sesshafte Luigi mit Frau und Kind. Beide Brüder verwurzelt mit der schroffen Landschaft des Piemont, verbunden durch die familiäre Herkunft und getrennt durch unterschiedliche Temperamente. Die Schreibtechnik ist gekonnt, jedes Wort sitzt, keins ist zu viel. Dann spitzt der Konflikt sich zu und reißt mich mit. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen.

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Veröffentlicht am 17.10.2024

Gutes Thema aber beliebiger Schreibstil

Der Kommandant des Flusses
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Yabar blutet aus einem Auge. Es ist mehr als dumm gelaufen. Er ist sich sicher, dass er es noch über diese Brücke des Tiber bis vor die Tür des Krankenhauses schafft und tatsächlich, vor dem Haupteingang ...

Yabar blutet aus einem Auge. Es ist mehr als dumm gelaufen. Er ist sich sicher, dass er es noch über diese Brücke des Tiber bis vor die Tür des Krankenhauses schafft und tatsächlich, vor dem Haupteingang bricht er zusammen und verliert das Bewusstsein. Als er zu sich kommt, liegt er auf einer Bahre eine Nadel in seiner Hand, fixiert mit Klebeband. Er habe großes Glück gehabt, was denn passiert sei? Gestürzt, sagt Yabar. Ob er seine Eltern anrufen könne, will der Arzt wissen. Sein Vater ist fort, seine Mutter will er nicht beunruhigen.

Yabar verbringt viel Zeit bei Rosa, der Frau, die er Tante nennt, obwohl sie keine Tante ist, sondern die beste Freundin seiner Mutter. Rosa hat eine Tochter, Sissi, die mit ihren blonden Locken und weißer Haut ganz anders aussieht als Rosa, er oder seine Mutter. Sissi ist die Streberin schlechthin und sie verhält sich wie eine Lehrerin, weiß alles besser und will Yabar ständig motivieren, dafür sorgen, dass er nicht sitzen bleibt und dann passiert es doch.

Nach der Nichtversetzungspleite schickt seine konsequente Mutter ihn zu ihrer somalischen Schwester und seinen Cousins nach London. Die Schwestern haben keinen Kontakt mehr, warum weiß Yabar nicht. Er hofft, bei seiner Familie etwas über seinen Vater zu erfahren. Als sein Onkel ihn am Flughafen abholt, flattern Yabar die Nerven, weil sein somalisch schlecht ist. Doch dann fällt ihm seine Muttersprache leichter als gedacht. Seine Cousins erheben sich alle, als er reinkommt. Seine Tante verfällt in Lobhudeleien, während sie etliche Schälchen mit Reis, Lamm, Bananen und Hühnchen auftischt. Danach ziehen seine Cousins weiße Hemden und Kappen über ihre Hoodie und fahren mit ihm beten.

Fazit: Ubah Christina Ali Farah hat den schwarzen Teenager Yabar geschaffen. Seine Eltern flohen, wie viele andere 1990 von Somalia nach Rom. Die Mischung aus Clans, Milizen und Militär machte das Überleben der Zivilbevölkerung immer unwahrscheinlicher. Die Mitglieder einer Familie gehörten unterschiedlichen Clans an und mordeten sich gegenseitig. Somalia, Äthiopien und Eritrea waren italienische Kolonien, deshalb flüchteten viele Menschen nach Italien. Die Väter gingen zurück, kämpften weiter und brachten Schande über ihre Familien, weil sie für die Falschen gekämpft haben. Die Auswanderer blieben weitestgehend unter sich und fanden Anerkennung unter ihresgleichen. Ich finde das Thema Kolonialismus wichtig, ebenso wie die Ausbeutung des schwarzen Kontinents durch Konzerne weltweiter Herkunft. Einer der reichsten Kontinente an Ressourcen, der ausgeblutet wird, damit reiche Industrienationen ihren Wohlstand mehren können. Menschen, die durch korrupte und militante Machthaber vertrieben werden und ebenso unerwünscht sind wie die Menschen, die den Mittelmeerweg wählen. In der Sahara sind mittlerweile mehr Menschen verendet als im Mittelmeer ertrunken, Dramen, über die dringend geschrieben werden muss.

Was mir an der Geschichte nicht gefallen hat, war die Beliebigkeit des Schreibstils. Ebenso die Übergänge zu den Zeitsprüngen, die, wenn überhaupt mit einer Leerzeile gekennzeichnet wurden, statt mit einem neuen Absatz. Ich hätte mir ein wenig mehr der somalischen Kultur gewünscht, nicht der Sprache, davon gab es genug Worte, die mir fremd blieben, eher von den Bräuchen. Die Atmosphäre hat mir nichts über Italien gezeigt, außer die Erwähnung einiger Straßennamen. Wie riecht es da unten am Tiberufer, wie klingt es? Ich weiß nicht, woran es lag, aber das war mir zu wenig Klangfarbe und Kultur. Schade.

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