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Veröffentlicht am 22.05.2025

Feinfühlig und melancholisch

Was ich von dir weiß
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Kairo 1961-2001

Tarek ist zwölf, als sein Vater ihn fragt, was er denn einmal werden möchte. Tarek beobachtet seine Schwester Nesrine, die auf diese Frage mit nahezu zwanzig Ideen antwortet. Tarek schweigt. ...

Kairo 1961-2001

Tarek ist zwölf, als sein Vater ihn fragt, was er denn einmal werden möchte. Tarek beobachtet seine Schwester Nesrine, die auf diese Frage mit nahezu zwanzig Ideen antwortet. Tarek schweigt. Dabei ist sein Lebensplan schon vergeben, er wird in die Fußspuren seines Vaters treten und die gut situierte Praxis des angesehenen Arztes übernehmen, wenn es soweit ist. Der Vater möchte, dass Tarek selbst darauf kommt, deshalb wird er ihm diese Frage immer wieder stellen.

Tarek schaut den Erwachsenen gebannt zu. Die lachenden Männer, worüber lachen sie? Die Frauen, die den Männern entrüstete Blicke zuwerfen und auf die Kinder zeigen. Damals wusste er noch nicht, dass er sich vor diesen Männern mit weißen Haaren und Hang zu Alkohol, die Dinge behaupteten, als wüssten sie es, sich vor Fremden fürchteten und eigentlich Kinder geblieben waren, fürchten sollte.

Die Mutter wollte den Vater nicht wecken und sich seinen Zorn zuziehen. Sie stieg leise aus dem Bett und ging ins Bad. Als sie zurückkam, schlief er immer noch, ganz untypisch für ihn. Sie wägte ab, ob seine Vorwürfe schlimmer wären, weil sie ihn weckte, oder weil sie es nicht tat. Als sie um das Bett schlich und seine Schulter sanft bewegte, traf sie seine Leblosigkeit wie ein Stein.

Die Kondolenzbesuche waren gespickt mit pflichtschuldigen Floskeln. Seine Hände wurden geschüttelt, die seiner Mutter, seiner Schwester. Erst als er nach Tagen auf seinem Zimmer allein war, weinte er. Vor allem aber um sich, weil der Druck der Verantwortung, die die Lücke, die sein Vater in ihrer Gemeinschaft hinterließ, auf ihm lastete. Er fühlte sich wie ein Heuchler, der den Vater um die wohlverdienten Tränen brachte.

Fazit: Éric Chacour hat zehn Jahre an seinem Debüt gearbeitet und das hat sich absolut gelohnt. Er schickt seinen Protagonisten in eine behütende, traditionsreiche Familie mit bewegter Vergangenheit. Seine Eltern waren aus Damaskus geflüchtet, und obwohl sie „nur ägyptisiert“ waren, bauten sie sich in Kairo eine gesicherte Zukunft auf. Die Rollenverteilung ist klar vergeben. Die manipulative, dominante Mutter kümmert sich im Hintergrund um Haus und Familie. Der patriarchale Vater um seine Patienten, die Tochter wird heiraten und der Sohn das Imperium weiterführen. Doch der Sohn folgt zuerst unfreiwillig anderen Regeln, schlittert in eine ganz andere Lebenswirklichkeit und das Drama beginnt eine Entwicklung, die sowohl gefährlich als auch unvorhersehbar ist. Der Autor hat sich in großen Teilen für die ungewöhnliche Du-Form entschieden und lässt mich ihm lauschen, als erzähle er mir aus meinem eigenen Leben. Zum Ende wird klar, warum diese Form so gut passt. Die Stimmfarbe finde ich sehr besonders. Darin schwingt Zartheit und Feinfühligkeit, aber auch Melancholie. Gut herausgearbeitet finde ich auch die Scham und die Selbstzweifel, die so niederdrückend sind. Eine ganz und gar runde, gelungene Geschichte, die mich tief berührt hat. Chapeau!

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Veröffentlicht am 20.05.2025

Lebendiger und lesenswerter Briefroman

Über den Hass hinweg. Briefe zwischen Tel Aviv und Teheran
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Sohrab kommentierte eines ihrer Instagram-Postings. Es dauerte nicht lange, bis sie begriff, dass er ihr aus dem Iran auf ihren Account #gutenmorgentelaviv schrieb. Zwischen ihnen lagen knapp zweitausend ...

Sohrab kommentierte eines ihrer Instagram-Postings. Es dauerte nicht lange, bis sie begriff, dass er ihr aus dem Iran auf ihren Account #gutenmorgentelaviv schrieb. Zwischen ihnen lagen knapp zweitausend Kilometer. Es machte sie stutzig, dass er sich so freundlich aus Teheran meldete. Israel online zu unterstützen galt in Iran als Verbrechen.

Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2024 (finanziert und militärisch ausgerüstet durch den Iran) ist Sohrab einer der wenigen, die ihr echtes Mitgefühl schenken. Sie vermisst das bei ihren weltweiten, aber vor allem deutschen Freunden. Die Deutschen, die sie nicht frontal angreifen und ihre Nachtruhe rauben, halten sich einfach zurück. Sie hat Muskelschmerzen, eigentlich 7. Oktober-Schmerzen. Ihre Physiotherapeutin sagt, dass die Faszien, die Muskeln und Bindegewebe umhüllen, emotionalen Stress speichern und ermüden. Mit diesem Phänomen kämen jetzt viele zu ihr.

Sie schreiben sich E-Mails, weil das für Sohrab sicherer ist. Er schreibt von seiner Depression und seinem Wunsch zu sterben, weil er die Zustände in seinem Land nicht mehr erträgt. Seit dem Angriff des IR (Islamische Republik Iran) auf das US-Militär in Jordanien und Syrien ist der US-Dollar sprunghaft angestiegen. Die Preise seien in den letzten Jahren um das 12-15-fache gestiegen. Alle haben Angst. Es ist gefährlich, in der Öffentlichkeit über die Mullahs zu reden. Die Unberechenbarkeit des Systems bereitet ihm Panikattacken. Trotz der Women-Life-Freedom-Bewegung ist es immer noch brandgefährlich, ohne Hidschab auf die Straße zu gehen. Zur Zeit verbiete man Frauen ohne Kopfbedeckung das Autofahren.

Fazit: Die Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru wurde in Rostock geboren, konvertierte zum Judentum und zog mit ihrem Mann nach Tel Aviv. Der Autor Sohrab Shahname (Pseudonym) wurde im Iran geboren und lebt in Teheran. Beide tauschten sich über sechs Monate per E-Mail aus und es entstand eine Freundschaft, die auf gegenseitigem Verständnis, der Sorge um die/den andere*n und tiefem Mitgefühl für die jeweilige Lebenssituation. Katharina erzählt über ihre Zerrissenheit in einem Land zu leben, das eine so andere Kultur lebt als ihre Deutsche. Sie liebt Tel Aviv und ihre Freiheit, die Menschen, die trotz aller traumatischer Erfahrungen ihr Leben feiern, als wäre es der letzte Tag. Sie lebt in einem freien Land, das täglich angegriffen werden kann. Sohrab lebt in einer Diktatur, in der noch immer Menschen gesteinigt werden. Durch Katharina kann ich den Schmerz, die Verzweiflung und die tiefe Trauer verstehen, die der Hamasangriff am 7. Okt. hinterließ. Eine perfidere öffentliche Zurschaustellung, (gefilmte Massenvergewaltigung, Abtrennung von Gliedmaßen) von Hass hat die Welt zuvor noch nicht gesehen. Ebenso schwer wird mein Herz, wenn ich mir Sohrab in einem Land vorstelle, in dem er für die Korrespondenz mit Israel getötet werden würde, erführen es die richtigen. Diese Zustände sind alle en détail gezeigt. Doch nicht nur das. Ich erfahre ganz viel über beide Kulturen, über Musik, Essen, Filme und Architektur. Sohrab schreibt auch viel über die Politik in seinem Land und die geschichtlichen Ereignisse. Und genau da liegt für mich die Krux. Es ist nicht zu leugnen, dass Iran seit Jahrzehnten extremen Machtmissbrauch am Volk begeht, beherrscht von irren Allmachtsfantasien und Größenwahn. Sohrab kritisiert die Herrscher seines Landes und riskiert dafür verschleppt oder getötet zu werden. Von der Autorin hätte ich mir auch etwas mehr Kritik an der eigenen Regierung gewünscht. Zum Beispiel über die Siedlungspolitik auf palästinensischem Gebiet wurde kein Wort verloren. Nichtsdestotrotz ist dieses Buch absolut lesenswert und lebendig erzählt.

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Veröffentlicht am 19.05.2025

Sehnsucht nach Normalität

Hunchback
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Shaka ist vierundvierzig. Mit vierzehn hat sie in der 8 b das Bewusstsein verloren. Ihre Muskulatur konnte die normale Sauerstoffsättigung nicht mehr aufrechterhalten. Ein genetischer Defekt. Seitdem lebt ...

Shaka ist vierundvierzig. Mit vierzehn hat sie in der 8 b das Bewusstsein verloren. Ihre Muskulatur konnte die normale Sauerstoffsättigung nicht mehr aufrechterhalten. Ein genetischer Defekt. Seitdem lebt sie im Nirwana. In einem sechzehn Quadratmeter Appartement in der Wohngemeinschaft Ingleside. Hier lebt sie, bis sie stirbt.

Finanzielle Sorgen kennt sie nicht, das Ingleside gehört ihr, nebst einiger vermieteter Eigentumswohnungen. Nach ihrem Tod wird das von ihren Eltern mühsam beschaffte Vermögen an den Staat übergehen. Natürlich hat sie keine Kinder. Die Deformation ihrer Wirbelsäule hat ihr den rechten Lungenflügel zerquetscht. Ein Beatmungsgerät pumpt ihr die nötige Luft in die Lunge und die Verschleimungen, die sich mehrmals am Tag ansammeln, saugt sie mit einem Schlauch, den sie in den Tubus unter ihrem Kehlkopf schiebt, ab. Sie hangelt sich von Uni zu Uni und schreibt pornografische Artikel für einen Verlag. Diese zusätzlichen 3.000 Yen schenkt sie den Mädchenschutzhäusern und der Tafel.

Die einzigen sozialen Kontakte hat sie im Chat mit der Fernuni, Social Media, dem Pflegepersonal und im Speisesaal, wo sie regelmäßig ihr Abendessen einnimmt. Die unverhohlene Verachtung ihres Pflegers, Herr Tanaka, muss sie in Kauf nehmen. Es ist immer noch besser als gar keine Beachtung. Sie würde gerne einmal etwas „Normales“ erleben, so wie andere Frauen auch. Eine normale Schwangerschaft würde ihr gefallen und dann eine Abtreibung, etwas, das ja naturgemäß nicht normal ist. Dieses Paradox findet sie unterhaltsam.

Fazit: Saou Ichikawa, selbst an myotubulärer Myopathie erkrankt, hat diese völlig abgefahrene Geschichte geschrieben. Ihre Protagonistin hat alles und nichts. Ihr Körper erlitt wegen einer genetischen Disposition einen Totalschaden. Ihr Verstand ist wachsam, zynisch und messerscharf. Finanziell ist sie bestens aufgestellt, aber das bringt sie nicht weiter. Shakas Sehnsucht nach einer „Normalität“ ist riesig. Ich habe selten eine Geschichte gelesen, die so körperlich ist. Die viel mehr erfasst als die dahinsiechende Hülle, die mit diversen Gebrechen um ihr Überleben kämpft, sondern auch die Interaktion zwischen Shaka und ihrem Kontrahenten, Herrn Tanaka. Alles strotzt vor Sinnlichkeit, weil Shaka mit ihren ausgeprägten Sinnen jede Nuance im Zwischenmenschlichen wahrnimmt. Und es ist verstörend, stört mich in meiner Wahrnehmungskompfortzone. Denn warum sollten Menschen mit starken körperlichen oder geistigen Einschränkungen keine Bedürfnisse nach Körperkontakt oder Sexualität haben, wie könnte ich ihnen ihre Fantasie absprechen? Und hier öffnet sich auch der Blick auf die Gesellschaft mit ihren Fruchtwasseruntersuchungen, um die Bevölkerung vor Menschen mit zum Beispiel „Down Syndrom“ zu bewahren. Gerade in Zeiten der Selbstoptimierung stören wir uns an allem, das anders ist als wir, die wir uns geißeln, im Kampf gegen Fettleibigkeit, Krankheit und Schwäche. Alles, was wir tabuisieren und wegsperren, wird niemals an unsere Güte und unser Mitgefühl appellieren können. Nie ein Teil von uns werden können. Ihr seht, dieses Buch hat echten Tiefgang, getragen von Humor und kreativer Wortwahl. Ein Pageturner sondergleichen.

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Veröffentlicht am 16.05.2025

Ich hatte mehr erwartet

Women
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Sie wuchs mit ihrer Mutter in einem Cottage am Waldrand auf. Sie war sechzehn, als ein lesbisches Paar Mitte vierzig ein Haus ganz in ihrer Nähe im Wald baute. Die eine war wohlhabend, die andere eine ...

Sie wuchs mit ihrer Mutter in einem Cottage am Waldrand auf. Sie war sechzehn, als ein lesbisches Paar Mitte vierzig ein Haus ganz in ihrer Nähe im Wald baute. Die eine war wohlhabend, die andere eine am Hungertuch nagende Künstlerin.

Finn schrieb ihr auf die Facebook-Pinnwand, dass ihr Buch fantastisch sei. Sie begannen einen regen E-Mail Austausch über Bücher und Autoren, die sie mochten. Auf einer ihrer Lesungen tauchte Finn auf und faszinierte sie.

Sie zog in Finns Stadt, nicht wegen ihr, sondern weil es ihr Zuhause zu eng wurde. Sie schniefte mehrmals pro Woche Opiate und hoffte ihre Drogenkontakte zu zerstreuen. Und sie hatte eine Fernbeziehung mit Isaac und er bot ihr an, vorerst bei ihm einzuziehen. Nach einem halben Jahr stellte Isaac fest, dass sie manchmal im Bett so gelangweilt wirke und sie trennten sich.

Finn füllte die entstandene Lücke. Sie war neunzehn Jahre älter als sie und nannte sie Champ. Finn trug Männerklamotten aus teuren Läden, mochte Salty Dogs und dunkles Bier. Ihr Gang hatte etwas Großspuriges. Seit zehn Jahren lebte sie in einer festen Beziehung mit einer Frau.

Sie fühlte sich in der Stadt etwas verloren, dümpelte so vor sich hin, ohne große Kontaktfreude. Finn unterstützte sie in vielen Beziehungen und auf ihr Anraten bewarb sie sich in der öffentlichen Bibliothek, wo Finn selbst schon gearbeitet hatte.

Fazit: Chloé Caldwell hat eine zeitgenössische Liebesgeschichte zwischen zwei ungleichen Frauen geschaffen. Dabei nimmt sich die Ältere zurückhaltend der Jüngeren an und unterstützt sie in vielen Lebenslagen. Beide verlieben sich ineinander. Im Vorwort, erläutert Katie Heaney warum sie dieses Buch so wichtig findet, spiegelt es doch ihre eigene Geschichte. Im Nachwort erfahre ich, dass das Buch 2014 entstanden ist und warum. Die Autorin wollte ihr eigenes Coming-out verarbeiten. Die Absätze sind unterlegt mit durchweg positiven Leser*innenmeinungen. Das Buch wurde 2014 im prüden und intoleranten Amerika gefeiert und war für viele sicher ein Befreiungsschlag. Es liest sich wie ein Tagebuch einer Obsession und hat mich leider gar nicht bewegt. Ich habe mittlerweile einige Liebesgeschichten zwischen Frauen gelesen, die ich deutlich besser fand. Auch die Klischees haben mir nicht gefallen: „Die Liebe zwischen Frauen ist einfach tiefer und intensiver.“ Einige lesbische Frauen, mit denen ich sprach, sagten mir, das eine lesbische Beziehung sich kaum von einer heterosexuellen Beziehung unterscheide. Ich fand das Thema Identität und Selbstfindung gut eingefangen, aber die Charaktere fand ich nicht gut gezeichnet. Ich denke, man hätte mehr aus der Story rausholen können, jedenfalls hatte ich wegen Cover und Klappentext mehr erwartet.

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Veröffentlicht am 13.05.2025

Der Versuch, das Unfassbare zu verstehen

Perlen
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Marianne will Binsen schneiden. Es ist „Wakes“ und heute gedenkt man den Toten. Der Pfarrer wird alle Namen verlesen, die in der Gemeinde begraben liegen. Ihre Mutter wird wieder nicht dabei sein. Sie ...

Marianne will Binsen schneiden. Es ist „Wakes“ und heute gedenkt man den Toten. Der Pfarrer wird alle Namen verlesen, die in der Gemeinde begraben liegen. Ihre Mutter wird wieder nicht dabei sein. Sie hat kein Grab, denn sie verschwand, als Marianne acht und Joe noch ganz klein war. Sie ging durch die Tür und kam nie zurück. Später kamen Polizisten und schrieben etwas in Notizblöcke. Sie sahen Marianne an, als würden sie in ihrem Dasein den Grund für das Verschwinden der Mutter finden. Tatsächlich glaubte Marianne auch bald, dass es nur ihre Schuld sein konnte. Denn was wäre gewesen, wenn sie der Mutter nachgelaufen wäre und sie aufgehalten, ihr ein paar Worte zugerufen oder ein Lied gesungen hätte? Sie hätte sich sicher umgedreht und wäre zurückgekommen, aber Marianne hatte am Küchentisch gebastelt und gar nicht bemerkt, wie Mutter durch die Tür verschwand.

Mariannes dreizehnjährige Tochter Susannah sitzt auf dem Rücksitz des Wagens und lässt sich heute bitten. Dann jedoch steigt sie seufzend aus und hilft ihr, die Binsen zu kleinen Sträußen zu binden und auf den Gräbern zu verteilen. Als sie Susannah geboren hat, vermisste sie ihre Mutter mehr denn je. Marianne sammelt Geschichten von Verlust, Verlassenwerden und Scham, saugt sie förmlich auf und ergötzt sich an ihnen. Susannahs Vater war der erste, der ihr eine Präsentable liefern konnte, denn seine Mutter verschwand auch.

Ihre Mutter hatte vor allem Angst. Hatte Engel gesehen und den Teufel mit Salz in Schach gehalten. Sie hatte Marianne Zuhause unterrichtet und ihr aus der Bibel vorgelesen. Mariannes Erinnerungen decken sich nicht mit denen des Vaters.

Fazit: Siân Hughes ist eine fiktionale Geschichte im Stil eines Memoirs gelungen. Sie schickt ihre Ich-Erzählerin auf den Weg, ihren Schmerz zu erkunden und das Unfassbare zu verstehen. Ich erfahre von einer glücklichen Kindheit mit einer enorm liebevollen und kreativen Mutter voller Fantasie. Als sie spurlos verschwindet, gibt es keine Erklärung. Dem Vater obliegt die Aufgabe, den Verlust, seinen Beruf, Haushalt und Kinderbetreuung zu stemmen. Kindermädchen helfen dabei, aber Marianne bleibt mit ihrer Trauer allein. Sie dissoziiert den Kummer, der während ihrer Jugend aus ihr herausbricht und sie den falschen Menschen vertrauen lässt. Als junge Erwachsene ist sie so weit, sich emotional den Ereignissen von Damals zu stellen. Wie ein Puzzle setzt sie über viele Jahre ihre Erinnerungen zusammen, bis sie ein passendes Bild ergeben, das sie glauben kann. Der Prozess ist lang und lässt sie verschiedene Phasen durchlaufen: Schuld, Scham, Wut und Trauer. Am Ende erlebt sie das heilsame Verstehen und Loslassen. Die Geschichte ist ruhig und vollkommen unaufdringlich erzählt. So als würde ich einem alten Menschen in seine Vergangenheit folgen. Es ist kein Buch, das mich zu Tränen gerührt hat, sondern eins, dem ich so sehr gerne zugehört habe, das mich tief berührt hat.

Mir gefällt auch gut, dass jedes Kapitel von einem Vers eingeleitet wird.

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