Feinfühlig und melancholisch
Was ich von dir weißKairo 1961-2001
Tarek ist zwölf, als sein Vater ihn fragt, was er denn einmal werden möchte. Tarek beobachtet seine Schwester Nesrine, die auf diese Frage mit nahezu zwanzig Ideen antwortet. Tarek schweigt. ...
Kairo 1961-2001
Tarek ist zwölf, als sein Vater ihn fragt, was er denn einmal werden möchte. Tarek beobachtet seine Schwester Nesrine, die auf diese Frage mit nahezu zwanzig Ideen antwortet. Tarek schweigt. Dabei ist sein Lebensplan schon vergeben, er wird in die Fußspuren seines Vaters treten und die gut situierte Praxis des angesehenen Arztes übernehmen, wenn es soweit ist. Der Vater möchte, dass Tarek selbst darauf kommt, deshalb wird er ihm diese Frage immer wieder stellen.
Tarek schaut den Erwachsenen gebannt zu. Die lachenden Männer, worüber lachen sie? Die Frauen, die den Männern entrüstete Blicke zuwerfen und auf die Kinder zeigen. Damals wusste er noch nicht, dass er sich vor diesen Männern mit weißen Haaren und Hang zu Alkohol, die Dinge behaupteten, als wüssten sie es, sich vor Fremden fürchteten und eigentlich Kinder geblieben waren, fürchten sollte.
Die Mutter wollte den Vater nicht wecken und sich seinen Zorn zuziehen. Sie stieg leise aus dem Bett und ging ins Bad. Als sie zurückkam, schlief er immer noch, ganz untypisch für ihn. Sie wägte ab, ob seine Vorwürfe schlimmer wären, weil sie ihn weckte, oder weil sie es nicht tat. Als sie um das Bett schlich und seine Schulter sanft bewegte, traf sie seine Leblosigkeit wie ein Stein.
Die Kondolenzbesuche waren gespickt mit pflichtschuldigen Floskeln. Seine Hände wurden geschüttelt, die seiner Mutter, seiner Schwester. Erst als er nach Tagen auf seinem Zimmer allein war, weinte er. Vor allem aber um sich, weil der Druck der Verantwortung, die die Lücke, die sein Vater in ihrer Gemeinschaft hinterließ, auf ihm lastete. Er fühlte sich wie ein Heuchler, der den Vater um die wohlverdienten Tränen brachte.
Fazit: Éric Chacour hat zehn Jahre an seinem Debüt gearbeitet und das hat sich absolut gelohnt. Er schickt seinen Protagonisten in eine behütende, traditionsreiche Familie mit bewegter Vergangenheit. Seine Eltern waren aus Damaskus geflüchtet, und obwohl sie „nur ägyptisiert“ waren, bauten sie sich in Kairo eine gesicherte Zukunft auf. Die Rollenverteilung ist klar vergeben. Die manipulative, dominante Mutter kümmert sich im Hintergrund um Haus und Familie. Der patriarchale Vater um seine Patienten, die Tochter wird heiraten und der Sohn das Imperium weiterführen. Doch der Sohn folgt zuerst unfreiwillig anderen Regeln, schlittert in eine ganz andere Lebenswirklichkeit und das Drama beginnt eine Entwicklung, die sowohl gefährlich als auch unvorhersehbar ist. Der Autor hat sich in großen Teilen für die ungewöhnliche Du-Form entschieden und lässt mich ihm lauschen, als erzähle er mir aus meinem eigenen Leben. Zum Ende wird klar, warum diese Form so gut passt. Die Stimmfarbe finde ich sehr besonders. Darin schwingt Zartheit und Feinfühligkeit, aber auch Melancholie. Gut herausgearbeitet finde ich auch die Scham und die Selbstzweifel, die so niederdrückend sind. Eine ganz und gar runde, gelungene Geschichte, die mich tief berührt hat. Chapeau!