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MichaelKarl

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Veröffentlicht am 26.03.2022

Multum non multa: Ich war übrigens zu der Zeit Direktor der LSE (111)

Über Grenzen
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Der Wissenssoziologe Kurt H. Wolff (Jg.1912) äußerte in Trying Sociology (NY 1974) die Vermutung, dass er „unter Sozialwissenschaftler(n) (…) weniger Interesse an Erlebnismäßigem als an Theoretischem annehme.“ ...

Der Wissenssoziologe Kurt H. Wolff (Jg.1912) äußerte in Trying Sociology (NY 1974) die Vermutung, dass er „unter Sozialwissenschaftler(n) (…) weniger Interesse an Erlebnismäßigem als an Theoretischem annehme.“ (stw702, 13) Bei Lord Dahrendorf (RD, 1929-2009) trifft dies auch für die meisten der nicht mehr überschaubaren Publikationen zu, von ein paar Ausnahmen abgesehen wie in den „Reisen nach innen und außen (DVA 1984) oder in „Europäisches Tagebuch“ (Steidl 1994), etwa einen Rekurs auf die „Wahlheimat Bonndorf“, das Domizil im „Teilort Holzschlag“ (67) oder die Rückfahrten „zu nächtlicher Stunde durch das Jostal und durch Neustadt in unsere Ecke des Schwarzwaldes.“ (135) In seinem achten Lebensjahrzehnt nun also quasi ein dekonstruierter Dahrendorf (Das Patchwork) in „22 Geschichten“ (kurzen, verdichteten Kapiteln), die das 28. Lebensjahr am 1.Mai 1957 (12) „gleichsam (als) Entelechie“ verstehen und auffassen. (Kap.1) Übrigens stand auch der Vater im 28. Lebensjahr, „als ich geboren wurde.“ (35) „Was bleibt, ist ein sehr persönliches Buch der Erinnerungen“, in dem die bekannten Biografie-Highlights dieses eminenten Soziologen für einmal in den Hintergrund treten - mit 38 „mit Rudi Dutschke auf dem Autodach“, mit 42 EG - Kommissar, mit 53 von der Queen zum Ritter geschlagen (Sir Ralf) und mit 64 der Einzug in das britische Oberhaus (Lord Dahrendorf). Da waren die meisten Grenzen längst überwunden und der Hochgelehrte und Weltberühmte verspürte offenbar ein Bedürfnis, zu den nicht eben einfachen Anfängen zurückzukehren. Der Leser registriert eher en passant die Erwähnung von mehreren Suiziden in Dahrendorfs unmittelbarer Umgebung, die die Härten der Zeitläufte nicht zu ertragen vermochten und „freiwillig“ aus dem Leben schieden. Im 2.Kap. („Wurzelsuche“) geht es aber zunächst nur um Ahnenforschung, eine bei Soziologen sonst eher vernachlässigte Disziplin. Cousin Ingo aus Erftstadt ist die treibende Kraft und sammelt Beweise, dass die Dahrendorfs und ihr Anhang u.a. aus dem gleichnamigen Teilort im heutigen Altmarkkreis Salzwedel - der Stadt von Jenny Marx und Friedrich Meinecke - stammen (siehe auch Bild 15) und „einfache, ehrliche Leute“ waren, denen „viel an Ehrbarkeit und Anstand (lag)“, die aber früh aus den Schulen genommen und in Brotberufe gesteckt wurden, was sich erst bei RD geändert habe: „Wir acht (!) in meiner Generation waren allesamt in der Lage zu studieren.“ Der Bruder Frank ist fünf Jahre jünger als Ralf, wird Rechtsanwalt und Stadtverordneter, denn am Ende und schon beim SPD-Vater Gustav, dem MdR, ist „der wirkliche Wurzelgrund der Dahrendorfs“ die Hansestadt Hamburg (31-33), sodass weitere bekannte Hanseaten den Blick kreuzen, wie etwa H. Schmidt (116-18), W. Jens, C. Ahlers, J. Ponto, G. Bucerius, Th. Sommer oder Gräfin Dönhoff (109-12). Mit 21 Lebensjahren wollte RD Journalist werden und ähnlich wie Walser, Enzensberger und andere verdankte er seinem „Ritt auf den Radiowellen“ eine „gewisse Bekanntheit.“ (105) „Ralf ist so unpraktisch“ (28), weiß man in der Familie, aber erst im 16.Kap. ist davon die Rede, „dass ich seit 1947 Universitätsstudent war.“ (124) „Klassische Philologie“ war ein eher hartes Brot, zumal RD „zwischen 1938 und 1947 (…) auf sechs verschiedenen Schulen“ und im ersten Anlauf aufs Abitur ausgerechnet im Fach Englisch an dem durchaus unbedeutenden Wort chimney sweep gescheitert war. „Meine Bildung blieb punktuell, nicht generell. Überhaupt fehlte es mir an Allgemeinbildung.“ (101) Das interessierte den bekannten Gräzisten Bruno Snell indes reichlich wenig, als er von RD die kritische Edition einer Pergamenthandschrift aus dem 11.Jht. verlangte. (128) „Als Professor Bruno Snell mir die Doktorprüfung im Griechischen leicht machen wollte und mir Fragen zur griechischen Mythologie stellte, wäre ich beinahe durchgefallen.“ (101) Kap.3 - 13 handeln v.a. von den Jahren als Schüler, der „Blick auf das Klassenfoto“ zeigt schon in der Volksschule einen Knirps - „Förmlichkeit ist bis heute mein Stil geblieben“ (45) - unter Lederhosenträgern „als einziger“ mit Schlips und Krawattennadel, in den NS-Jahren aber eher aufmüpfig und flegelhaft, ein Tagebuchschreiber, der in der wilden und anomischen Zeit der ersten Kriegsjahre „einen Oberförster (…) Oberfurzer nannte.“ (53) Als „Hordenführer“ erreicht RD es, „als Kandidat() für die Jungenrolle in einem Aufmunterungsfilm (!)“ ausgewählt und bis „in die Endausscheidung in einem Studio in Babelsberg“ zu kommen, wo ein gewisser Hardy Krüger seine Filmkarriere startete. (55) Der 20. Juli (Kap.8) betrifft die Familie ganz unmittelbar, denn der eigene Vater steht am 20.10.44 neben Leber, Reichwein und Maass „vor dem Volksgerichtshof.“ (66) Ab Kap.14 wird der Lebensweg zu einer „Art Sternfahrt zur Freiheit.“ Mit 21 beginnt sie als Journalist (Kap.14) inkl. einer lebenslangen Affinität zur Tagespresse und zum Artikelschreiben - „die Faszination des gedruckten Wortes, die eitle Freude, den eigenen Namen als Autor zu sehen, und die noch eitlere Erwartung (schon dadurch …) einen profunden Einfluss auf die Welt und auf die Menschen auszuüben.“ (104) Kap.15+16 handeln den Politiker (115-23) wie den Gelehrten (123-32) ebenso kompakt wie uneitel auf unter 20 Seiten ab, eine Fahrt als Seemann über den Atlantik und die Umstände der ersten Diss (über Marx) beanspruchen gleichberechtigt die folgenden beiden Kapitel 17+ 18. (133-46) Bevor die LSE kommt (Kap.20), wird noch der Literatur und Poesie gedacht, und zwar in Rom, nicht nur die Stadt von Ingeborg Bachmann, sondern für RD sogar „der Inbegriff von Bedeutung.“ (150) Die zwei Jahre an der LSE ab 1952 waren bahnbrechend und machen aus dem Sozialisten, der Willy Brandt zu Füßen lag (121), einen Liberalen (120). Gelockt hat v.a. Karl Mannheims Diagnosis of our time, nachhaltig geprägt aber hat Karl Popper (163 u.ö sowie Bild 20), obwohl RD „den Weg zur Ökonomie nur langsam (fand)“ und in Klammern anfügt: „Ich habe eine wirtschaftlich argumentierende Bildungsreform nie akzeptiert.“ (117) Die Offenheit der Pluripotenz (ausgeborgt von den Forschungen über Stammzellen) führt zum PhD und am 1.7.1954 zum Dienstantritt in Frankfurt am Main bei keinem Geringeren als bei Max Horkheimer. Success at last? Weit gefehlt! Eher stand sehr bald der nächste (von 32) Umzug an, denn RD irritierte die sehr deutsche und sehr großbürgerliche Schieflage von Theorie und Empirie in der Heiligen Familie (Kap.21), diesen „Grosskopfeten und ihren kultischen Verrichtungen.“ (175) RD vermutete die Wirklichkeit eher bei den „Stahlkochern in Rheinhausen“ (177) und habilitierte sich mit einer Arbeit zur Industriesoziologie. (180) Er durfte Horkheimer an mondänen Orten wie Flims oder Montagnola noch Rede und Antwort stehen, aber Adorno war „ganz anders“ und eigentlich war der Mann „nicht von dieser Welt.“ (174) „Immer wieder stritten er und ich über Sinn und Zweck der Erfahrungswissenschaft.“
Michael Karl

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Veröffentlicht am 14.02.2022

Ein freundlicher Frager: War er „der letzte römischkatholische Kopf“?

Begegnungen mit Bertolt Brecht
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Über den Augsburger Schalk und Karl-Valentin-Adepten BB (1898-1956) haben sich schon viele illustre Federn essayistisch hergemacht; erwähnt seien nur gründliche Texte etwa von Walter Benjamin, Hannah Arendt, ...

Über den Augsburger Schalk und Karl-Valentin-Adepten BB (1898-1956) haben sich schon viele illustre Federn essayistisch hergemacht; erwähnt seien nur gründliche Texte etwa von Walter Benjamin, Hannah Arendt, Hans Mayer oder Marcel Reich-Ranicki. Brechts Nonkonformismus speiste sich nicht zum wenigsten aus einem Hang zum Wortwitz - Kostproben aus den Briefen (1913-56): Hier ist es zum Speien langweilig; ich finde das Frühjahr scheußlich inszeniert; ich küsse Ihnen das Handgelenk, da wo man den Puls fühlt; Rothäute behandelten meinen Skalp als Abortpapier... (44, 60, 65, 79). Wider den Stachel zu löcken, war seinerzeit gewiss riskanter, aber auch einfacher als heute, wenn Väter die eigenen Söhne (wie Abraham?) für Ideen zu opfern bereit waren und Lehrer am Realgymnasium vom Heldentod schwärmten. (Brecht in Augsburg, st 297, 84, 88) Der Primaner aus sehr gutem Haus war umsorgt von Hauspersonal, die Papierfabrik, die sein Vater leiten durfte, hatte den höchsten Schornstein in der Gegend (105m). Der Primaner war, sagte sein Deutschlehrer, keck, vorlaut, arrogant, aber auch hochbegabt und originell. Körperlich war der junge Brecht, was man in Bayern ein Sparifankerl genannt haben würde, dünn wie ein Bindfaden - sein Hals angeblich „dünner (...) als ein menschlicher Arm“ (106) - der ein Wort wie ultraviolett ähnlich Markus Söder (in jungen Jahren) eher als uldrafiolett ausgesprochen habe. Bavaria lässt grüßen, der Nockherberg ebenso. Mitglieder von Brechts Augsburger Clique mussten die Asymmetrie zwischen Körperbau und Führungsanspruch schon beim jungen Brecht anerkennen und hinnehmen: „Brecht war uns einfach überlegen.“ (Ebendort, 112, 158f) Ein Elternhaus „nur einige hundert Meter“ vom Lech (130) ist aber noch keine Garantie für spätere Aufenthalte in der Abbey Road in Maida Vale (London), am Broadway oder in der Nähe des Kremls. Die Valentin-Schwejk´sche Variante vom „guten Kommunist“ muss offenbar „den Weihnachtsbaum im Kreis meiner Familie betrachten“ (Briefe, 190), was den Leser an eine andere Lichtgestalt aus der „linken Szene“ erinnern könnte, Herbert Marcuse, der einen Zudringlichen mit der Aussage abwehrte, er habe jetzt keine Zeit, denn gleich komme „Columbo“ (Peter Falk) im US-Fernsehen. Solche auch bei Brecht greifbaren Heteronomien - 30 Krimis im Pariser Antiquariat bei nur einem Besuch mitgenommen (321) - hat der ausgewiesene Brecht-Experte Erdmut Wizisla (Jg. 1958) im Jahr 2009 in Leipzig beim Lehmstedt Verlag um weitere 58 Facetten bereichert, unter den Stichwortgebern sind so bekannte Namen wie Ernst Bloch, Carl Zuckmayer, Elias Canetti, Hermann Kesten, Christopher Isherwood, Peter Huchel oder Peter Suhrkamp. Schon im Vorwort geht es ganz schön ruppig zu, wenn aus dem Tagebuch des Harry Graf Kessler (1928) zitiert wird: „Brecht kennengelernt. Auffallender Dekadentenkopf, fast schon Verbrecherphysiognomie (...), ein eigenartig lauernder Gesichtsausdruck: fast der typische Ganove.“ (10) Vermutlich hatte der Graf noch unter dem Schock der eben gesehenen und gehörten Premiere der „Dreigroschenoper“ gestanden. Ernst Ginsberg erinnerte sich dagegen an einen „faszinierenden Kopf“ und weiß von einem diesbezüglichen Zitat im O-Ton Brechts zu berichten: „Geben Sie acht, wenn Sie mit mir über Glaubensfragen diskutieren, mein Lieber. Ich bin der letzte römischkatholische Kopf!“ (233) Ginsberg fand Brechts Gesang zur eigenen Ballade „scheinbar monoton, scheinbar unbeteiligt, scheinbar kalt“. Brecht habe „mit einer schmalen Stimme (gesungen), die etwas von der Schärfe eines Messers hatte (...). Es ging einem durch Mark und Bein.“ (234) Was aber nur Gefühlsäußerungen unterdrückt und verborgen habe, die Ginsberg „schamhaft, vergeistigt und sehr innerlich“ vorkamen. Insofern sei Brechts Theater „ein von falschem Gefühlsfett befreites Theater“ gewesen. „Seine Lieblingsschauspieler waren immer füllige, von echtem Leben strotzende Persönlichkeiten.“ (235) Elias Canetti fand die Zusammentreffen mit Brecht dagegen weniger amüsant. Er nahm Anstoß an „der penetranten Avantgarde-Atmosphäre um ihn“, ja bekennt sich freimütig zur „Feindschaft, die ich gegen ihn empfand“, und „meine Abneigung gegen seine Person (...). Bei seinem Anblick, ganz besonders aber bei seinen gesprochenen Sätzen packte mich jedes Mal die Wut.“ (79f) Canetti bemerkt, „dass Brecht nichts so hochhielt wie die Nützlichkeit und auf jede Weise merken ließ, wie sehr er `hohe` Gesinnungen verachtete. Er meine eine praktische, eine handfeste Nützlichkeit und hatte darin etwas Angelsächsisches, in der amerikanischen Spielart. Der Kult des Amerikanischen hatte damals Wurzeln geschlagen, besonders bei den Künstlern der Linken. An Lichtreklamen und Autos tat es Berlin New York gleich. Für nichts verriet Brecht soviel Zärtlichkeit wie für sein Auto.“ (78) Misslich allerdings für Canetti, dass er von den Gedichten in der „Hauspostille“ nichts weniger als „hingerissen“ war. „Es gab Dinge darunter, die mir durch Mark und Bein gingen (...). Vieles, das meiste traf mich. In Staub und Asche versank, was ich selber geschrieben hatte.“ (80) Neben seiner sozialen Herkunft ging schon der junge Brecht auf Abstand zu seiner nationalen Zugehörigkeit, wenn auch nicht immer so grobianisch formuliert wie in der Aussage „Die Deutschen sind ein Scheißvolk“ oder in der auch nicht gerade filigranen Bemerkung „Auch an mir ist alles schlecht, was deutsch ist.“ (164) Hierzu muss im Nachhinein wohl auch das Studium sowie das spätere (verzweifelte?) Festhalten am Marxismus als Glaubenskontext und Referenzrahmen zählen, zumal Brecht überzeugt war, „wie notwendig der deutsche Intellektuelle Erkenntnisformeln braucht. (...) Jede logische Formel übt auf das deutsche Gehirn einen hypnotischen Einfluss aus.“ (105) Dabei war ihm - im Unterschied zu sehr vielen anderen - Hegel „unbeschreiblich wurst“ (Brecht im Gespräch, es 771, 146). Hannah Arendt reihte Brecht, dies sei abschließend festgehalten, unter ihre Aufzählung von „Menschen in finsteren Zeiten“ ein (Piper 7491, 259-310), denen von einer allzu kritischen Nachwelt mildernde Umstände oft nicht eingeräumt würden: „Im Besitz einer durchdringenden, untheoretischen (!), hintergründigen Klugheit, nicht schweigsam, aber ungewöhnlich verschwiegen und reserviert, immer bedacht, Distanz zu halten, und vermutlich auch ein wenig schüchtern, ganz uninteressiert an sich selbst, aber von großem Wissensdurst (...), dabei vorerst und vor allem ein Dichter, also einer, der sagen muss, wo andere verstummen, und sich darum hüten muss zu reden, wo alle reden.“ (283)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 28.01.2022

Zwischen Kausalität und Kirchgang

Über Gott und die Welt
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Zum 85. Geburtstag von Robert Spaemann (1927-2018) ist diese “Autobiographie in Gesprächen” im Hausverlag des Autors (Klett-Cotta) herausgekommen und wurde u.a. von der FAZ (Jürgen Kaube) oder dem Tagesspiegel ...

Zum 85. Geburtstag von Robert Spaemann (1927-2018) ist diese “Autobiographie in Gesprächen” im Hausverlag des Autors (Klett-Cotta) herausgekommen und wurde u.a. von der FAZ (Jürgen Kaube) oder dem Tagesspiegel (Norbert Hummelt) recht wohlwollend besprochen. Spaemann ist für die humanities mehr denn je wichtig, weil er die vielfältigen Angriffe auf den Menschen und die Menschlichkeit, wie sie in unserer Zeit von Strömungen des Zeitgeists wie Neoliberalismus, Soziobiologie oder Postmoderne immer multimedialer in Szene gesetzt werden, von Anfang an entschieden widersprochen hat. Der Mensch ist für Spaemann „ein auf Überschreiten der Natur angelegtes Wesen“ (Reclam 1983/2012, 33), das allerdings seit geraumer Zeit „durch Zappeln im Netz“ Gefahr läuft, die eigene Unabhängigkeit zu verlieren, und zwar u.a. weil „der vollendete Technizismus (...) zugleich vollendeter Naturalismus“ sei (ebendort, 6 + 36). Wem Spaemanns „Philosophische Essays“, wie sie Reclam 1983 höchst preiswert vorgelegt hat (UB 7961, bibliographisch ergänzte Neuauflage 2012), zu anspruchsvoll sind, ist mit den hier vorgelegten Gesprächen eingeladen, die Hürde in einem zweiten Anlauf doch noch zu nehmen. Es lohnt sich schon deshalb, weil der kauf- und warenselige „animal turn“ aktueller Wissenschaftsrichtungen, zumal der Marke „Applied Science“, neben den längst etablierten Tätowierungen und Piercings nun auch vielfältige Formen von Neotribalismus, Heidentum oder plumpem Naturalismus als nicht deklariertes Handgepäck mit sich führen. High Tec verbindet sich vor unseren Augen mit manifester Dummheit und bornierter Hybris, um einer cartesianischen Vision endlich zum Durchbruch zu verhelfen - die Gattung Mensch als „maitre et possesseur de la nature“ (334) mit der Aussicht, den Globus dadurch nun endgültig zu ruinieren. Der SUV ist nun mal geil, noch geiler allerdings die facettenreichen Taschenspielertricks des eigenen Unsterblichkeitswahns. Spaemanns späte Bereitschaft zum gesprächsweisen Rückblick auf den eigenen Werdegang musste gegen innere Widerstände ankämpfen, eine „Abneigung gegen Reflexionen über meine Person“, bündig zusammengefasst in einem Wort von Karl Kraus: „Ich interessiere mich nicht für meine Privatangelegenheiten.“ (117) Der junge Spaemann konnte sich noch vorstellen, Gärtner zu werden oder sogar Mönch (35, 68), aber zunächst einmal sitzt er in Neustadt/Schwarzwald in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine kurze Gefängnisstrafe wegen Passvergehens ab (50f). Das Studium in Münster ist dadurch nicht in Gefahr und steht ganz im Zeichen des großen Philosophen Joachim Ritter, der „im Sommer (...) schon um 5 Uhr morgens ins Institut“ kam (82). Die Rittersleut treffen sich nach der Hauptvorlesung im Café Schucan - mit dabei sind Lübbe, Marquard oder Rohrmoser, aber auch Böckenförde oder Kriele sind nicht fern. Ritter fragte nach der „Relevanz eines Gedankens im Kontext“ und vertrat „eine politischere Hermeneutik, als sie von Hans-Georg Gadamer repräsentiert wurde.“ (83ff) Nach Promotion (1952) und Habilitation (1962) ist Spaemann jeweils in der Hauptstadt des Schwabenlandes angekommen, dem seine Mutter entstammte (69). Dem Verlagsjob bei Kohlhammer folgt auf Ritters Empfehlung eine Assistenz am Pädagogik-Lehrstuhl von Ernst Lichtenstein in Münster (130ff). Spaemanns erste eigene Professur führt dann 1962 wieder zurück nach Stuttgart, an die TH, wo Golo Mann als Abteilungsleiter wirkt (172). Sie war als Gegengewicht zur C3-Professur von Max Bense gedacht, der mit allerlei Äußerungen für Debattenstoff im Stuttgarter Landtag sorgte, etwa wenn er den Papst, auf den ein Attentat verübt worden war, als „geistigen Tyrann“ bezeichnete (178) oder wenn er - ähnlich wie der Arzt und Lyriker Gottfried Benn - schlicht aber falsch „Geist als Anti-Natur“ verstand (176). 1969 verlässt Spaemann Stuttgart wieder, um in Heidelberg die Gadamer-Nachfolge anzutreten und endlich mit richtigen Hauptfachstudenten im Fach Philosophie arbeiten zu können (181ff). Allerdings bleibt es bei einem kurzen Intermezzo von nur zwei Jahren, denn in dieser 68er Hochburg für „Emanzipationsideologie“ (193) gab es zahlreiche Hörer, aber auch auffällig viele Störer (190f), sodass es 1971 zu einer ungewöhnlichen „Rückberufung“ (197) an die TH Stuttgart kommt. Die Zeiten bleiben (wie bekannt) unruhig und die Suche nach den richtigen Hauptfachstudenten ist nur aufgeschoben, als sich aus München der bayerische Kulturminister Hans Maier meldet und eine Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie an der LMU zum Sommersemester 1973 in Aussicht stellt, wo der Philosoph dann bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1992 seines Amtes waltet, endlich mit richtigen Hauptfachstudenten. Die Suche „nach etwas, dem man sich ganz und gar hingeben kann“ (151), hatte ein wichtiges Etappenziel erreicht. Gestritten wurde mit Cartesianern, denen Spaemann attestierte, sei seien „Anti-Teleologen (...) mit einer mechanistischen Auffassung von der Natur“ (147), für die „gutes Leben nichts anderes als Perfektionierung der Erhaltensbedingungen bloßen Lebens“ (149) bedeute. Die Hauptsorge eines solchen Bildes vom Menschen ist dann wohl die Lieferkette und die flächendeckende Warendistribution. Bestritten wurde die Plausibilität der Herrschaft von Szientismus und Naturwissenschaften: Jener sei „eine Weltanschauung, die glaubt, eine Sache verstanden zu haben, wenn man weiß, welche Faktoren für das Zustandekommen einer Sache erforderlich sind“; diese „kann nicht verstehen, was Intention ist.“ (240) Nicht zufällig wird also auf Seite 226 der Name von Elisabeth Anscombe (1919-2001) erwähnt, schrieb sie doch das grundlegende Werk zum Thema „Intention/Absicht“ schon 1957 in Cambridge, das der Suhrkamp Verlag 2011 in seine Reihe wissenschaftlicher Taschenbücher aufnahm (stw 1978). Das wird aber im Text nicht aufgeklärt und Anscombes Name im Glossar ebenso wenig erwähnt wie andere, für Spaemanns Denken wichtige Geister, etwa Friedrich Tenbruck, Daniel Dennett, Max Scheler oder John Henry Newman, um nur einige zu nennen.
Michael Karl

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Veröffentlicht am 10.01.2022

Was macht eine Wohnung zur Heimat?

Die Unwirtlichkeit unserer Städte
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Das schlanke (und fast schlackenlose) Suhrkamp-Bändchen aus dem fernen Jahr 1965 versammelt vier eher essayistische als rein wissenschaftliche Arbeiten („thematischer Aufriss“) des renommierten Grenzgängers ...

Das schlanke (und fast schlackenlose) Suhrkamp-Bändchen aus dem fernen Jahr 1965 versammelt vier eher essayistische als rein wissenschaftliche Arbeiten („thematischer Aufriss“) des renommierten Grenzgängers (1908-82) zwischen verschiedenen Fachdisziplinen mit einem - in Coronazeiten uns wieder näher gerückten - Schwerpunkt auf dem Wohnen als einer „Konfession zur Nahwelt“. Damals war das eine Pioniertat wie sie etwa auch Alphons Silbermann („Vom Wohnen der Deutschen. Eine soziologische Studie über das Wohnerlebnis“, 1966) oder die Amerikanerin Jane Jacobs („The Death and Life of Great American Cities“, 1961) unternommen haben. Beides ebenfalls Werke, die einem heutigen Leser noch viele Anregungen geben können, bei Mitscherlich leider mit sehr spärlichen Fußnoten und unter kompletter Aussparung von Index und Literaturverzeichnis. Dass Bausünden die „Zukunft verbauen“ und - ebenso schlimm - das seelische Gleichgewicht der Bewohner gefährden können, ist ein, wenn auch etwas sehr allgemeiner Erstbefund, den die drei genannten Autoren aber gewiss emphatisch teilen. In Mitscherlichs „Pamphlet“, wie er es selbst nennt (7), stehen allerdings „unser() Argwohn in Sachen Stadt“ (51) und die „Biopathologie der industriellen Massenzivilisation“ (25) im Vordergrund, „wenn sich der Psychoanalytiker in der Stadtplanung zu Wort meldet“ (48), und zwar wenige Jahrzehnte nachdem „die ideologische Sturmflut des Nazismus“ (27) über viele Städte in einem vorher nicht gekannten Ausmaß hereingebrochen war. Doch der Schoß war fruchtbar noch, aus dem dies kroch, möchte man mit Brecht ergänzen, denn der Psychoanalytiker und mitleidende Zeitgenosse sieht das Entstehen einer „Stahl- und Bimssteinwelt“, das Wirken eines „technifizierte(n) Spezialverstand(s)“ mit einer bedenkenlosen „Traditionszerstörung“ verbunden, die „der stumpfsinnig emsige Empiriker“ offenbar noch am ehesten zu verschmerzen weiß und ignorieren kann. (48-50) Den Analytiker interessieren unbewusste Motive bei den Handelnden und erwähnt wird etwa „das Handlung erpressende (!) Moment“ (16) beim Sachzwang oder „ein unbewusst bleibendes Motiv“ (45) beim Hausbau und der Sehnsucht nach einem Eigenheim. Mit Blick auf „die jährlichen Urlaubsmigrationen“ der Deutschen (18), denen andere Autoren ein „motorisiertes Biedermeier“ nachgesagt haben, kommt einem der Amerikaner Ralph Waldo Emerson in den Sinn („Nature“), der von „the rage of travelling“ schrieb oder gar von „travelling is a fool´s paradise“. Womöglich handelt es sich um einen in die Gattung eingelagerten Zwang zur Güterabwägung zwischen der alteuropäischen Forderung einer stabilitas loci und einem neuweltlichen Budenzauber des Ziehens - des Zuziehens, Wegziehens oder Umziehens. „Ein in Städten geschultes Bewusstsein hat die technische Welt hervorgebracht“ (18) und aus der Muschelform „des Marktplatzes von Siena“ (34) ist eine Ansammlung geworden ohne Kern und Mitte - „von Wohnstätten, Arbeitsplätzen, Essgelegenheiten, Illusionsgewerben aller Art“ (78), begleitet von einer „tatsächlichen Subsumption der Subjekte unter die Gesetze der Ökonomie“ (46). In Megalopolis findet „ein Leben im 17. oder im 47. Stock“ statt, der Grundriss des Apartments ist eine Preisfrage und führt nicht selten zum „Schrumpfbürgertum“ (43) - „man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden der Hochhäuser“ (41) für eine insgesamt gesehen „unterwerfende Anpassung, wie wir sie alle an die riesige Maschinerie unserer Zivilisation vollziehen müssen“ (86), denn „Städte werden produziert wie Automobile.“ (33) Am Ende führt das in Mitscherlichs kühnem Aufriss zu dieser Kernfrage: „Was macht eine Wohnung zur Heimat?“ (123) Heimat verstanden als „Rückhalt in der Familie“ (80), als eine „Kunst, zu Hause zu sein“ (136) - anstelle der „Budenangst“ (10) oder dass einer „Jahr für Jahr blindlings mehr Kilometer herunterrast in seiner zwecklosen Freizeit“ (24): „Zur Heimat wird ein allmählich dem Unheimlichen abgerungenes Stück Welt.“ (136) Somit beginnt auch beim Menschen der Pursuit of Happiness beim Habitat, alles andere wäre eine „Missachtung der biologischen Grunderfahrungen“ (135). Das Bild von der eigenen Wohnung als einem Rückzugsreservat rundet die Sache ab und plädiert „für eine Wohnlichkeit, die dadurch entsteht, dass die Dinge Spuren des Gebrauches, des Dienstes, den sie tun, aufweisen und dass das im Stil des Hausens gestattet ist, ohne dass man im Fettfleck an der Wand oder in der lädierten Tasse unter Gästen eine Prestigeeinbuße zu befürchten hätte, oder darin selbst eine Minderung des Status mittelbürgerlicher Perfektion erblickte.“ (132)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 10.01.2022

„Katzen in Großaufnahme wesen in den Salons.“ (275)

Das Ornament der Masse
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Bei Kracauer sollte man wie bei einem Adler auf eine beträchtliche Spannweite gefasst sein, wobei die Reichweite oft begrenzt war, was nicht selten an der Aufnahmefähigkeit eines breiten Publikums gelegen ...

Bei Kracauer sollte man wie bei einem Adler auf eine beträchtliche Spannweite gefasst sein, wobei die Reichweite oft begrenzt war, was nicht selten an der Aufnahmefähigkeit eines breiten Publikums gelegen hat. Die vorliegende Auswahl von zwei Dutzend Artikeln, die von 1920 (Nr.16 über Georg Simmel, 209-48) bis 1931 (Nr.9, Aufruhr der Mittelschichten, 81-105) in der FZ (dem Vorgänger der FAZ) erschienen waren, besorgte der Meister (1889-1966) noch selbst und Suhrkamp nahm bei der Publikation zwei Anläufe - 1963 und 1977 (st 371). Letzterer erreichte 2021 die 14. Auflage, ersterer blieb vom Kollegen Adorno nicht unkommentiert - „wir sind seit meiner Jugend miteinander befreundet“, heißt es in einem Vortrag Adornos beim Hessischen Rundfunk vom 7.2.1964, der Kracauer als „wunderlichen Realist(en)“ und „participant observer“ (96) zu fassen versuchte (Noten zur Lit. III, 83-108), ihm auch ein „Nachdenken auf eigene Faust“ bescheinigte, in Verbindung mit einem „antisystematischen Zug seines Denkens“ zugunsten „eines verspielten Vergnügens am hübschen Einfall“ (85f), wenn nicht gar „Desinteresse an allem bloß Gelehrten (...), soupcon gegen Theorie“ sowie gegen den „schlechte(n) Bann, den Gedanken ausüben“ können. (91) Als man sich 1995 in Harvard entschloss, diese Kollektion durch Thomas Levin übersetzen, herausgeben und mit einer Einführung versehen zu lassen, holte die Reichweite gegenüber der Spannweite weiter auf, auch weil „der vom Inkommensurablen Besessene“ (Adorno, 93) inzwischen geradezu den Zeitgeist verkörperte, also v.a. seine „free-associational curiosity“, seine „idiosyncratic glosses (that) are supple, at times lyrical, meditations on cultural transition“, „musings of an inveterate flaneur, a rapt spectator and an inexorable detective.“ (harvard.edu) Im Nachwort der deutschen Wiederauflage 1977 schätzte Karsten Witte den Rang des Autors so ein: „Kracauers wichtigster Beitrag ist, dass sein Blick auf die Randzonen der Hochkultur fiel und sich den Medien der populären Kultur zuwandte: Kino, Straßen, Sport, Operette, Revue, Reklame und Zirkus. Die Klammer vom frühen zum späten Werk ist die Intention, aus ephemeren Kulturphänomenen gleichzeitige gesellschaftliche Tendenzen zu dechiffrieren.“ (336f) Ähnlich wie Wolfgang Koeppen oder Robert Spaemann gehörte Kracauer zur Gruppe der eingeschworenen Feinde von jeder Art primitiver Naturalismus, wie er auch heute wieder überall am Werk ist und den Kracauer insbesondere in den Erzeugnissen von Technik und Medien gesteigert und propagiert fand - das Schlüsselwort Ornament erweist sich dabei geradezu als Trägerreagenz solcher Art manipulativer Propaganda. Am Beispiel einer Photographie der Großmutter im Fotoalbum zeigt Kracauer die manipulative mediale Entleerung des eigentlich verehrungswürdigen individuellen Gegenstandes der Abbildung und registriert nur noch „den räumlichen Abklatsch der Personen“: Die Photographie „vernichtet ihn (den Dargestellten), indem sie ihn abbildet.“ „Nun geht das Bild wie die Schlossfrau durch die Gegenwart“ und „die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat“ (31f), reduziert auf „seine() Naturbeschaffenheit“, medial umgeben nur noch „von dem Scheinzusammenhang seiner Individualität.“ (26) Den Zeitgenossen Kracauers begegneten in den „photographische(n) Wochenration(en)“ der Illustrierten „eines der mächtigsten Streikmittel gegen die Erkenntnis“ (34), dass „unter der Photographie eines Menschen (...) seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben (ist)“. (26) Denn „die Züge der Menschen sind allein in ihrer ´Geschichte´ erhalten.“ (32) Die Mächte der Mechanisierung „deuten über Raum und Zeit nicht hinaus. Sie sind von Gnaden eines Intellekts, der die Gnade nicht kennt. (...) Dieser abgelöste Intellekt zeugt die Technik und erstrebt eine Rationalisierung des Lebens, die es der Technik zugeordnet sein lässt. Da er aber eine solche radikale Einebnung des Lebendigen nur unter Preisgabe der geistigen Bestimmung des Menschen erreichen kann, (...) um den Menschen so glatt und geleckt wie ein Auto zu machen, ist mit dem von ihm geprägten maschinell-figürlichen Getriebe ein wirklicher Sinn ohne weiteres nicht zu verbinden. Das Technische wird sich darum Selbstzweck, und eine Welt entsteht, die, vulgär gesprochen, nichts anderes begehrt als die größtmögliche Technisierung alles Geschehens.“ (45) Aber auch „das Ornament ist sich Selbstzweck“ (52) und es wurde in Kracauers Tagen mutmaßlich von „de(n) amerikanischen Zerstreuungsfabriken“ (50) propagiert. „Massenfreiübungen“ werden unterfüttert von „Kalkulabilität“ - „der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern und Maschinen bedienen. Das gegen Gestaltungsunterschiede indifferente System führt von sich aus zur Verwischung nationaler Eigenarten (...) an allen Punkten der Erde.“ (53)
Michael Karl

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